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Die ungarische Sinnforschung

4. Psychologische Sinnforschung

4.5 Die ungarische Sinnforschung

Die ungarische Sinnforschung konnte erst nach dem Fallen des kommunistischen Systems langsam aufblühen. Die Psychiaterin Mária Kopp und der Soziologe Árpád Skrabski forschten als Ehepaar zusammen an großen repräsentativen Stichproben in Themen der körperlichen und psychischen Gesundheit der ungarischen Gesellschaft, besonders bezüglich Depressivität (Kopp et al. 1995). Am Anfang des 21. Jahrhunderts legten sie auch die Grundlagen der ungarischen Sinnforschung, indem sie im Rahmen des Hungarostudy Epidemiologischen Panels (HEP) vier von insgesamt fünf Untersuchungen durchführten. Die von 1988 bis 2013 organisierten fünf repräsentativen epidemiologischen Erhebungen wurden insgesamt mit mehr als fünfzigtausend Teilnehmer:innen durchgeführt mit dem Ziel, den gesundheitlichen und psychischen Zustand der ungarischen Bevölkerung über 25 Jahre zu erforschen (Szabó et al., o. J.). Eine Kurzversion des PILs von Crumbaugh und Maholick (1964) mit 4 Items (Kopp & Skrabski, 1992) kam sowohl 1988 als auch 1995 zum Einsatz. Nur 2 Items vom ursprünglichen Test wurden 2002 noch verwendet. Die Reliabilität dieser Extrakurzversionen (Rózsa et al. 2003) war schwach (α =0,33). Im Rahmen des HEP 2002 wurde auch die Life Meaning Subskala von Rahe’s Brief Stress and Coping Inventory (BSCI-LM) (Rahe & Tolles, 2002) eingesetzt, um Zusammenhänge zwischen Sinn im Leben, Religion, Wohlbefinden und Mortalität festzustellen (Skrabski et al., 2005). Diese repräsentative Untersuchung in der ungarischen Population wurde mit 12.643 Personen durchgeführt. Die Lebenssinn-Werte korrelierten positiv mit Selbstwirksamkeit, problemorientierter Bewältigung und Religiosität und gingen mit einem hohen Maß an sozialer Unterstützung einher. Von Alter, Geschlecht und Bildung war der gemessene subjektive Sinn im Leben unabhängig. Ein paar Jahre früher als die bekannte und grundlegende Studie aus Japan bezüglich der Mortalität und

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des Lebenssinns erschien (Sone et al., 2008), konnten die ungarischen Forscher in dieser ungarischen Stichprobe aus 2002 schon von ähnlichen Ergebnissen berichten: Lebenssinn-Werte standen mit der Entwicklung der vorzeitigen Sterblichkeit in Ungarn im Zusammenhang (Skrabski et al., 2005). Eine weitere interessante Beziehung wurde von ihnen auch entdeckt, wonach die vorzeitige Sterblichkeit von Männern und männliche kardiovaskuläre Sterblichkeit in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen stärker mit den weiblichen Lebenssinn-Werten als mit den männlichen Lebenssinn-Werten zusammenhingen. Besonders in Hinsicht der kardiovaskulären Mortalität war dieser Zusammenhang auffällig, da die männlichen Herz-Kreislauf-Mortalitätswerte nicht mit den männlichen Lebenssinn-Werten korrelierten, aber signifikant (zwar mit minimaler Effektstärke) mit den weiblichen Lebenssinn-Werten zusammenhingen. Auch ihre früheren Ergebnisse (Kopp et al., 2004) zeigten schon in diese Richtung, dass die weiblichen Einstellungen stärker mit der männlichen Gesundheit zusammenhängen als umgekehrt: Die männliche Mortalität hing stärker mit dem subjektiven und objektiven sozioökonomischen Status der Frauen zusammen als die weibliche Mortalität mit dem männlichen sozioökonomischen Status.

Das gesamte Rahe’s Brief Stress and Coping Inventory wurde nach diesem Einsatz in der ungarischen Sprache validiert (Rózsa et al. 2005), aber da dieses Instrument 180 Items enthält und psychometrisch die Life Meaning Subskala mit ihren 8 Items in dieser Masse verloren geht, validierten später Kopp und Skrabski mit ihren Doktoranden, Tamás Martos und Barna Konkolÿ Thege speziell die BSCI-LM-Subskala mit ihren 8 Items getrennt (Konkolÿ et al., 2008a). In der ungarischen Sinnforschung spielten im Weiteren diese ehemaligen Doktoranden von Kopp eine entscheidende Rolle. An der repräsentativen Stichprobe des HEP konnte Konkolÿ mit seinen Kollegen und Kolleginnen (2008b) nachweisen, dass höhere Werte bei Sinn im Leben negativ mit schädlichen Verhaltensweisen, wie Rauchen korrelieren. Martos setzte die BSCI-LM-Subskala in der Validierung des Aspirations Index (Martos et al. 2006) ein und stellte fest, dass die intrinsischen Ziele signifikant mit den Lebenssinn-Werten korrelierten, während bei den extrinsischen Zielen ein solcher Zusammenhang nicht vorhanden war. Im Weiteren verwendeten Martos und Kopp (2014) an einer wesentlich größeren Stichprobe (N=4841) erneut die o.g. BSCI-LM-Subskala mit dem Aspirations Index und erforschten die Zusammenhänge zwischen Sinn im Leben, finanzieller Situation und intrinsischen und extrinsischen Lebenszielen. Bezüglich Lebenssinns waren extrinsische Lebensziele negative und intrinsische Lebensziele starke positive Prädiktoren. Der Zusammenhang zwischen Lebenszielen und Wohlbefinden-Werten bei ärmeren und reicheren Befragten war ähnlich, weil keine Moderationseffekte der finanziellen Situation in dieser Stichprobe gefunden wurden

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(Martos & Kopp, 2014). Martos und Konkolÿ Thege waren auch in der Übersetzung und Validierung weiterer grundlegender Testinstrumente für die Sinnforschung von Bedeutung. Sie adaptierten unter anderem den schon oft erwähnten gesamten (da früher nur einige Items aus dem Test verwendet wurden) Purpose in Life Test von Crumbaugh und Maholick (1964) in die ungarische Sprache (Konkolÿ Thege & Martos, 2006), eine ungarische Kurzversion (Konkolÿ Thege & Martos, 2008) der Existenzskala von Längle et al. (2003) und die überarbeitete Version (Konkolÿ Thege et al., 2010) des Logo-Tests (Lukas, 1986). Um nicht nur Präsenz von Lebenssinn, sondern auch die Sinnsuche empirisch mit einem sehr guten psychometrischen Instrument überprüfen zu können, übersetzten sie Stegers (Steger et al., 2006) MLQ in die ungarische Sprache (Martos & Konkolÿ Thege, 2012). Präsenz von Lebenssinn korrelierte positiv mit den Wohlbefinden-Skalen, mit intrinsischen Lebenszielen und korrelierte negativ mit emotionaler Labilität und mit der Häufigkeit negativer Emotionen. Die Suche nach dem Lebenssinn korrelierte positiv mit Extraversion, Gewissenhaftigkeit und Offenheit aber auch mit emotionaler Labilität. Diese Adaptation bestimmte im Weiteren die ungarische Sinnforschung, auch wenn der MLQ oft nur als Validierungsinstrument diente. So wurde der MLQ als bewährtes Instrument in der Validierung unterschiedlicher Skalen der positiven Psychologie und in vielen gesundheitspsychologischen Untersuchungen verwendet (Csuka &

Konkolÿ Thege, 2021) und erste Studien bezüglich Sinn im Leben wurden in der Religionspsychologie und in der Thanatopsychologie in ungarischen Stichproben durchgeführt.

In den ungarischen psychologischen Forschungen bezüglich Religion und Wohlbefinden spielten sowohl der o.g. PIL als auch der MLQ eine große Rolle. In einer Untersuchung über Religion, alltägliche Ziele und Wohlbefinden, diente die PIL-Skala als ein Aspekt des Wohlbefindens (Martos et al. 2013). In der oben schon erwähnten Abhandlung über die unterschiedlichen Dimensionen der Religion und Sinn im Leben (Punkt 4.4) kamen sowohl die schon erwähnten Existenz- und PIL-Skalen als auch der MLQ-Fragebogen zum Einsatz, aber die Autoren betonen, dass der MLQ das sauberste und expliziteste Instrument bezüglich des subjektiven Konstrukts Sinn im Leben war (Martos et al., 2010). Obwohl Religiosität und Sinn im Leben bisher oft als eindimensionales Konzept untersucht wurden, erzielte diese Studie einen multidimensionalen Ansatz sowohl bei Sinn im Leben als auch bei der Religiosität. Bei dem Aspekt Sinn im Leben wurde die Multidimensionalität mit den zwei Modulen des MLQs Präsenz von Lebenssinn und Suche nach Lebenssinn gewährleistet. Bezüglich Präsenz von Lebenssinn erwies es sich als wichtig zu differenzieren, ob die Menschen religiös sind und wie und woran genau sie glauben, und dies passierte mit der Post Critical Belief Skala (Hutsebaut, 1996). Religiöse Personen erzielten höhere Werte in Präsenz von Lebenssinn, wenn sie eine

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komplexe und reife Vorstellung von Religion hatten und mit aufgeschlossener Haltung zu den transzendenten Fragen im Leben standen (Martos et al., 2010).

Zudem wurden altbewährte Fragebögen der positiven Psychologie mithilfe der ungarischen Version des MLQs in der ungarischen Sprache validiert. Das grundlegende Instrument für die Messung des subjektiven Wohlbefindens, Satisfaction with Life Scale (SWLS) (Diener et al. 1985) wurde erfolgreich mithilfe des MLQs validiert (Martos et al.

2014c). Außerdem wurde der MLQ in der Validierung der Adult Hope Scale (AHS) (Snyder et al. 1991) verwendet und starke Korrelationen wurden zwischen Sinn im Leben und Hoffnungswerten gefunden (Martos et al. 2014b). In der Validierung des Gratitude Questionnaire (GQ-6) (McCullough et al. 2002) sagten Dankbarkeit-Werte die Zufriedenheit mit dem Leben unabhängig von den Werten bei Sinn im Leben vorher (Martos et al. 2014a).

Wie erwartet korrelierten die Lebenssinn-Orientierung-Subskala der Orientations to Happiness Skala (OTH) (Peterson et al. 2005) und die Werte bei Sinn im Leben des MLQs stark miteinander (Szondy & Martos, 2014). Vargha und Zábó (2019) erforschten weitere Zusammenhänge der positiven Psychologie mit dem validierten MLQ-Fragebogen in einer ungarischen Stichprobe. Starke positive Korrelation wurde zwischen Präsenz vom Lebenssinn und den Subskalen Resilienz und globales Wohlbefinden des Mentalen Wohlbefinden Tests gefunden. Aufgrund der Ergebnisse halten die Autor:innen die Dimension Präsenz von Lebenssinn für einen Indikator der psychischen Gesundheit. Trotz der Erwartungen wurden nur schwache Korrelationen zwischen dem Lebenssinn und den Bindungsmustern gefunden.

Bezüglich der Dimension Suche nach Lebenssinn wurden frühere Ergebnisse der internationalen Forschung bestätigt, dass die Suche nach Lebenssinn sowohl positive Aspekte wie Entwicklungschancen, als auch negative wie Grund für Angst, beinhalten kann (Vargha &

Zábó, 2019).

Mit eher entwicklungspsychologischen Forschungsschwerpunkten wurden Zusammenhänge bezüglich Sinn im Leben mit der Purpose and Connections Subskala aus dem BSCI-LM von Rahe und Tolles (2002) erforscht und die Untersuchungen in der ungarischen Minderheit in Rumänien mit fast 2000 Jugendlichen durchgeführt. In der Suche nach protektiven Faktoren in der psychischen Entwicklung der Jugendlichen war Sinn im Leben in mehreren Hinsichten positiv aufgefallen und korrelierte mit niedrigen psychosomatischen Syndromen, mit psychologischem Wohlbefinden und mit der Lebensqualität der Jugendlichen.

Während psychische Gesundheit stark mit Sinn im Leben korrelierte, spielte das Konstrukt in dieser Stichprobe im Risikoverhalten wie Rauchen oder exzessiver Alkoholkonsum keine signifikante Rolle (Brassai et al., 2011). Auch die Entwicklung des Gefühls Sinn im Leben im

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Alter wurde anhand dieser Stichprobe untersucht. Der Untersuchungsschwerpunkt basierte auf Frys Theorie (1998), dass der Sinn im Leben sowohl von psychologischen als auch von der sozialen Entwicklung der Jugendlichen abhängig ist. Psychologische Faktoren wie Selbstwirksamkeit und Selbstregulierung und elterliche Faktoren wie mütterliche Aufmerksamkeit gingen positiv mit Sinn im Leben einher, während z.B. eine väterliche Erwartungshaltung negativ mit Sinn im Leben bei den Jugendlichen korrelierte (Brassai et al., 2012).

Auch in den ungarischen gesundheitspsychologischen Arbeiten spielte der adaptierte MLQ-Fragebogen eine Rolle. Zum Thema Sinn im Leben, Sport und gesunde Ernährung bei Jugendlichen wurde eine Längsschnittstudie in der ungarischen Minderheit in Rumänien mit fast 500 Teilnehmer:innen durchgeführt (Brassai et al., 2015) und dort wurden robuste Zusammenhänge zwischen Sinn im Leben, Sinnsuche und der abhängigen Variablen (körperliche Aktivität und gesunde Ernährung) gefunden. Bei ungarischen Studenten wurden die Zusammenhänge zwischen Sinn im Leben und Risikoverhalten erforscht: In der Stichprobe der ungarischen Minderheit in Serbien und Rumänien erwies sich Präsenz von Lebenssinn als protektiver Faktor gegen Risikoverhalten und schädlichen Konsum psychotroper Substanzen wie Binge-Alkoholkonsum, Rauchen oder Drogenkonsum (Kovács, 2018).

Zum Schluss kann noch im Einklang mit der internationalen Tendenz eine Studie in der Thanatopsychologie erwähnt werden. Szimon (2020) untersuchte an einer ungarischen Stichprobe mit dem MLQ und mit der Multidimensional Fear of Death Scale (Neimeyer &

Moore, 1994) die Zusammenhänge zwischen Angst vor dem Tod und Sinn im Leben und fand schwache Zusammenhänge zwischen den höheren Werten bei Sinn im Leben und den niedrigeren Werten bei der Angst vor dem Tod heraus. Höhere Werte bei der Angst vor dem Tod korrelierten schwach mit stärkeren Tendenzen bei der Sinnsuche.

Nach dieser Zusammenfassung kann festgestellt werden, dass die vorliegende Arbeit gut in die oben beschriebene Validierungstradition der ungarischen Sinnforschung passt. Der oft erwähnte MLQ kommt auch in dieser Studie als Validierungsinstrument zum Einsatz.

Zudem war Religiosität von Anfang an und auch später öfter Teil der ungarischen Lebenssinn-Erhebungen. Somit kann sowohl eine Beziehung zu der ungarischen Sinnforschungstradition angemerkt werden als auch eine mögliche Bereicherung dieses Forschungsgebiets durch diese Studie mit einem neuen validen Messinstrument erzielt werden.

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