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Phase 4: Der Partner ist jetzt Patient

3 Die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei dem idiopathischen Parkinson-Syndrom (Mareike Felicitas Bergmann) Parkinson-Syndrom (Mareike Felicitas Bergmann)

3.2 Versuch einer Begriffsbestimmung (Mareike Felicitas Bergmann)

3.2.2 Die rehabilitationspädagogische Sicht (Mareike Felicitas Bergmann)

Mit der Entwicklung des Begriffs der gesundheitsbezogenen Lebensqualität entstand ein fachlicher Diskurs zwischen medizinischen, psychologischen, pädagogischen und weiteren Fachrichtungen (Raphael, 1996), deren gemeinsamer Forschungsgegenstand unter anderem die Rehabilitation chronisch Kranker ist (Day & Jankey, 1996). Den Untersuchungen innerhalb der einzelnen Fachrichtungen liegen jeweils eigene Erkenntnisinteressen und damit Forschungsmethoden sowie Menschenbilder zugrunde. Da es sich bei der vorliegenden Studie um ein interdisziplinäres Projekt zwischen Rehabilitationspädagogik und Medizin handelt, erscheint eine kritische Betrachtung aus Sicht beider Fachdisziplinen notwendig.

Die historische Perspektive: Unterschiedliche Erkenntnisinteressen erfordern unterschiedliche Forschungsmethoden

Historisch betrachtet liegt der Schwerpunkt der Medizin in der Heilung von Erkrankungen und in der Sicherung des Überlebens. Viele medizinische Interventionen verursachen jedoch unangenehme Nebenwirkungen, die die gesundheitsbezogene Lebensqualität maßgeblich beeinträchtigen können. Es gilt daher der Grundsatz, dass der Nutzen einer Intervention größer sein sollte als das Leid, das hierdurch möglicherweise verursacht wird (Greer, 1984).

Die Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität in der Medizin dient daher originär der Begründung oder Zurückweisung bestimmter Interventionen. Zudem spielt sie eine Rolle bei der Zuteilung finanzieller Ressourcen, die sich nach der Effektivität der Maßnahme richtet (Goodinson & Singeton, 1989). Die ersten Erhebungsinstrumente zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, die in der Medizin entwickelt wurden, waren daher studienspezifische, nichtstandardisierte Skalen, die den Fokus auf einen bestimmten Bereich

wie Schmerzen und Symptomschwere legten, in dem Effekte von Interventionen nachgewiesen werden sollten (Peto, Jenkinson & Fitzpatrick, 2001, vgl. auch Kap. I 3.1). An einer theoretischen Fundierung fehlte es dabei zumeist (Day & Jankey, 1996; Rosenberg, 1995). Kritisiert wird der durchweg negative Fokus, der positive Krankheitsaspekte unbeachtet lässt (O’Boyle, 2001). Weiter waren zu Beginn der medizinischen Lebensqualitätsforschung psychologische Faktoren deutlich unterrepräsentiert, vermutlich, weil sie vielen Klinikern als zu „weich“ erschienen und damit nicht zu den „harten Fakten“

passten (Hollandsworth, 1988). So ist auch zu erklären, warum der Begriff

„Gesundheitsbezogene Lebensqualität“ bis heute synonym mit benachbarten Konzepten wie dem Gesundheitsstatus verwendet wird (vgl. Kap. I 3.2.1), welcher ebenfalls keine psychischen Prozesse berücksichtigt.

Im Gegensatz zur Medizin fokussiert die Rehabilitationspädagogik stärker auf das Individuum (Day & Jankey, 1996) und ist weniger an Kosten-Nutzen-Rechnungen, sondern vielmehr an individuellen Werten, Normen und Einstellungen interessiert (Rosenberg, 1995).

Die Rehabilitationspädagogik als Geisteswissenschaft bedient sich daher vorrangig qualitativer Methoden (Bortz & Döring, 2006). Qualitative Ansätze sind nicht auf den Ausdruck von Wirklichkeit in Zahlen und wissenschaftliche Gütekriterien wie Validität und Reliabilität angewiesen. Sie bilden als sog. „dichte Fallbeschreibungen“ individuelle Lebensumstände ab (Raphael, 1996) und bieten damit den Vorteil, alle für eine Person relevanten Aspekte ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität erfassen und verstehen zu können. Sie verwenden mehr offene Fragen und liefern reichhaltiges Datenmaterial, stellen damit aber eine größere, vor allem zeitliche Belastung für die Patienten dar, als quantitative Ansätze (King, 2001).

Beide Disziplinen greifen also vorwiegend auf Forschungsmethoden zurück, die ihren jeweiligen Erkenntnisinteressen entsprechen. Folglich wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität im medizinischen Kontext fast ausschließlich quantitativ untersucht. Ein Vorteil dieser Untersuchungsmethode ist, dass in relativ kurzer Zeit eine große Menge an zuverlässigen Daten über bestimmte Populationen gewonnen werden kann. Qualitative Methoden sind zwar mittlerweile in der Medizin als notwendig und sinnvoll anerkannt (Donner-Banzhoff & Bösner, 2013), ihr Einsatz ist jedoch verschwindend gering12, da sie sich nicht zur Untersuchung großer Populationen eignen. Hieraus ergeben sich methodologische Probleme für die Erfassung des Konzeptes „gesundheitsbezogene Lebensqualität“:

Ursprünglich war es der Grundgedanke des Konstrukts „Lebensqualität“, eine ganzheitliche Sicht auf Individuen zu ermöglichen (Rosenberg, 1995), was eine qualitative Evaluation nahe legt (Farquhar, 1995). Kritiker bezweifeln, dass ein originär qualitatives Konzept quantitativ

12 Die MeSH-basierte PubMed-Suche nach „Quality of Life“ reduziert die Anzahl der gefundenen Studien bei Einschränkung auf qualitative Methoden auf unter 1% (Stand: 27.04.2013).

erfasst werden kann (Movsas et al., 2003) und bemängeln, dass gängige Instrumente ein komplexes und subjektives Phänomen zu stark vereinfachen (O‘Boyle, 2001). Die grundsätzliche Kritik an der Wahl der Forschungsrichtung wird durch die Annahme untermauert, dass für jeden Menschen unterschiedliche Aspekte der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wichtig sind und dass diese wiederum mit verschiedenen Wertigkeiten belegt sind (Dijkers, 2007; Renwick & Friefeld, 1996).

Die hier genannten Probleme zeigen die Grenzen der in der Medizin gängigen quantitativen Methoden auf und legen einen integrierten Forschungsansatz nahe, in dem qualitative Methoden stärkere Beachtung finden. Hammersley (1996) benennt drei Formen der Verknüpfung qualitativer und quantitativer Forschung: Die Triangulation dient der wechselseitigen Überprüfung beider Ansätze, die Facilitation bezeichnet die unterstützende Funktion des jeweils anderen Ansatzes und schließlich können beide Ansätze sich als komplementäre Forschungsstrategien ergänzen. Da eine randomisierte, kontrollierte Studie wie die vorliegende auf quantitative Methoden angewiesen ist, erscheint aus rehabilitationspädagogischer Sicht die Forderung nach einer qualitativen Basis (Day &

Jankey, 1996) angebracht. Bereits 1979 schlugen Barton und Lazarsfeld vor, qualitative Forschung für die Entwicklung von Hypothesen zu nutzen und diese dann mit quantitativen Methoden zu überprüfen. Damit steht ein quantitativer Fragebogen, der auf Basis von Interviews entwickelt wurde, in Sinne der Facilitation und wie von Farquhar (1995) gefordert, auf einem qualitativen Fundament.

Es existieren zudem verschiedene Ansätze, die versuchen, individuelle Erkenntnisse generalisierbar zu machen und so den Forschungsinteressen beider Disziplinen entgegenzukommen.

Ein Beispiel hierfür ist das „Goodness-of-fit Modell“ von Murrell und Norris (1983), das die

„Passung“ einer Person und ihrer Umwelt als Maßstab für die Lebensqualität definiert.

Demnach ist die Lebensqualität einer Person hoch, wenn die von ihr benannten Bedürfnisse von der Umwelt gut befriedigt werden. Ein so errechneter Indexwert könnte nach Ansicht der Autoren auch zur Evaluation von verschiedenen Maßnahmen herangezogen werden. Ein weiteres Beispiel stellt der sog. „Schedule for Evaluation of Individual Quality of Life“

(SEIQoL, McGee et al., 1991) dar. Dieser Fragebogen wird in drei Schritten bearbeitet:

Zunächst werden subjektiv wichtige Bereiche der Lebensqualität ausgewählt, dann das jeweilige Funktionsniveau angegeben und abschließend die relative Wichtigkeit des Bereichs bewertet (Lee et al., 2006). Beiden Ansätzen liegt ein idiographisches Verfahren zugrunde (Joyce et al., 2002), das auf die individuelle Beschreibung von Einzelfällen fokussiert und der geisteswissenschaftlichen Sichtweise zugeordnet wird. Dieses wird gleichwertig ergänzt durch ein nomothetisches Vorgehen, das einer naturwissenschaftlichen Perspektive entspricht und auf die Generalisierung von Beobachtungen abzielt (Bortz & Döring, 2006).

Die Menschenbilder in der Rehabilitationspädagogik und in der Medizin

Es liegt nahe, dass beiden Disziplinen unterschiedliche Menschenbilder zugrunde liegen. Die Medizin fokussierte originär auf „Abweichungen“, „Auffälligkeiten“ und „Defekte“ in Bezug auf die Gesundheit, die es zu beheben bzw. mildern gilt (Kühl, 1997). Bis heute hat die Medizin sich eine krankheitsfokussierende und defizitorientierte Sichtweise beibehalten (Faltermaier, 2005). Das lange Zeit gebräuchliche biomedizinische Modell der Krankheitsentstehung spricht dem Kranken eine passive Rolle zu (Schleider & Huse, 2011) und berücksichtigt seine individuelle Perspektive zu wenig (Renwick & Friefeld, 1996). Zudem wird Behinderung bis heute oftmals als etwas betrachtet, das ausschließlich eine Person selbst betrifft, ohne gesellschaftliche Bedingungen zu berücksichtigen, die diese erst deutlich werden lassen (Kühl, 1997, vgl. auch SGB IX § 2). Die Rehabilitationspädagogik hingegen betont seit jeher die aktive und eigenverantwortliche Rolle des Patienten (Domsch & Lohaus, 2009) und bezieht seine Ressourcen ebenso mit in den Rehabilitationsprozess ein wie seine Umwelt und die Wechselwirkungen mit dieser (Schulze, 2010). Die sehr konträren Ausgangspositionen von Medizin und Rehabilitationspädagogik haben sich im Laufe der Jahrzehnte einander angenähert. Dies ist vorrangig auf die Etablierung des biopsychosozialen Modells zurückzuführen, das den Erkrankten als aktiv Beteiligten im Umgang mit Krankheit und in der Wiederherstellung von Gesundheit sieht (Martínez-Martín

& Kurtis, 2012; Schleider & Huse, 2011). Es scheint daher heutzutage nicht gerechtfertigt, die Medizin als defektologische Wissenschaft dem rehabilitationspädagogischen Verständnis entgegenzustellen (Baumann, 2007). Vielmehr findet das medizinische Anliegen, chronische Erkrankungen zu lindern, eine logische Ergänzung in rehabilitationspädagogischen Interventionen, die die aktive Bewältigung der Beeinträchtigungen unter Aktivierung persönlicher und Umweltressourcen fördern. Dies ist auch in der Gesetzesgrundlage SGB IX, § 4, „Leistungen zur Teilhabe“ verankert. Demnach stehen Menschen mit einer Behinderung alle notwendigen Sozialleistungen zu, um Behinderungen und Einschränkungen zu verhindern oder zu mildern, aber auch Leistungen zur Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben und zur ganzheitlichen Förderung der persönlichen Entwicklung.

Der Medizin wie der Rehabilitationspädagogik liegt damit heute eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen zugrunde, deren jeweilige Foki sich im Idealfall optimal ergänzen (Rosenberg, 1995; vgl. Abb. 5).

Abbildung 5: Die sich ergänzenden Sichtweisen von Medizin und Pädagogik in Bezug auf Rehabilitation und gesundheitsbezogene Lebensqualität

Das Erkenntnisinteresse und die damit verbundenen Forschungsmethoden sowie das Menschenbild in der Medizin und in der Rehabilitationspädagogik unterscheiden sich in ihren Ursprüngen deutlich, haben sich jedoch im Laufe der Zeit einander angenähert und konnten so voneinander profitieren. Trotzdem erscheint eine kritische Prüfung von Messinstrumenten medizinischen Ursprungs vor ihrem Einsatz in der Rehabilitationspädagogik sinnvoll. Diese sollte in Bezug auf 1. die Methodik und 2. den Fokus erfolgen. Zu 1.: Aus rehabilitationspädagogischer Sicht ist die qualitative Untersuchung der Gesundheitsbezogenen Lebensqualität zu bevorzugen. Da sich diese aus pragmatischen Gründen nicht durchgesetzt hat, sollten quantitative Untersuchungen idealerweise erfolgen, wenn ihr Konzept auf qualitativer Basis entwickelt wurde, d. h. eine qualitative Untersuchung zur Hypothesengenerierung die Grundlage bildet. 2. Medizinische Messinstrumente berücksichtigen zwar mittlerweile auch internale Faktoren, legen aber nach wie vor den Fokus auf funktionale Aspekte und erfragen Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen. Um psychische Faktoren und Ressourcen angemessen zu berücksichtigen und zudem das Menschenbild des aktiv beteiligten Patienten zu integrieren, erscheint es aus rehabilitationspädagogischer Sicht sinnvoll, die medizinischen Messinstrumente entsprechend zu ergänzen.

3.2.3 Die Spezifität der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei der