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Die reformierte GASP nach dem Vertrag von Amsterdam

Wenn unterschiedliche außenpolitische und diplomatische Orientierungen ־ exemplarisch verdeutlicht an Großbritannien und Deutschland ־ es bisher der EU erschwert, wenn nicht gar unmöglich haben, als ein potenter Akteur bei der Regelung von Konflikten, insbesondere in unmittelbarer Nähe der Union, aufzutreten, so ist zu fragen: Kann sich das ändern? Dazu ist die revidierte Fassung des Maastricht- Vertrags zu analysieren, so wie sie auf dem bereits erwähnten Europäischen Rat von Amsterdam verabschiedet worden ist. In diesem Zusammenhang stellen sich zwei entscheidende Fragen: Bestehen erstens begründete Aussichten dafür, daß die EU mehr Handlungskompetenz im Rahmen der GASP gewinnt? Und zeichnet sich zweitens ab, daß eine optimierte GASP auf dem Wege des Institutionalismus die gesamteuropäische Ordnung stabilisieren kann?

Bei der reformierten GASP sind vor allem vier Neuerungen und Modifikationen von besonderer Bedeutung: Erstens die Personifizierung der GASP durch Ernennung eines Hohen Vertreters; zweitens die Schaffung einer Strategieplanungs- und Früh- wameinheit der GASP, um umfassender und frühzeitiger zu gemeinsamen Lageein- Schätzungen und Strategieentwürfen zu gelangen; drittens die Ausweitung der (qualifizierten) Mehrheitsabstimmungen durch die Einführung von "gemeinsamen Strategien", womit der in Maastricht gefundene Ansatz der "gemeinsamen Aktion"

vertieft und ausgeweitet wurde; und viertens die Integration von friedenserhaltenden und -sichernden Maßnahmen in den EU-Vertrag sowie die Zuweisung einer Leitlini- enkompetenz für die Westeuropäische Union (WEU) an den EU-Ministerrat, womit allerdings keine Integration der WEU in die EU verbunden ist.

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14 Vgl. Heinz-Jürgen Axt, "Auf dem Weg zur kollektiven Sicherheit? Die KSZE nach Erweiterung und Institutionalisierung", in Europäische Rundschau. 21 (1993) 1, S. 83-99.

15 Vgl. Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 746 ff.

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Die Personifizierung der GASP erfolgt (nach Art. J.8 EUV neu)16 dadurch, daß der Generalsekretär des Rates in der Rolle eines "Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" künftig den Vorsitz unterstützt. Insbesondere geht es um die "Formulierung, Vorbereitung und Durchführung politischer Entscheidungen"

und darum, daß der Hohe Vertreter "auf Ersuchen des Vorsitzes im Namen des Rates einen politischen Dialog mit Dritten führt" (Art. J. 16 EUV neu). Damit wird gegen- über dem Vorsitz, der alle sechs Monate unter den Mitgliedsstaaten rotiert (Art. 146 EGV), ein Element der Kontinuität in der GASP verankert, womit man in Amster- dam einem vornehmlich von Frankreich gehegten Verlangen entgegengekommen ist.

Der Hohe Vertreter wird in seiner Arbeit vom stellvertretenden Generalsekretär des Rates unterstützt, der für die organisatorische Leitung des Generalsekretariats ver- antwortlich ist.

Die zweite Neuerung betrifft die Schaffung einer Strategieplanungs- und Frühwameinheit, die im Generalsekretariat des Rates unter der Verantwortung des Generalsekretärs/Hoher Vertreter geschaffen wird. Damit die Kohärenz mit der Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik gewährleistet ist, wird eine angemessene Zusammenarbeit m it der Kommission eingeführt. Wie in der Erklärung für die Schlußakte festgehalten ist, gehört zu den Aufgaben der Einheit:

a) "Überwachung und Analyse der Entwicklungen in den unter die GASP fallenden Bereichen;

b) Beurteilung der außen- und sicherheitspolitischen Interessen der Union und Ermittlung von möglichen künftigen Schwerpunktbereichen der GASP;

c) rechtzeitige Bewertung von Ereignissen oder Situationen, die bedeutende Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik der Union haben können, einschließlich potentieller politischer Krisen, und frühzeitige Warnung vor solchen Ereignissen oder Situationen;

d) Ausarbeitung - auf Anforderung des Rates oder des Vorsitzes oder von sich aus - von ausführlich begründeten Dokumenten über politische Optionen, die unter der Verantwortung des Vorsitzes als Beitrag zur Formulierung der Politik im Rat zu unterbreiten sind und die Analysen, Empfehlungen und Strategien für die GASP enthalten können."

Die personelle Stärke der Einheit wird nicht näher bestimmt; es wird lediglich festgehalten, daß sich das Personal aus dem Generalsekretariat, den Mitgliedsstaaten, der Kommission und der WEU rekrutiert. Vorschläge für Arbeiten der Einheit können von den Mitgliedsstaaten oder der Kommission kommen. Von diesen werden der Einheit einschlägige Informationen, auch vertraulicher Art, gegeben.

Im Bereich der Abstimmungsverfahren ist folgendes beschlossen worden: So wie bisher legt der Europäische Rat die Grundlinien und allgemeinen Leitlinien der GASP fest, und werden Beschlüsse grundsätzlich einstimmig gefaßt (A rt. J.3 und 16 Wenn es um den Vertrag von Amsterdam geht, bezieht sich der Verfasser auf den "Entwurf

des Vertrags von Amsterdam", wie er von der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten mit Datum vom 19.6.1997 in Brüssel (CONF/4001/97 Limité) vorgelegt worden ist. Die neuen oder geänderten Artikel werden im Text mit "neu" gekennzeichnet.

J.13 EUV neu). Neu ist die Einführung einer Enthaltung: "Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem Zustandekommen dieser Be- schlüsse nicht entgegen" (Art. J.13 EUV neu). Danach können auch dann Beschlüsse gefaßt werden, wenn sich einzelne Staaten enthalten.17 Der sich enthaltende Staat ist zwar nicht verpflichtet, den Beschluß durchzuführen, er hat jedoch zu akzeptieren, daß "der Beschluß für die Union bindend ist". Im "Geiste gegenseitiger Solidarität"

sollen die Staaten alles unterlassen, was das gemeinsame Vorgehen der Union be- einträchtigen könnte. Die Zahl der zulässigen positiven Enthaltungen ist allerdings begrenzt: Verfügen die sich im Rat enthaltenden Mitglieder über mehr als ein Drittel der qualifizierten Mehrheit, so wird der Beschluß nicht angenommen.

Eine weitere Neuerung betrifft die "gemeinsamen Strategien" in den Bereichen, "in denen wichtige gemeinsame Interessen der Mitgliedsstaaten" (wohlgemerkt nicht der Union!) bestehen (Art. J.3 EUV neu). Die gemeinsamen Strategien führen zu einer Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsabstimmung. War es bislang so, daß vom Grundsatz der Einstimmigkeit nur dann abgewichen werden konnte, wenn es um die Durchführung einer gemeinsamen Aktion ging - die Aktion also solche mußte ein- stimmig beschlossen werden (s.o.) -, so kann nunmehr auch die Annahme einer ge- meinsamen Aktion und die Festlegung eines gemeinsamen Standpunkts mit qualifi- zierter Mehrheit beschlossen werden. Bindende Voraussetzung ist freilich, daß zuvor (einstimmig) eine gemeinsame Strategie vom Europäischen Rat (!) beschlossen wor- den ist. Bei der Durchführung einer gemeinsamen Aktion oder eines gemeinsamen Standpunktes kommt so wie bisher die qualifizierte Mehrheit bei Abstimmungen zur Anwendung.

Die Möglichkeit zur Anwendung der Mehrheitsabstimmung wird allerdings ausgesetzt, wenn ein Mitgliedsstaat ein "nationales Interesse" geltend macht: "Erklärt ein M itglied des Rates, daß es aus wichtigen Gründen der nationalen Politik, die es auch nennen muß, die Annahme eines mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschlusses (gemeinsame Aktion oder gemeinsamer Standpunkt, d. V.) abzulehnen beabsichtigt, so erfolgt keine Abstimmung" (Art. J.13 EUV neu).18 Der Rat kann allerdings mit qualifizierter Mehrheit verlangen, daß sich der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, mit der Frage beschäftigen. Diese müssen allerdings einstimmig entscheiden, was bedeutet, daß kein Beschluß gefaßt werden kann, wenn der das nationale Interesse reklamierende Staat bei seiner im Rat eingenommenen negativen Haltung bleibt.

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17 Damit wurde die in der EG (nach Art. 148,3 EGV) vereinbarte Praxis auf die GASP übertragen.

18 In die GASP ist damit der "Geist" des Luxemburger Kompromisses vom 28.1.1966 aufgenommen worden, in dem Frankreich bei nationalen Interessen die Anwendung der Einstimmigkeit auch bei Entscheidungen reklamierte, die nach Vertragstext mit Mehrheit zu entscheiden waren. Die übrigen (damals fünf) EWG-Staaten haben sich übrigens dieser Auffassung nicht angeschlossen. Vgl. Bengt Beutler u.a., Die Europäische Union.

Rechtsordnung und Politik, Baden-Baden 1993, S. 135 ff.

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Kommt es zur Anwendung der qualifizierten Mehrheitsabstimmung im Rat, dann werden die Stimmen der Ratsmitglieder, so wie es Art. 148 Absatz 2 EGV vorsieht, in Anlehnung an die jeweilige Bevölkerungszahl der Mitgliedsstaaten gewichtet.

Beschlüsse kommen zustande, wenn von insgesamt 87 Stimmen mindestens 62 Stimmen Zusammenkommen, die die Zustimmung von mindestens 10 Mitgliedsstaa- ten umfassen müssen.19 Bei den Abstimmungsverfahren ist schließlich noch darauf zu verweisen, daß bei Verfahrensfragen der Rat mit (einfacher) Mehrheit seiner M it- glieder beschließt, und daß Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspoliti- sehen Bezügen ausdrücklich von der Möglichkeit zur Anwendung der Mehrheitsab- Stimmung ausgenommen sind.20

Wie erwähnt betrifft die vierte Innovation des Amsterdam-Vertrags die Ausdeh- nung sicherheits- und - unter bestimmten Voraussetzungen ־ auch verteidigungspoli- tischer Aufgaben. So soll zur GASP auch die "schrittweise Festlegung einer gemein- samen Verteidigungspolitik" gehören - unter der Voraussetzung allerdings, daß der Europäische Rat dies beschließt (Art. J.7 EUV neu). In die verteidigungspolitische Kompetenz der GASP gehören "humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, frie- denserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung ein- schließlich friedensschaffender Maßnahmen".21 Diese auch Petersberg-Missionen genannten Aufgaben sollen unter Nutzung der "operativen Kapazität" der WEU durchgeführt werden. Nimmt die Union die WEU derart in Anspruch, dann können sich alle Mitgliedsstaaten der Union in vollem Umfang an den betreffenden Aufga- ben beteiligen. M it dem Vertrag von Amsterdam wurde keine Integration der WEU in die EU erreicht, so wie dies von diversen Seiten in der Regierungskonferenz 1996/97 vorgeschlagen wurde.22 Allerdings umfaßt die bereits erwähnte Leitlinien- kompetenz des Europäischen Rates auch Fragen mit verteidigungspolitischen Bezü- gen (Art. J.3,1 und J.7, 3 EUV neu). Dies g ilt als erster Schritt auf dem langen Weg zur Integration der WEU in die EU.23 In einem gesonderten Protokoll (zum Art. 7

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19 Art. 148,2 EGV gewichtet die Stimmen im Rat wie folgt: Belgien 5, Dänemark 3, Deutschland 10, Griechenland 5, Spanien 8, Frankreich 10, Irland 3, Italien 10, Luxemburg 2, Niederlande 5, Österreich 4, Portugal 5, Finnland 3, Schweden 4 und Vereinigtes Königreich 10 Stimmen. Die Sperrminorität beträgt nach einem Beschluß des informellen Rats von Ioannina vom 29.3.1994 27 Stimmen.

20 Dies gilt nicht für die Möglichkeit zur Anwendung des geschilderten Verfahrens der Enthaltung.

21 Zur Finanzierung insbesondere der operativen GASP-Aufgaben wurden in einer interinstitutionellen Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Europäischen Kommission Vorschriften betreffend den EU-Haushalt festgelegt.

22 Bekanntlich gehören Dänemark, Österreich, Finnland, Schweden und Irland der WEU nicht an, weshalb auch im Amsterdam-Vertrag wieder, so wie bereits in Art. J.4, 4 des Maastricht-Vertrags, betont wird, daß man den "besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedsstaaaten nicht berührt" (Art. J.7, 1 EUV neu).

23 "Die Union pflegt daher engere institutionelle Beziehungen zur WEU im Hinblick auf die Möglichkeit einer Integration der WEU in die Union für den Fall, daß der Europäische Rat dies beschließt" (Art. J.7, 1 EUV neu).

EUV neu) wird festgelegt, daß innerhalb eines Jahres zusammen mit der WEU Re- gelungen für eine verstärkte Zusammenarbeit erarbeitet werden.