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Deutschland: Renationalisierung oder legitime Bestimmung nationaler Interessen?

Der Nationalsozialismus in Deutschland hat die Verfolgung (vermeintlich) nationaler Interessen durch eine aggressive Politik pervertiert, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg geführt hat. Maßgeblich bedingt durch diese schwere historische Hypo- thek hatte die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 besondere Probleme, natio- naie Interessen im politischen Diskurs zu debattieren und zu definieren. Natürlich hat die Bundesrepublik in der Vergangenheit ־ so wie andere Staaten auch - eigene In- teressen verfolgt. Nur - und das macht den Unterschied zu anderen Staaten aus - hat man sich in der Bundesrepublik mit einer öffentlichen Debatte über die zu verfol- genden nationalen Interessen schwerer getan. Was in den USA eine Selbstverständ- lichkeit ist, daß nämlich der Präsident einen Sachverständigenrat zur Definition ame- rikanischer Interessen in der Welt zusammenruft9, stößt auch heute noch in der Bun­

7 Zit. in Lothar Rühl, Deutschland als europäische Macht. Nationale Interessen und internationale Verantwortung, Bonn 1996, S. 48.

8 Vgl. dazu auch Henry Kissinger, Diplomacy, New York 1994 (deutsche Ausgabe: Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994).

9 Der Council on Foreign Relations hat in den Jahren 1993 und 1994 einen Rat von Sachver- ständigen bestellt, der die Aufgabe hatte, vitale amerikanische Interessen nach dem Ende des Kalten Krieges zu identifizieren. Nach mehreren Konferenzen hat der Rat eine Liste von zwölf vitalen US-Interessen zusammengestellt: darunter der Schutz der territorialen Fortsetzung der Fußnote siehe nächste Seite

desrepublik auf größere Vorbehalte. Es lassen sich zwei Besonderheiten erkennen, die die Außenpolitik der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit nachhaltig bestimmt haben:

Erstens war die Annahme weit verbreitet, daß das westliche Deutschland mit Aus- nähme der Wiedervereinigung kaum spezifische nationale Interessen habe, und daß deutsche und europäische Interessen weitgehend kongruent seien. Deshalb konnte die aktive deutsche Unterstützung des westeuropäischen Integrationsprozesses als die optimale Form der Vertretung deutscher Belange erscheinen.

Spätestens mit der Beendigung des Kalten Kriegs ist diese Annahme brüchig geworden, und wird der diesbezügliche Konsens herausgefordert. Dabei lassen sich zumindest zwei Tendenzen ausmachen:

Eine erste Richtung w ill die gesamte Westbindung der wiedervereinigten Bundesrepublik in Frage stellen und plädiert für einen deutschen Neo- Nationalismus.10

Eine zweite Richtung stellt zwar nicht die Westbindung der Bundesrepublik zur Disposition, fordert aber zur Debatte darüber auf, wo aktuell über die Grundüber- Zeugungen und ־werte, mit denen man sich mit den westlichen Partnern weiterhin im Konsens sieht, spezifisch deutsche Interessen auszumachen sind.11 Das Ende des

Integrität, die Verhinderung der Entstehung einer feindlichen Supermacht, die Kontrolle und Reduzierung von Massenvemichtungswaffen, die Unterstützung der ökonomischen Entwicklung und politischen Integrität Mexikos und Kanadas, die Erhaltung eines stabilen Weltwährungssystems, die Sicherung der Energieversorgung. Interessant ist, welche Belan- ge von den Sachverständigen nach ausführlicher Debatte bewußt nicht in die Liste der vi- talen Interessen aufgenommen worden sind: die globale Partnerschaft mit Westeuropa und Japan, die Sicherheitsgarantie für Israel, Verteidigung der Menschenrechte in Rußland und China, die Intensivierung der Beziehungen mit Afrika und Südamerika u.a. Vgl. das von Robert D. Blackwill (Adjunt Senior Fellow, Council on Foreign Relations and John F.

Kennedy School o f Government, Harvard University) verfaßte Memorandum: Vital US National Interests, Cambridge, 8.1.1996 (hektographierte Vorlage). Symptomatisch für die Situation in den USA ist die Tatsache, daß eine der führenden außenpolitischen Zeitschrif- ten den programmatischen Titel "The National Interest" führt. Daraus hat die Zeitschrift Europäische Rundschau (24 (1996) 3, S. 3-36) jüngst zwei einschlägige Aufsätze von Ja- mes Kurth und Robert W. Tucker in deutscher Übersetzung vorgelegt.

10 Vgl. z.B. Rainer Zitelmann / Karlheinz Weißmann / Michael Großheim (Hrsg.), Westbindung. Chancen und Risiken fü r Deutschland, Frankfurt/M.-Berlin 1993. Zur Kritik vgl. Heinrich August Winkler, "Westbindung oder was sonst? Bemerkungen zu einem Revisionsversuch", in Politische Vierteljahresschrift, 35 (März 1994) 1, S. 113-117.

11 Vgl. mit durchaus konträren Ansätzen u.a.: Hans-Peter Schwarz, "Deutsche Außenpolitik nach der Vereinigung", in: Peter Haungs u.a. (Hrsg.), Civitas. Widmungen fü r Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, Paderborn u.a. 1992, S. 483-506; Ders., Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr a u f die Weltbühne, Berlin 1994; Karl Kaiser / Joachim Krause (Hrsg.), Deutschlands neue Außenpolitik Bd 3: Interessen und Strategien, München 1996; Christian Hacke, "Die neue Bedeutung des nationalen Interesses für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland", in Aus Politik und Zeitgeschichte, В 1-2, Fortsetzung der Fußnote siehe nächste Seite

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Kalten Krieges und die deutsche Vereinigung fordern zur Standortbestimmung her- aus. Interessant ist die Reaktion im Ausland. Natürlich fehlt es nicht an Stimmen, die ein "Großmachtstreben Deutschlands" oder die "M ilitarisierung deutscher Außenpo- litik " ausmachen.12 Bedeutsamer dürfte indessen die Tatsache sein, daß die deutsche Standortsuche von den Partnern im Ausland durchaus mit Verständnis aufgenommen wird. Der Grund dürfte darin liegen, daß ein sich seiner Interessen bewußtes Deutschland für seine Umwelt berechenbarer ist, als ein Deutschland, das den öf- fentlichen Diskurs über derartige Themen meidet.

A u f diese Debatte kann hier allerdings nicht ausführlicher eingegangen werden.

Eine zweite Besonderheit bundesdeutscher Außenpolitik lag nach 1945 darin, daß man zu den "klassischen" Instrumenten der Diplomatie auf Distanz ging. Das betrifft zum einen die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber dem M ilitär. Es ist wenig verwunderlich, daß in der Bundesrepublik pazifistische Strömungen besonders starken Widerhall gefunden haben. Und zum anderen betrifft das eine Präferenz bundesdeutscher Außenpolitik für idealistische und institutionalistische Strategien.

"Idealistisch" meint in diesem Zusammenhang das politikwissenschaftlich- diplomatietheoretische Gegenstück zum Realismus und äußert sich in einer ausge- prägten Präferenz für die Überwindung nationaler Interessenpolitik durch die Ver- dichtung internationaler und europäischer Konsultation und Kooperation. Nachdem sich die Bundesrepublik durch ihre Ostpolitik international "freigeschwommen"

hatte, wurde der Institutionalismus zum zentralen Bezugspunkt deutscher Außenpo- litik. Er wurde insbesondere vom früheren Außenminister Genscher bemüht, um den Entwicklungen seit Ende der Ost-West-Konfrontation eine Struktur zu geben.

Der Institutional ismus - so wie er in der wissenschaftlichen Debatte in Deutschland insbesondere von Emst-Otto Czempiel favorisiert w ird13- geht von folgender Grundannahme aus: Staaten, die in internationalen Organisationen kontinuierlich Zusammenarbeiten, vertiefen das Vertrauen zueinander und können das

"Sicherheitsdilemma" überwinden, daß sie nämlich nicht wissen, was die Intentionen der Gegenseite sind. A u f diese Weise kann eine stabile Ordnung geschaffen werden, die nicht auf das M ittel der nationalen Stärke zurückgreift.

172 Heinz-Jürgen Axt

3.1.1997, S. 3-14; Dieter Senghaas, "Was sind der Deutschen Interessen?", in Blätter fü r deutsche und internationale Politik, 38 (Juni 1993) 6, S. 673-687.

12 Vgl. dazu Helmut Hubel / Bernhard May, Ein normales Deutschland? Die souveräne Bun- desrepublik in der ausländischen Wahrnehmung, Forschungsinstitut der Deutschen Gesell- schaft für Auswärtige Politik, Arbeitspapiere zur Internationalen Politik 92, Bonn 1995.

Zur Außenwahmehmung Deutschlands vgl. jetzt auch Heft 2/1997 der Zeitschrift

"Internationale Politik" (52. Jg.) mit dem Titel "Großmacht Deutschland? Außenansich- ten". Kritische Stimmen in Deutschland entsprechen der Perzeption einer entstehenden Großmacht. Vgl. z.B. Caroline Thomas / Klaus-Peter Weiner (Hrsg.), A u f dem Weg zur Hegemonialmacht? Die deutsche Außenpolitik nach der Vereinigung, Köln 1993.

13 Vgl. z.B. Emst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München 1992.

Nach 1989/90 ist der institutionalistische Ansatz besonders in der Erweiterung und Vertiefung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zum Ausdruck gekommen14. Die Annahme war dabei, daß all die neuen Akteure auf der internationalen Bühne auf die Verfolgung stabilitätsfördemder Politikrichtungen festgelegt werden, wenn man sie früh und möglichst umfassend in institutionelle Strukturen einbindet. A u f diese Weise ist die heute nicht nur europäische sondern eurasische Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entstanden.

Deutschland hat konsequent die institutionalistische Strategie mit dem Ziel einer

"gesamteuropäischen Friedensordnung" - ein Begriff, der von Genscher mit Vorliebe benutzt wird15 - nach 1989/90 verfolgt. Die einseitige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens im Jahr 1991 muß daher als Ausnahme von der Regel und nicht als Beginn einer neuen Ära begriffen werden.