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3 Kinderrepublik als eine Form der Selbstorganisation

3.2 Konzepte von Kinderrepubliken

3.2.3 Die Organisationsstruktur der Kinderrepublik Korczaks

Die Einrichtung umfasste eigene pädagogische Institution, ein Kameradschaftsgericht, einen Selbstverwaltungsrat und ein Kinderparlament, weiterhin Heimdienste, Betreuung der Neulinge, einen Selbstverwaltungsrat, eine Heimzeitung und einen Briefkasten, der es den Kindern ermöglichte, ein geschütztes und zugleich freies Leben zu haben.

Die Einrichtung und Betreuung von Konferenzen, Zeitungen, Parlamenten und Gerichten, in denen Kinder die Hauptakteure waren, war einerseits Teil seines Leitungskonzepts, andererseits aber auch Bestandteil seiner Vision von einer Kinderrepublik (vgl. Dauzenroth/Kirchner 2006, S. 59, 62).

Sein Experiment der Einführung eines Rechtssystems in den Waisenhäusern gehört zu seinen bekanntesten Ideen und Neuerungen. In dem Waisenhaus wurde auf seine Initiative eine Verfassung geschrieben und ein Kameradschaftsgericht unter der Führung von Kindern gegründet, das sich mit mutmaßlichen Ungerechtigkeiten innerhalb der Kinderrepublik befasste. Dieses Kameradschaftsgericht wurde zum grundlegenden und charakteristischen Merkmal des Korczaks Ansatzes für die Kinderselbstverwaltung entwickelt. Es ermöglichte Sanktionen innerhalb der Kinderrepublik als ein „Instrument kollektiver Selbstkontrolle“ zwischen den erwachsenen Erzieher*innen und den Kindern als Bürger*innen. In diesem Zusammenhang hatten die Kinder als Akteure die Möglichkeit, diesen Aushandlungsprozess von Sanktionen transparent zu gestalten. Das Kameradschaftsgericht sollte als Hilfsinstrument für die Schaffung eines Wir-Gefühl dienen und die vorhandenen Regeln gemeinsam reflektieren und diskutieren (Liegle 1989, S. 402).

Korczak erläutert in diesem Zusammenhang die Strukturen der Institution Kinderrepublik wie folgt:

„In Warschau entscheidet der Sejm (das Parlament) darüber, wie man in ganz Polen Ordnung schafft, dafür gibt es 200 Abgeordnete. In ,Nash Dom' wird es zwölf Abgeordnete geben. In Warschau werden sechs und acht Stunden täglich beraten. Und uns genügt eine Stunde, weil wir nicht viel zu beraten haben, denn, Nash Dom' ist klein. Aber unser Sejm wird wie der Warschauer Sejm

verschiedene Gesetze verabschieden. Ich glaube, so wird es gut sein. Aber was soll man tun, wenn sich jemand nicht unseren Gesetzen unterordnet? Bei uns wird eine Zeitung herausgegeben. Die Zeitung versucht zu erklären, bittet oder wird böse. Und das hilft." (Korczak 1979, S. 80 f.)

Diese pädagogischen Settings waren in der Erziehung und Selbsterziehung der Kinder in Korczaks Vorstellungen wichtige Elemente. Durch Partizipationsprozesse innerhalb der Kinderrepublik nahmen die Kinder eine aktive Mitwirkung bei den täglichen Aktivitäten (Arbeitszeit, Lernzeit, Freizeit, Zeit für die Entscheidungsfindung) ein. In diesem Prozess wurden Kinder in ihrer Persönlichkeitsbildung gefördert und in Ihrer Entwicklung zu stimmberechtigen Bürger*innen unterstützt.

Korczak und sein Team verstanden die Kinderrepublik als eine Gemeinschaft, in der die Jüngeren vor Rechtlosigkeit, Demütigung und Willkür der Älteren geschützt waren und ein gleichberechtigtes und gleichwertiges demokratisches Zusammenleben einüben konnten. Der Unterschied zwischen den Erwachsenen und den Kindern durfte nach Korczak nicht als eine Macht-Differenz verstanden werden, sondern als eine Differenz in der Quantität und Qualität der gesammelten Erfahrungen.

Das Zusammenleben in Korczaks Waisenhaus wurde also nicht durch den gelegentlichen Machtverzicht, durch Gunst oder durch guten Willen der Erzieher*innen geregelt, sondern über den Erfahrungsaustausch zwischen dem Erwachsenen und dem Kind und den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Dabei kann in manchen Situationen sogar das Kind Expert*in fungieren, dessen Erfahrungen nicht nur zu respektieren, sondern auch in das gemeinsame Denken und Handeln eingebracht werden sollen (ebd.).

Ein bedeutendes Potenzial für aktuelle systematische Herausforderungen einer Theorie der Kindheit (siehe Kap. 2.3) liegt in seiner Verschränkung zweier grundlegender Perspektiven auf das Kind. Dazu gehören nach Dauzenroth/Kirchner die prinzipielle Handlungsfähigkeit des Kindes, die Korczak verknüpft mit der vulnerabel machenden ,Ausstattung´ des Kindes, die es in besonderen

Abhängigkeiten hält. In seinem Denken gehen ,Agency` und ,Vulnerabilität´

miteinander einher (ebd.).32

Korczak war für die Entwicklung der Kinderrechte und einer veränderten Haltung gegenüber Kindern zu dieser Zeit prägend33 und gleichzeitig wegweisend für die Beachtung der Meinungen der Kinder. Er ließ das Kind zu Wort kommen, er erhielt Zugang zu ihren Fragen und Sichtweisen und verlieh ihnen dadurch eine Stimme.

Korczak formulierte 1921 für die „Gesellschaft Nasz Dom“ ein Postulat: Kinder und Kindheit müsse man verstehen wollen und eine Kindergesellschaft müsse auf Prinzipien der Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, der gleichen Rechte aber auch Pflichten aufgebaut sein.

Für ihn war es notwendig „Kindern Unterstützung und Hilfe zu bieten, basierend auf Respekt und dem Hören ihrer Meinungen.“ (Korczak 2005, S.18). Weiter sagt er:

„Wir wollen das Kind nicht formen und ummodeln, sondern wir wollen es verstehen und uns mit ihm verständigen, Hilfe leisten bei der Aufrichtung einer geknechteten Bettlerseele, bei der Beseitigung des Schmutzes, welcher von der Erwachsenengesellschaft ausgehend auch die Kindergesellschaft durchdrungen hat und sie beherrscht“ (Korczak 2003, S. 520).34

Sachs stellt die Intention von Korczak in diesem Zusammenhang wie folgt dar:

„...Ihr sagt: der Umgang mit Kindern ermüdet uns. Ihr habt recht. Ihr sagt: denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen. Hinuntersteigen, herabbeugen, beugen, kleiner machen. Ihr irrt euch. Nicht das ermüdet uns.

Sondern dass wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen,

32 Die Herausforderung für die Kindheitsforschung und praktische Pädagogik liegt darin, den eingelagerten Spannungen gerecht zu werden. Dies scheint ein Argument für Korczak gewesen zu sein, allen Akteur*innen in der Pädagogik die genaue Beobachtung und Beschreibung aufzuerlegen. Von diesen beiden Methoden ausgehend, erschließen sich alle weiteren methodischen Vorschläge. Deren Bandbreite ist auch wissenschaftshistorisch meiner Meinung nach von Bedeutung und noch weitgehend unentdeckt.

33 Korczaks veröffentlichte u.a. die Werke: Wie liebt man ein Kind (1920), Das Recht des Kindes auf Achtung (1929), Erziehungsmomente (1919), Regeln des Lebens (1930) und Fröhliche Pädagogik (1939).

34 Die Aussagen und Erkenntnisse Korczaks sind von so grundlegender Relevanz für das Verstehen kindlicher Bedürfnisse und stellen die Kerngedanken partizipativer Erziehung dar.

uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen. Um nicht zu verletzen.“ (ebd.).

Aus dem Zitat geht auch Korczaks Achtung für die Kinder hervor. Er stellt die Kinder als Subjekte dar, zu denen man aufschauen kann und denen man gleichzeitig mit höchster Sorgfalt begegnen muss.

Diese beiden Aspekte können als die Basis seiner Pädagogik angesehen werden, auf der seine Methoden und Ziele fußen. Korczaks Verständnis von der Leitung seiner Waisenhäuser hob sich stark von der konventionellen Auffassung zu der damaligen Auffassung ab (Kunz et. al. 1994, S. 32). Indem er den Kindern über demokratische Abstimmungen und andere Mittel einen großen Teil der Verantwortung für die Geschehnisse in den Einrichtungen übertrug, machte er sie zu einem Teil der Leitung (Dauzenroth/Kirchner 2006, S. 59f.; Kluge et. al. 1981, S. 57). Dabei stand die Gleichberechtigung von Erzieher*Innen und Kindern im Vordergrund. Ein Beispiel dafür ist die Abstimmung über die Beliebtheit einzelner Kinder wie auch der Erzieher*Innen. Dabei ergab sich nicht nur ein Stimmungsbild der Kinder über das Verhalten der anderen Kinder, sondern auch über das der Erwachsenen. So erhielten sowohl Kinder als auch Erwachsene eine Rückmeldung, ob ihr Verhalten akzeptiert wurde, was die Entwicklung eines hohen Grades an Selbstreflexion seitens der Beurteilten zur Folge hatte (ebd). Hierbei haben die Kinder als Bürger*innen einen hohen Grad an Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft.

In diesem partizipativen Prozess ist auf die oben genannten Aspekte der Abstimmung und Selbstreflexion hinzuweisen, die durch das Prinzip der Gleichberechtigung hervorgerufen werden. Allerdings ist an dieser Stelle auch zu bemerken, dass diese Abstimmungen, ohne die in den Waisenhäusern herrschenden Rahmenbedingungen, die den Kindern dazu verhalfen, ein starkes soziales Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln, vermutlich nicht durchführbar gewesen wären (vgl. Ungermann 2006, S.

103).

In einer Ansprache an die Mitglieder- und Wahlversammlung von „Nasz Dom“ nennt Korczak mehrere Gründe, warum seine Entwürfe zur Reformation der Erziehung und der Situation der Kinder in der Gesellschaft in den Waisenhäusern umgesetzt werden sollten:

„Wir beginnen unsere Arbeit mit den Internaten, weil man in ihnen die Kinder leichter von äußeren Einflüssen fernhalten kann. Wir wollen sie ihr eigenes Leben gestalten und die Kräfte, die moralische Widerstandskraft und die Entwicklungstendenzen, erproben lassen. (...) Wir beginnen unsere Arbeit in den Internaten, denn während wir den Geist der Erwachsenen und Alten kennen, erwarten wir eine Antwort darauf, welches die Werte und Bedürfnisse des heranwachsenden, reifenden menschlichen Geistes sind.“ (Ungermann 2006, S. 103)

Die demokratische Selbstverwaltungsstruktur, die innerhalb der Waisenhäuser einen hohen Stellenwert einnahm, hatte einen enormen Einfluss auf das Alltagsleben der Kinder. Diese Methoden hatte damals einen revolutionären Charakter, sowohl für die allgemeine Öffentlichkeit als auch für die Pädagogik und wandte sich mit seinen Forderungen gleichermaßen an das Kind als auch an die Erwachsene, Eltern und Erzieher*innen. In der herrschenden Pädagogik wurde das Kind nicht als handelndes Subjekt beachtet, sondern eher als ein Objekt der Betreuung durch Erwachsene wahrgenommen. In diesem Kontext wurde vom Kind Gehorsamkeit erwartet, weil man davon ausging, dass nur die Erwachsenen wissen, was für das Kind am besten ist.