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Die Mußesituation als strukturelle Keimzelle des Erzählens

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 192-196)

13. Jorge Semprún: Quel beau dimanche!

13.2 Die Mußesituation als strukturelle Keimzelle des Erzählens

In Quel beau dimanche! wird die metaliterarische Reflexion kompositionstech-nisch unter anderem dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Frage nach dem Erzählenkönnen in Form von Gesprächen zwischen dem Ich-Erzähler und sei-nem ehemaligen Lagergenossen Barizon gestellt wird. Der Ich-Erzähler befindet sich im Jahr 1960 auf einer Fahrt von Paris nach Prag und wird dabei begleitet von eben jenem Barizon, den er aus dem Konzentrationslager kennt und von dem er zunächst die – allerdings irrige – Vermutung hat, dass dieser ihn nicht wiedererkannt habe. Die Unterhaltungen zwischen den beiden sind eingebet-tet in eine zielgericheingebet-tete Handlung, die im Zusammenhang mit der klandesti-nen Tätigkeit des Autors steht. Auf der Reise ergeben sich Unterbrechungen, in denen die beiden politisch engagierten Handelnden miteinander ins Gespräch kommen. Damit greift der Text das klassische Schema eines Erzählens auf, das in eine Mußesituation eingebettet ist. Die Erinnerung an die gemeinsame Vergan-genheit wird in den durch die Pausen entstehenden Freiräumen in Gang gesetzt.

Von Beginn an wird dabei deutlich, dass die Art und Weise, wie Barizon über das gemeinsam Erlebte spricht, diesem nach Semprúns Auffassung nicht gerecht wird: „Il ne raconte pas bien sa vie, Fernand. Les souvenirs s’accrochent les uns aux autres, à la queue leu leu, dans la confusion la plus totale. Il n’y a pas de relief

4 Richard Faber, Erinnern und Darstellen des Unauslöschlichen. Über Jorge Semprúns KZ­Literatur, Berlin 1995, 52ff.

5 Vgl. hierzu grundlegend Monika Neuhofer, „Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé“.

Jorge Sempruns literarische Auseinandersetzung mit Buchenwald, Frankfurt a.M. 2006. Der Zusammenhang zwischen Erinnerung, Trauma und Schreiben wird behandelt bei Ofelia Ferrán, „‚Cuanto más escribo, más me queda por decir‘: Memory, Trauma, and Writing in the Work of Jorge Semprún“, in: MLN 116 (2001), 266–294 sowie Susan Rubin Suleiman,

„Historical Trauma and Literary Testimony: Writing and Repetition in the Buchenwald Memoirs of Jorge Semprun“, in: Journal of Romance Studies 4, 2 (2004), 1–19.

dans son récit. Et puis, il oublie des choses essentielles.“6 Barizons Erzählweise zeichnet sich demnach durch folgende Merkmale aus: die assoziative Reihung der Einzelerinnerungen und die daraus resultierende fehlende Strukturierung des Erzählten sowie Lückenhaftigkeit.

Nun ist prinzipiell klar, dass jede Erzählung einer erlebten Vergangenheit selektiv sein muss, dass niemals alles gesagt werden kann. Was hier zur Sprache kommt, ist die unhintergehbare perspektivische Gebundenheit jeder Erzählung an einen Erzähler. Die Selektion von Ereignissen als relevant oder nicht rele-vant ist stets abhängig von der Einstellung des Erzählers zu seiner Geschichte und von seiner kommunikativen Intention. Damit wird bereits angedeutet, dass es eine objektive Darstellung der Vergangenheit nicht geben kann. Genau des-halb konfrontiert Semprún ja verschiedene Modi des Erzählens miteinander und deshalb versucht er auch selbst immer wieder, die von ihm erlebte Vergan-genheit neu zu perspektivieren, ihr eine bestimmte narrative Gestalt („relief“) zu verleihen.

In den Gesprächen mit Barizon entwickelt Semprún die Idee eines Buches, welches er selbst über Buchenwald schreiben möchte. Auf die Frage, wie er sein Buchenwalderlebnis erzählen würde, antwortet er: „Je raconterais un dimanche à Buchenwald“.7 Er würde einen Wintersonntag zur Basis seiner Erzählung ma-chen, einen bestimmten Sonntag, an dem er und Barizon sich im Lager lange miteinander unterhalten haben. Die im Jahr 1960 angesiedelte Sprechsituation zwischen Semprún und Barizon korrespondiert somit mit einer zweiten Sprech-situation, die an jenem Sonntag im Lager verortet ist. In beiden Fällen unterhal-ten sich dieselben Personen, einmal als Erlebende, als Opfer des nationalsozialis-tischen Lagersystems, und das andere Mal als Überlebende und sich Erinnernde.

Mit dieser Parallelität und Doppelung der Sprech- und Erzählsituationen wird dem Text ein strukturelles ‚Relief‘ verliehen. Die scheinbar chaotische, auf die unterschiedlichsten Zeitpunkte referierende Darstellungsweise des Textes wird durch diese beiden primären Zeitschienen in eine gewisse Ordnung gebracht.8

Der Sonntag, welcher auch im Titel des Romans evoziert wird, ist nun seiner-seits ein prekäres Ruhemoment unter den menschenfeindlichen Lebensbedin-gungen des Lagers. Wie an den anderen Wochentagen auch müssen die

Häft-6 Quel beau dimanche!, 57. – Fernand erzählt sein Leben nicht gut. Die Erinnerungen kommen aneinandergereiht daher, im Gänsemarsch, in völliger Unordnung. Seine Erzäh-lung hat kein Relief. Und außerdem vergisst er wesentliche Dinge.

7 Quel beau dimanche!, 109. – Ich würde einen Sonntag in Buchenwald erzählen.

8 Vgl. hierzu Neuhofer, „Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé“, nach deren Analyse der „Sonntag im Dezember 1944 die Ebene der Haupthandlung [bildet], welche den Text mit seinen zahlreichen Reflexionen sowie Vor- und Rückblenden zusammenhält.“ (145) Neuhofer weist ebenfalls darauf hin, dass neben dem „Sonntag im Dezember 1944, der über die einzelnen Kapitel verteilt vom Morgenappell bis zum Abend erzählt wird“ (148), ein weiteres strukturierendes Merkmal „die späteren Begegnungen mit Barizon [sind], auf die Semprun im Verlauf des Buches immer wieder zurückkommt“ (ebd.).

linge am Sonntag zwar zum Morgenappell antreten und arbeiten, haben aber zumindest am Nachmittag einige Stunden der Ruhe und Erholung und damit auch der möglichen Geselligkeit. Die Erinnerung an jenen Sonntag kristallisiert sich nun um einen Ausruf eben jenes Barizon, der dem Erzähler als Erlebendem schwer nachzuvollziehen erschien:

– Les gars, quel beau dimanche! a dit le gars. / Il regarde le ciel et il dit aux gars que c’est un beau dimanche.Mais dans le ciel on ne voit que le ciel, le noir du ciel, la nuit du ciel, et plein de neige qui tourbillonne à la lumière des projecteurs. Une lumière dansante et glacée. / […] Le rire du gars monte vers la nuit du ciel, la nuit du beau dimanche à l’aube, et il tourne court aussitôt. Le gars ne dit plus rien. Il a dû dire tout ce qu’il pense de la vie et il plonge dans la nuit de neige, vers la place d’appel. Ce n’est plus qu’une ombre qui court, courbée sous les rafales de neige. D’autres ombres se mettent à courir derrière l’ombre du gars qui a dit que c’est un beau dimanche. / Pour qui a-t-il parlé? Pourquoi cette dérision désespérée dans sa voix, dans son cri vers le ciel de neige?9

Der Erzähler vermutet, dass die zu den Lebensbedingungen des Konzentra-tionslagers in scharfem Kontrast stehende Äußerung „Was für ein schöner Sonn-tag!“ vielleicht durch Erinnerungen an einen anderen, angenehmen Ort, näm-lich die Ufer der Marne, motiviert sein könnte: „Quel beau dimanche, les gars, sur les rives de la Marne! / Il n’a sans doute pas pu résister à la beauté de ce beau dimanche d’autrefois sur les rives de la Marne, envahissant tout à coup sa mé-moire pendant qu’il regardait les tourbillons de neige sur l’Ettersberg.“10

Die Tatsache, dass ein KZ-Häftling seiner Freude über einen schönen Sonn-tag Ausdruck verleiht, verstößt so sehr gegen jegliche Wahrscheinlichkeit und Erwartbarkeit, dass der Erzähler sie zu erklären versucht, indem er den mut-maßlichen Grund für die zum Ausdruck gebrachte Freude Barizons in einem räumlichen und zeitlichen Jenseits des Lagers ansiedelt. An einer späteren Text-stelle wird jedoch gesagt, dass diese Erklärung falsch gewesen sei. Die Barizon zugeschriebene Erinnerung an einen schönen Frühlingssonntag an den Ufern der Marne sei nichts anderes als eine romanhafte Sinnkonstruktion des

9 Quel beau dimanche!, 25f. – He Leute, was für ein schöner Sonntag! hat der Kerl ge-sagt. / Er schaut zum Himmel und sagt zu den Jungs, dass es ein schöner Sonntag sei. Aber am Himmel sieht man nur den Himmel, das Schwarz des Himmels, die Himmelsnacht, voller Schnee, der im Lichtstrahl der Projektoren wirbelt. Ein tanzendes, eisiges Licht. / […] Das Lachen des Kerls steigt auf zur Himmelsnacht, zum Morgengrauen des schönen Sonntags, und verstummt sogleich. Der Kerl sagt nichts mehr. Er hat wohl all das gesagt, was er vom Leben denkt, und stürzt sich in die Schneenacht, Richtung Appellplatz. Nun ist er nur noch ein laufender Schatten, der sich unter die Schneewirbel bückt. Andere Schatten beginnen hinter dem Schatten des Kerls herzulaufen, der gesagt hat, dass es ein schöner Sonntag sei. / Zu wem hat er gesprochen? Warum dieser verzweifelte Spott in seiner Stimme, in seinem Schrei Richtung Schneehimmel?

10 Quel beau dimanche!, 26. – Was für ein schöner Sonntag, Leute, an den Ufern der Marne! / Er konnte wohl der Schönheit jenes schönen Sonntags von früher an den Ufern der Marne nicht widerstehen, die plötzlich seine Erinnerungen überschwemmte, während er die Schneewirbel auf dem Ettersberg betrachtete.

lers gewesen.11 Demnach muss die Erklärung für den unerwarteten und irritie-renden Ausruf Barizons im Lager selbst zu finden sein. „Quel beau dimanche!“

bezieht sich auf das Hier und Jetzt des Lagers, und zwar genau in jenem Sinn, in dem Semprún den Sonntag im Lager als einen Tag beschreibt, an dem den Häft-lingen eine winzige Verschnaufpause, ein Moment des Innehaltens, konzediert wird. Diese Situation ist wiederum – auch wenn es angesichts der Rahmenbedin-gungen eines Konzentrationslagers geradezu als zynisch erscheinen mag, dies zu formulieren – eine Situation der Muße.

Aus der mit dem Begriff des Sonntags markierten zeitlichen Rahmung ergibt sich die narrative Keimzelle des Buches. So wie in Le grand voyage der Transport der Häftlinge in Güterwaggons von Frankreich in das deutsche Konzentrations-lager das strukturelle Gerüst bildete, übernimmt diese Funktion in Quel beau dimanche! der Aufenthalt im Lager selbst, welcher pars pro toto durch den Sonn-tag repräsentiert wird. Der gesamte Text wird durch die Rückblende auf jenen Sonntag strukturiert; so gibt es immer wieder zeitliche Markierungen, die auf diesen Sonntag verweisen. Viel entscheidender aber ist, dass der Sonntag, wie bereits angezeigt wurde („pendant qu’il regardait les tourbillons de neige sur l’Et-tersberg“),12 mit dem Ettersberg und damit der deutschen Geistesgeschichte ver-bunden wird. Im Kapitel „Zéro“ des Textes wird ausführlich auf die Geschichte der Einrichtung des Konzentrationslagers Buchenwald eingegangen. Hier zeigt sich, dass den Nationalsozialisten die räumliche Nähe zu dem Weimar Goethes sehr wohl bewusst war und dass sie vermeiden wollten, das Lager geographisch korrekt nach jenem Ettersberg zu benennen, welcher untrennbar mit Goethes Leben und Werk verknüpft ist. Das Lager, welches ursprünglich die Bezeich-nung „K. L. Ettersberg“ tragen sollte, wurde daher auf Geheiß Himmlers in „K.

L. Buchen wald/Weimar“ umbenannt.13

Diese Informationen sind eingebettet in einen Kontext, in dem der Erzähler über die grundsätzliche Frage des Beginns einer Geschichte nachdenkt. Dabei verbindet er Informationen über die am 3.Juni 1936 beschlossene Erbauung ei-nes für die Aufnahme von 3.000 Häftlingen geplanten Lagers in Thüringen mit Informationen über einen der späteren Häftlinge, nämlich den französischen Schriftsteller und Politiker Léon Blum. Blum war der Verfasser einer Schrift mit

11 „On aura pu le constater, il ne se souvenait pas du tout des rives de la Marne. Les ri-ves de la Marne, ce n’était qu’une supposition de l’Espagnol qui l’avait vu partir en courant vers la place d’appel, qui l’avait entendu crier: les gars, quel beau dimanche! Une invention, c’est tout: du roman.“ (Quel beau dimanche!, 89) – Wie man gemerkt haben wird, erinnerte er sich überhaupt nicht an die Ufer der Marne. Die Ufer der Marne, das war nur eine Ver-mutung des Spaniers, der gesehen hatte, wie er Richtung Appellplatz davonlief, und der gehört hatte, wie er rief: Leute, was für ein schöner Sonntag! Nichts als eine Erfindung, etwas Romanhaftes.

12 Quel beau dimanche!, 26. – […] während er dem Schneetreiben auf dem Ettersberg zuschaute […].

13 Ebd., 22f.

dem Titel Nouvelles conversations de Goethe avec Eckermann, die 1901 erschie-nen war. Er selbst wurde am 7.Juni 1936 zum ersten französischen Premier-minister jüdischer Herkunft gewählt. Später kam er als Häftling nach Buchen-wald. In seiner Person kristallisiert sich somit das extreme Spannungsverhältnis zwischen kultureller und politischer Geschichte, welches vom Text insgesamt immer wieder ausgelotet wird. Jener Ort, der als Ausflugsziel für Goethe und Eckermann berühmt war und der somit als bukolischer Ort („Cette vision bu-colique de la vie à Weimar est confirmée par Goethe lui-même“)14 wahrgenom-men wurde, ist zugleich der Ort der schlimmsten Exzesse des système concen­

trationnaire. Der ursprüngliche Mußeort wird also durch die Nationalsozialisten zum Ort der Vernichtung pervertiert.

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 192-196)