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Das Narrativitätspotential der Liebe

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 42-45)

2. Le Roman de la Rose

2.3 Das Narrativitätspotential der Liebe

Durch die erwähnten Spiegelungsstrukturen markiert der Roman seine hohe Selbstreflexivität, die sich auch in seiner intertextuellen Dimension manifestiert (Artusritter, Ovid, Amor). Zentralen Stellenwert besitzt in dieser Hinsicht die Amorfigur, die von V. 1678 bis 2762 im Mittelpunkt steht. Es wurde ja schon er-wähnt, dass Amor mit seinem Bogen in der Hand dem erlebenden Ich auf seinem Erkundungsweg bis hin zum Brunnen des Narziss gefolgt ist. Als Amor bemerkt, dass das Begehren des Ichs sich auf eine der auf dem Rosenstrauch wachsenden Rosen gerichtet hat, schießt er fünf Pfeile auf ihn ab, die durch sein Auge eindrin-gen und sein Herz erreichen. Es handelt sich um die Pfeile „biautez“ (V.1713),

32 Manch tapferer Mann wurde zugrunde gerichtet / Von diesem Spiegel, denn die Klügsten, / Die Tapfersten, die Wohlerzogensten / Gehen dort schnell in die Falle.

33 In dem Spiegel sah ich inmitten von tausend Dingen / Rosenbüsche voller Rosen, / Die an einer etwas abgelegenen Stelle wuchsen / Und von einer Hecke umgeben waren; / Da erfasste mich ein so großes Verlangen, / Dass ich nicht um den Preis von Pavia / Oder von Paris darauf verzichtet hätte, dorthin zu gehen, / An jenen Ort, wo ich die größte Ansamm-lung von Rosen erblickte.

34 Ach, was habe ich später darüber geseufzt! / Dieser Spiegel hat mich getäuscht: / Wenn ich zuvor gewusst hätte, / Welche Kraft und welches Vermögen er besitzt, / Dann hätte ich mich von ihm ferngehalten, / Denn sogleich habe ich mich in den Schlingen verfangen, / Die schon so manchen Mann gefangen und verraten haben.

„simplesce“ (V.1734), „cortoisie“ (V.1764), „compaignie“ (V.1822) und „biaus semblanz“ (V.1839). Diese Pfeile, deren Namen auf positive höfische Werte ver-weisen, fixieren und verstärken das im erlebenden Ich bereits vorhandene Lie-besverlangen. Der Status dieser Pfeile ist ein allegorischer, wie im Text deutlich gesagt wird: „Mes la saiete qui me point / Ne traist onques sanc de moi point, / Einz fu la plaie toute seche.“ (V.1704–1706)35 „La fleche ou n’ot fer ne acier“

(V.1739).36 Die Pfeile, die sich somit von realen Pfeilen durch ihre fehlende Materia lität unterscheiden, wirken paradoxerweise zugleich als Gift und als Heilmittel: „Si m’a ou cuer grant plaie faite, / Mes li oingnemenz espandi / Par les plaies, si me rendi / Le cuer qui m’iere toz falliz.“ (V.1855–1858)37 Nachdem das erlebende Ich von Amors Pfeilen verwundet worden ist, tritt Amor selbst auf den Plan und spricht mit ihm (V.1879 ff). Im Gespräch zwischen Amor und dem Ich wird ein höfisches Dienstverhältnis zwischen ihnen beiden etabliert: „A tant deving ses hom mains jointes“ (V.1952).38 Dieses Verhältnis wird durch Abgren-zung ge genüber dem Unhöfischen valorisiert. So sagt Amor: „Si me baiseras en la bouche / A cui nus vilains hom ne touche“ (V.1932f.).39 Die Relation zu Amor zeichnet sich durch Exklusivität und bedingungslose Unterordnung aus: „Mes cuers est vostres, non pas miens / Car il covient, soit maus ou biens, / Que il face vostre plesir.“ (V.1983–1985)40

Die Gebote Amors sind ambivalent, wie die Liebe selbst auch. Einerseits for-dert Amor vom Liebenden die totale Unterwerfung, was in der Metaphorik des Feudaldienstes zum Ausdruck kommt. Dem entspricht ein psychisch-mentaler Affektzustand, der durch Agonalität, Schmerz, existentielle Bedrohung, Zerris-senheit, Oszillieren zwischen Extremen ausgezeichnet ist. Mit anderen Worten:

Der Liebende ist in höchstem Maße fremdbestimmt. Die Liebe erscheint als eine ihn bedrohende Gewalt. Auf der anderen Seite aber vermittelt Amor dem Lie-benden auch eine Reihe von Heilmitteln der Liebe. Diese erscheinen als allego-rische Gestalten, „douz pensers“, „douz parlers“ und „douz resgarz“, Personifi-kationen also, die das Begehrensverhältnis zwischen dem Liebenden und dem Objekt seiner Liebe als auf eine positive Hoffnung gegründet erscheinen lassen.

Es geht bei diesem Zustand somit um die Spannung zwischen der Hoffnung, sich ein Objekt aneignen zu können, und der aktuellen Unerreichbarkeit dieses Objekts.

35 Aber der Pfeil, der mich traf, / Ließ kein Blut aus mir austreten; / Die Wunde war im Gegenteil ganz trocken.

36 Der Pfeil, der weder aus Eisen noch aus Stahl bestand.

37 Und er hat mir eine große Wunde am Herzen geschlagen, / Aber die Salbe verbrei-tete sich / Über die Wunden und stellte / Mein schon völlig geschwächtes Herz wieder her.

38 So wurde ich also mit verschränkten Händen sein Vasall.

39 Du wirst mich also auf den Mund küssen, / Was einem unedlen Menschen verwehrt bleibt.

40 Mein Herz gehört Euch und nicht mir, / Denn es ist im Guten wie im Schlechten not-wendig, / Dass es sich Euch unterwirft.

Dieses Spannungsverhältnis nun wird im folgenden Teil des Roman de la Rose in Handlung umgesetzt. Der Liebe wohnt somit ein Narrativitätspotential inne, welches im Folgenden entfaltet wird.41 Nachdem Amor seine Rede (V.1881–

2762) beendet hat, verschwindet er urplötzlich. Was Amor in seiner langen Rede allgemein formuliert hat, wird nun konkret umgesetzt. Der Liebende hat sein Herz verschenkt und weiß, dass es ihm unmöglich sein wird, das Objekt seiner Liebe zu erreichen, wenn ihm dabei nicht eine höhere Instanz wie Amor behilf-lich ist. Angesichts der Gebote Amors aber ist klar, dass der Gott dem Liebenden nicht helfen kann, weil es ja im Gegenteil sein Wille ist, dass der Liebende leide.

Als dieser überlegt, wie er durch Eindringen in den Innenraum der Hecke in den Besitz der von ihm begehrten Rosenknospe gelangen könnte, erscheint ein junger Mann mit Namen „Bel acueil“, der Sohn von „cortoisie“ (V.2790). „Bel acueil“ fungiert im Folgenden als Adjuvant, der dem begehrenden Subjekt den Zugang zur Rose freigibt. Ihm stehen aber eine Reihe von Opponenten gegen-über, nämlich „Dongier“ (V.2825), „Male bouche“ (V.2833), „honte“ (V.2834) und „peor“ (ebd.). Es handelt sich auch hier wiederum um allegorische Figuren, die verschiedene, miteinander widerstreitende psychische Zustände personifi-zieren. Von hier an wird der gesamte weitere Handlungsverlauf des Rosenromans durch das Schema der so genannten Psychomachie geprägt; Psychomachie ist der Kampf um die Seele, der durch die Konfrontation derselben mit Personifika-tionen geführt wird, wobei jede der PersonifikaPersonifika-tionen ein bestimmtes Konzept oder eine psychische Qualität vertritt und entsprechend handelt. Im Rosenroman handelt es sich um Emotionen wie Furcht und Scham/Schande, Eifersucht sowie um Verhaltensweisen wie üble Nachrede. Aber auch eine abstrakte Kategorie wie Gefahr kann allegorisch personifiziert werden. Wichtig ist der Kontrast zwi-schen der Sphäre der Muße, die durch das höfische Fest im Garten von Deduiz geprägt ist, und der Agonalität der Psychomachie, die von nun an im Zentrum des Textes stehen wird. Muße und Kampf markieren die zentrale semantische Opposition des Romans, sie bedingen ein grundlegendes Spannungsverhältnis, welches sich dem Spannungsverhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit hin-zugesellt.

Die Psychomachie-Handlung vollzieht sich in zwei Teilen. Der erste Teil (V.2763–3496) endet damit, dass das Ich sich nach langem Aufschub endlich der Rose nähern und ihr einen Kuss geben kann (V.3347–3496). Im zweiten Teil wird Bel Acueil, der als Adjuvant fungiert hat, von den Opponenten Male Bouche,

41 Vgl. hierzu auch Jean Rychner, „Le mythe de la fontaine de Narcisse dans le Roman de la Rose de Guillaume de Lorris“, in: Claude Pichois (Hg.), Le lieu et la formule. Hom­

mage à Marc Eigeldinger, Neuchâtel 1978, 33–46, der vom Narrativitätspotential des (mit der Liebeshandlung, wie wir gesehen haben, eng verbundenen) Narzissmythos spricht: „Le mythe grandit, généralise et embellit singulièrement la fonction narrative élémentaire et fondamentale qu’il assure: il faut qu’il se passe quelque chose pour qu’il y ait quelque chose à vivre et à raconter.“ (46)

Honte, Jalousie usw. bestraft und eingesperrt. Jalousie lässt eine Festung errich-ten (V.3795ff.) und lässt Bel Acueil darin einkerkern. Das Ich steht nun außer-halb der Festung und ist verzweifelt, da sowohl Bel Acueil, der Adjuvant, als auch die Rose selbst sich im Inneren der Festung befinden. Die handlungstechnisch angelegte Konsequenz wäre nun im Sinne der Psychomachie ein Kampf zwi-schen dem Ich und seinen Adjuvanten auf der einen Seite und den Opponenten auf der anderen Seite; dieser Kampf würde am Ende dazu führen, dass das be-gehrte Objekt zusammen mit Bel Acueil aus der Festung befreit wird, sodass es zu einer Vereinigung des Ichs mit der Rose kommen kann. Dieses Szenario wird allerdings im Text selbst nicht mehr ausgeführt, weil dieser bei V. 4056 abrupt endet.

2.4 Negative Korrespondenzen zwischen den beiden

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 42-45)