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Der Prolog des Don Quijote als narrative Spielanordnung

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 94-99)

6. Miguel de Cervantes: Don Quijote

6.1 Der Prolog des Don Quijote als narrative Spielanordnung

als narrative Spielanordnung im Freiraum der Muße

In diesem Kapitel wird es um einen Text gehen, der ebenfalls im Zeichen der Muße steht, in dem die metaliterarische Dimension aber noch deutlicher als bis-her in den Vordergrund tritt, nämlich der 1605 und 1615 in zwei Bänden erschie-nene Don Quijote von Miguel de Cervantes (1547–1616). Zugleich wird in die-sem Text die Ambivalenz der Muße, das heißt ihr Schwanken zwischen erfüllter und verschwendeter Zeit, zwischen Muße und Müßiggang, virulent. Es handelt sich um einen Roman, dessen Hauptthema der Umgang mit Literatur ist. Dies zeigt sich schon programmatisch im Prolog, in dem der Erzähler sich direkt an den Leser wendet und ihn als „desocupado lector“ („müßiger Leser“) apostro-phiert. Der Prolog dient Cervantes dazu, dem Leser die Modalitäten vor Augen zu führen, unter denen der vorliegende Roman adäquat rezipiert werden kann.

Dass diese Sprechhandlung im Zeichen der Muße steht, ist kein Zufall; der Leser eines Romans, so impliziert diese Anrede, muss über Zeit und Muße verfügen, um sich der Aktivität des Lesens hingeben zu können. Auch die Entstehung eines

Romans kann dann am besten gelingen, wenn bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sind, die, wie wir immer wieder gesehen haben, mit dem Begriff der Muße umrissen werden können:

El sosiego, el lugar apacible, la amenidad de los campos, la serenidad de los cielos, el mur-murar de las fuentes, la quietud del espíritu son grande parte para que las musas más estériles se muestren fecundas y ofrezcan partos al mundo que le colmen de maravilla y de contento.1

Die genannten Bedingungen allerdings sind im Falle des Don Quijote nicht ge-geben. Dieser Text, so der Erzähler, sei im Gegenteil das Produkt eines „estéril y mal cultivado ingenio“2 und korreliere mit diesem in seiner Beschaffenheit. Es handle sich nämlich um die „historia de un hijo seco, avellanado, antojadizo y lleno de pensamientos varios y nunca imaginados de otro alguno“.3 Diese Ge-schichte sei nicht in der Muße eines locus amoenus entstanden, sondern in einem Gefängnis („bien como quien se engendró en una cárcel“).4 Was das Gefängnis mit den topischen Mußeorten gemeinsam hat, ist, dass es sich ebenfalls um eine Heterotopie im Sinne Foucaults handelt. Damit markiert der Sprecher des Pro-logs deutlich, dass der von ihm vorgelegte Text von den üblichen Lesererwartun-gen radikal abweicht. Um dieser Abweichung gerecht zu werden, inszeniert der Erzähler im Prolog ein doppelbödiges metaliterarisches Spiel, welches der Leser, wenn er es richtig dechiffiriert, als Rezeptionsanweisung verstehen kann.

Worin besteht dieses Spiel? Seine wichtigsten Elemente lassen sich auf fol-gende Begriffe bringen: (1) Negation, (2) Verdoppelung, (3) performativer Selbst-widerspruch.

(1) Die Negation besteht darin, dass der Erzähler behauptet, er wolle eigent-lich gar keinen Prolog schreiben. Dies begründet er metaphorisch damit, dass er nicht etwa ein Vater sei, der blind vor Liebe die Hässlichkeit seines Sohnes nicht erkenne und statt dessen jedermann von dessen imaginärer Schönheit vor-schwärme. Nicht der Vater, sondern der Stiefvater („padrastro“) des Don Qui­

1 Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha. Edición, introducción y notas de Martín de Riquer. Edición revisada y puesta al día, Barcelona 1990, 12. – „Die Stille, ein angenehmer Aufenthalt, die Lieblichkeit der Gefilde, die Heiterkeit des Himmels, das Ge-murmel der Quellen, die Ruhe des Geistes verursachen es großenteils, daß sich auch die unfruchtbarste Muse fruchtbar zeigt und Geburten ans Licht bringt, durch welche sie Er-staunen und Freude erregt.“ (Miguel de Cervantes Saavedra, Leben und Taten des scharfsin­

nigen Edlen Don Quixote von la Mancha, Originaltitel: El ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha. Erstdruck des Ersten Teils: Madrid 1605; Zweiter Teil: Madrid 1615. Hier nach der Übers. v. Ludwig Tieck, Berlin 1966; http://www.zeno.org/Literatur/M/Cervantes+Saa vedra,+Miguel+de/Roman/Don+Quijote. Alle Don­Quijote-Übersetzungen stammen hier und im Folgenden aus dieser online verfügbaren Ausgabe.)

2 Don Quijote, 11. – „[…] unfruchtbarer, ungebildeter Verstand“.

3 Don Quijote, 12. – „[…] Geschichte eines dürren, welken und grillenhaften Sohnes, der mit allerhand Gedanken umgeht, die vorher noch niemand beigefallen sind“.

4 Don Quijote, 12. – „[…] geradeso wie einer, der in einem Gefängnisse erzeugt ward“.

jote sei er, und am liebsten würde er dessen Geschichte kahl und nackt der Welt präsentieren, „monda y desnuda“, das heißt „sin el ornato de prólogo“.5 Damit wird behauptet, dass ein Prolog üblicherweise die Funktion habe, einen literari-schen Text beschönigend einzukleiden und damit an den Leser zu appellieren, über seine Schwächen und Fehler hinwegzusehen. In rhetorischer Terminologie handelt es sich um eine captatio benevolentiae. Andere Autoren, so der Erzähler, würden ihre Texte nicht nur mit einem Prolog, sondern auch mit anderem Bei-werk ausstatten; er spricht abschätzig vom „catálogo de los acostumbrados so-netos, epigramas y elogios que al principio de los libros suelen ponerse“.6 Dieser üblichen Praxis, die unter Zuhilfenahme von Gefälligkeitstexten darauf abzielt, sich den Leser gewogen zu machen, will sich der Erzähler des Don Quijote erklär-termaßen verweigern. Denn der Leser verfüge über einen freien Willen („libre al-bedrío“) und sei in seinem Urteil souverän und nicht beeinflussbar. Wir können also festhalten, dass der Erzähler sich via negationis auf eine übliche Praxis der Leserbeeinflussung bezieht, um sich von dieser zu distanzieren. Indem er dem Leser einen freien Willen attestiert und ihm dadurch eine Position der Überle-genheit zuweist, bedient er sich indes ebenfalls einer subtilen Form der captatio benevolentiae. Es deutet sich also hier schon an, dass, wie gleich noch genauer zu zeigen sein wird, der Sprechakt des Prologs doppelbödig ist, dass die offiziell ne-gierte Position durch die Hintertür wieder eingeführt wird. Es handelt sich somit um ein Verfahren der Ironie.

(2) Das zweite Merkmal dieses Prologs ist das der Verdoppelung. Die auf ex-tradiegetischer Ebene angesiedelte Kommunikation zwischen dem Erzähler und seinem Leser wird auf intradiegetischer Ebene verdoppelt durch die Kommunika-tion zwischen dem Erzähler und einem Freund, der ihn gerade zufällig besucht, als er in Gedanken am Schreibtisch sitzt und über die Schwierigkeiten des Pro-logschreibens nachdenkt. Es entsteht damit eine Beobachtungssituation zweiter Ordnung:7 Zwei Kommunikationssituationen überlagern einander; beide haben denselben Gegenstand, nämlich die Frage, in welcher Form und auf welche Weise das vorliegende Buch Don Quijote dem Lesepublikum präsentiert werden soll.

Dadurch wird dieser Gegenstand unterschiedlich perspektiviert. Der Erzähler klagt gegenüber seinem Freund, dass er befürchte, sein Don Quijote werde vom Publikum abgelehnt werden, weil es ihm an Erfindungskraft, stilistischer Bril-lanz und vor allem an Gelehrsamkeit fehle: „falta de toda erudición y doctrina, sin acotaciones en las márgenes y sin anotaciones en el fin del libro“.8 In anderen

5 Don Quijote, 12. – „[…] nackt und bloß […] ohne den Schmuck eines Prologs“.

6 Don Quijote, 12. – „[…] unzählige Schar der herkömmlichen Sonette, Epigramme und Empfehlungsgedichte, die man vor den Anfang der Bücher zu setzen pflegt“.

7 Niklas Luhmann versteht unter Beobachtung zweiter Ordnung „die Beobachtung von Beobachtungen“ (Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, 94).

8 Don Quijote, 13. – „[…] gänzlich von Gelehrsamkeit und Literatur entblößt, ohne Be-merkungen am Rande und ohne AnBe-merkungen am Ende des Buchs“.

Büchern fänden sich zahlreiche gelehrsame Einsprengsel und Zitate ebenso wie bestellte Lobgedichte, die die Qualität dieser Bücher unterstreichen sollten. Damit wird der Erwartungshorizont des Publikums klar abgesteckt. Für den Erzähler ergibt sich nun das Problem, dass er diesen Erwartungshorizont einerseits kennt und weiß, dass es besser wäre, wenn er sich ihm anpasste, dass er sich aber ande-rerseits dazu nicht in der Lage sieht, weil ihm angeblich die Gelehrsamkeit fehlt („por mi insuficiencia y pocas letras“).9 Der zweite Grund seiner Verweigerung ist, dass er es aus Trägheit ablehnt, andere darum zu bitten, etwas zu sagen, das er auch selbst sagen könnte („porque naturalmente soy poltrón y perezoso de an-darme buscando autores que digan lo que yo me sé decir sin ellos“).10 Das Prinzip der Verdoppelung kommt also auch hier wiederum zur Anwendung; der Erzähler verweigert sich einer üblichen kommunikativen Praxis aus zwei Gründen. Diese stehen zueinander allerdings in einer widersprüchlichen Beziehung. Einerseits verweigert der Erzähler die Befolgung der üblichen Praxis aus angeblich fehlen-der Gelehrsamkeit; anfehlen-dererseits behauptet er, er könnte, wenn er wollte, die von ihm verweigerte Praxis durchaus befolgen, tue dies aber aus Schüchternheit und Trägheit nicht.

Insgesamt kann man somit feststellen, dass der Erzähler sich in einer apore-tischen Situation befindet: Er ist gefangen zwischen der Notwendigkeit, sich den Gepflogenheiten literarischer Texte zu unterwerfen, und der Unmöglichkeit, dies zu tun. Aus dieser ausweglosen Situation wird er durch die Intervention seines Freundes befreit. Dieser empfiehlt ihm, die fehlenden Begleittexte, welche nor-malerweise von befreundeten Autoren zu Werbezwecken verfasst werden, selbst zu schreiben und sie anderen in den Mund zu legen. Bezüglich der fehlenden gelehrsamen Zitate schlägt der Freund vor, dass der Erzähler ganz einfach ir-gendwelche beliebigen ihm vertrauten lateinischen Sentenzen einfügen und ihre angeblichen Autoren in Form von Randbemerkungen erwähnen solle. Diese Empfehlungen laufen darauf hinaus, dass der Verfasser des Don Quijote dazu aufgefordert wird, den die Rezeption steuernden Apparat des Buches mit den Mitteln poetischer Imagination zu simulieren, mit anderen Worten, er wird zur Fiktionalisierung aufgefordert. Damit wird eines der zentralen Themen des Don Quijote, nämlich das Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit, indirekt schon im Prolog eingeführt. Wenn es nämlich möglich ist, Texte oder Äußerun-gen mit den Mitteln der poetischen Fiktion so zu gestalten, dass sie authentisch erscheinen, ohne es zu sein, dann ist damit das wesentliche epistemologische Problem des Don Quijote berührt, nämlich die Verwechselbarkeit von literari-scher Fiktion und außerliterariliterari-scher, lebensweltlicher Wirklichkeit.

9 Don Quijote, 14. – „[…] aus Mangel an Geschick und Gelehrsamkeit“.

10 Don Quijote, 14. –[…] weil ich von Natur furchtsam bin, auch zu träge, um Autoren mühsam aufzusuchen, die das sagen, was ich wahrlich ohne sie sagen kann“.

Die Verdoppelung bezieht sich auch auf den weiter oben bereits thematisierten Originalitätsgrad des Romans. Dass dieser vom Erwartungshorizont des Lesers deutlich abweicht, sagt der Erzähler, wie wir gesehen haben, gleich zu Beginn des Prologs. Auch der zu ihm sprechende Freund betont den Originalitätsge-halt dieses Romans und bindet dies in ein Argument ein, welches sich aus der bisherigen Diskussion ableiten lässt. Er sagt nämlich, dass der Don Quijote eine Autorisierung durch gelehrsame Verweise auf klassische Autoren wie Aristo-teles oder Cicero gar nicht benötige, weil er ein Thema behandle, zu dem diese Autoren nichts zu sagen hätten. Die von Don Quijote kritisierten Ritterbücher stehen außerhalb des klassischen, regelbasierten Kanons. Indem das Buch von Cervantes sich den gängigen Diskursnormen auf diese Weise programmatisch verweigert, gewinnt der Text einen Freiraum, in dem er sich seine eigenen Re-geln vorgeben kann. Diesen Freiraum könnte man auch als Autonomie bezeich-nen, wobei hinzugefügt werden muss, dass es sich um eine relative Autonomie des Ästhetischen handelt, die noch nicht mit jener des späten 18.Jahrhunderts gleichzusetzen ist.

(3) Die dargelegten Mechanismen der Negation und der kommunikativen Verdoppelung tragen einerseits zur Analyse des herrschenden literarischen Kommunikationssystems bei und entwerfen andererseits jenen Freiraum, in dem sich der Don Quijote als ein durch relative Autonomie gekennzeichneter Text situieren kann. Anders, als es dem Erzähler vorschwebte, kann der Don Quijote gerade nicht „nackt und bloß“ in die Welt treten, sondern er bedarf der kommunikativen Einbettung. Der diese Einbettung leistende Prolog ist ein Anti- Prolog – ein Text, der, obwohl er kein Prolog sein möchte und über die Unmög-lichkeit des Prolog-Schreibens nachdenkt, am Ende doch die Funktion des Pro-logs übernimmt. Was hier in letzter Konsequenz vorgeführt wird, ist ein per­

formativer Selbstwiderspruch. Wir erinnern uns: Der Erzähler befindet sich in einer aporetischen Situation, in der er einerseits bestrebt ist, einen Prolog zu ver-fassen, andererseits aber daran gehindert wird, weil er angeblich nicht über die benötigte Gelehrsamkeit verfügt. Aus dieser Sackgasse befreit ihn die unerwar-tete Intervention seines Freundes. Dessen Wechselrede mit dem Erzähler ist eine Kommunikationssituation zweiten Grades, die sich auf die Kommunikations-situation ersten Grades thematisch rückbezieht. Indem der Text durch die einge-lagerte sekundäre Kommunikationssituation auf sich selbst Bezug nimmt, wird er zum explizit metapoetischen Text. Die diesem inhärente Paradoxie besteht darin, dass die sekundäre Kommunikationssituation die scheiternde Kommu-nikation auf der übergeordneten diegetischen Ebene supplementiert. Der Anti- Prolog wird also gerade dadurch zum Prolog, dass er die aus dem Scheitern des Prolog-Schreibens resultierende sekundäre Kommunikationssituation nicht nur wiedergibt, sondern geradezu für sich selbst eintreten lässt. Dieser performative Selbstwiderspruch antizipiert bestimmte Merkmale und Strukturen des nun fol-genden Romans.

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 94-99)