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Der Essai als performative Gattung der Selbstreflexion

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 81-84)

5. Michel de Montaigne: Les Essais

5.1 Der Essai als performative Gattung der Selbstreflexion

Die von Montaigne begründete Gattung des Essai (wörtlich bedeutet das ‚Ver-such‘) ist eine experimentelle Gattung. Sie zeichnet sich aus durch einen un-systematischen Diskurs, durch Digressionen und unerwartete Themenwechsel, durch radikale Subjektivierung.7 Der Autor verwendet ganz bewusst und pro-grammatisch die Ich-Form, wie man schon am Vorwort, „Au lecteur“, deutlich erkennt:

C’est icy un Livre de bonne foy, Lecteur. Il t’advertit dès l’entrée, que je ne m’y suis pro-posé aucune fin, que domestique et privée: je n’y ay eu nulle consideration de ton service, ny de ma gloire: mes forces ne sont pas capables d’un tel dessein. Je l’ay voué à la commo-dité particuliere de mes parens et amis: à ce que m’ayans perdu (ce qu’ils ont à faire bien tost) ils y puissent retrouver aucuns traicts de mes conditions et humeurs, et que par ce moyen ils nourrissent plus entiere et plus vifve, la connoissance qu’ils ont eu de moy. Si c’eust esté pour rechercher la faveur du monde, je me fusse paré de beautez empruntées.

Je veux qu’on m’y voye en ma façon simple, naturelle et ordinaire, sans estude et arti-fice: car c’est moy que je peins. Mes defauts s’y liront au vif, mes imperfections et ma forme naïfve, autant que la reverence publique me l’a permis. Que si j’eusse esté parmy ces nations qu’on dit vivre encore souz la douce liberté des premieres loix de nature, je t’asseure que je m’y fusse tres-volontiers peint tout entier, et tout nud. Ainsi, Lecteur, je

es in meiner Seele mit einem andren Winkel tue.“ (Michel de Montaigne, Essais. Erste mo-derne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a.M. 1998, 306)

6 Freilich ist zu bedenken, dass die Muße, von der in den Essais immer wieder die Rede ist, Inszenierungscharakter besitzt, wie Virginia Krause, Idle Pursuits. Literature and Oisi-veté in the French Renaissance, Newark/London 2003, 155, im Hinblick auf einen der wich-tigsten Quellentexte für Montaignes Vorstellung von Muße, nämlich De rerum natura von Lukrez, schreibt: „[…] Montaigne’s idea of idleness should not be taken as a reflection of his daily life. […] The hyperbolic idleness embodied by the Epicurean divinities in no direct way resembled Montaigne’s own busy life. But it did profoundly shape the representation of idle-ness in the Essais. The Essais thus function as a mediating structure between an imaginary of oisiveté, partly inaccessible, and the reality of Montaigne’s works and days.“

7 Bernd Häsner, „Dialog und Essay. Zwei ‚Weisen der Welterzeugung‘ an der Schwelle zur Neuzeit“, in: Klaus W. Hempfer (Hg.), Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedia­

logs, Stuttgart 2006, 141–203, 162.

suis moy-mesme la matiere de mon livre: ce n’est pas raison que tu employes ton loisir en un subject si frivole et si vain. A Dieu donq. De Montaigne, ce premier de Mars mil cinq cens quatre vingts.8

An diesem Vorwort wird die Betonung des Privaten und Subjektiven im Ge-gensatz zum Öffentlichen und Offiziellen deutlich erkennbar. Der Autor spricht vom häuslichen und privaten Ziel, das er sich gesetzt habe. Es gehe ihm nicht darum, Ruhm für sich zu gewinnen, und auch nicht, zumindest vorgeblich nicht, dem Leser einen Nutzen zu erbringen. Vielmehr sei es sein Ziel, von sich selbst, in seiner Unvollkommenheit und Hinfälligkeit, seinen Angehö-rigen und Freunden ein ungeschöntes Andenken zu hinterlassen. Der Autor selbst sei somit Gegenstand seines Buches. „Ainsi, Lecteur, je suis moy-mesme la matiere de mon livre: ce n’est pas raison que tu employes ton loisir en un sub-ject si frivole et si vain.“ Das private Ich als Gegenstand eines Buches, welches sich per definitionem an eine breitere Öffentlichkeit wendet, ist eine bis dahin in der Literatur selten auftretende Erscheinung. In Dantes Convivio (I, 2) etwa heißt es, dass man von sich selber nur unter zwei Bedingungen schreiben dürfe – entweder wenn es keine andere Möglichkeit gebe, einen drohenden Scha-den („grande infamia o pericolo“) abzuwenScha-den, oder aber, wenn man anderen durch die Vermittlung einer Lehre („per via di dottrina“) einen großen Nutzen erbringen könne. In den Dialogen der Renaissance schreiben manche Autoren von sich selbst oder lassen ihre Freunde und Bekannten an den Dialogen teil-nehmen. In diesen Fällen geht es aber nicht um die Darstellung von Privatheit und Subjektivität, sondern um die Inszenierung ritualisierter Gesellschafts-spiele im Zeichen der Muße.

8 Les Essais, 27. – „Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft. Sei gleich am Anfang gewarnt, daß ich mir damit kein anderes Ziel als ein rein häusliches und privates gesetzt habe. Auf deinen Nutzen war mein Sinn hierbei ebensowenig gerichtet wie auf meinen Ruhm – für beides reichen meine Kräfte nicht aus. Es ist vielmehr meinen Angehörigen und Freunden zum persönlichen Gebrauch gewidmet, damit sie, wenn sie mich verloren haben (was bald der Fall sein wird), darin einige meiner Wesenszüge und Lebensumstände wiederfinden und so die Kenntnis, die sie von mir hatten, zu einem anschaulicheren Bild vervollständigt bewahren können. Wäre es mein Anliegen gewesen, um die Gunst der Welt zu buhlen, hätte ich mich besser herausgeputzt und käme mit einstudierten Schritten da-herstolziert. Ich will jedoch, daß man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und all-täglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. Meine Fehler habe ich frank und frei aufgezeichnet, wie auch meine ungezwungene Lebensführung, soweit die Rücksicht auf die öffentliche Moral mir dies er-laubte. Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest. Nun, Gott befohlen!

Geschrieben zu Montaigne, am heutigen ersten März des Jahres eintausendfünfhundert-achtzig.“ (Essais, 5)

Bei Montaigne dagegen wird zum ersten Mal der Fokus programmatisch auf ein privates Ich gelegt, und es wird dabei von den üblichen expliziten Zweckset-zungen literarischer Texte Abstand genommen. Der Autor erklärt ausdrücklich, er wolle dem Leser nicht zu Diensten sein, ihm also keinen Nutzen erbringen.

Er schreckt ihn geradezu davon ab, sich mit seinem Text zu beschäftigen. Dies ist ein paradoxer Imperativ, ein performativer Selbstwiderspruch, denn wenn jemand ein Buch herstellt und es in den Raum öffentlicher Kommunikation ent-lässt, dann ist das Buch per se an Leser gerichtet und will rezipiert werden. Wenn nun im Vorwort des Buches gesagt wird: ‚Lies dieses Buch lieber nicht‘, entsteht ein grundsätzlicher Widerspruch, den der Rezipient normalerweise dahinge-hend interpretieren dürfte, dass er unter Missachtung des expliziten Rates im Gegenteil das Buch mit besonderer Neugier zu lesen beginnt.

Besonders interessant im vorliegenden Zusammenhang ist nun an dem zitier-ten Satz, dass in ihm das Wort „loisir“ (‚Muße‘) vorkommt. Es wurde ja schon darauf hingewiesen, dass die Entstehung des Buches selbst sich dem Rückzug des Autors aus der Welt des negotium verdankt – zumindest wird dies im Buch so in-szeniert. Auch die Lektüre eines solchen Textes setzt voraus, dass der Leser über die dazu erforderliche Muße verfügt. Dass Muße und Nicht-Muße aneinander gekoppelt sind, lässt sich indirekt aus der argumentativen Strategie des Vorwor-tes erschließen. Denn offenbar ist die Verwendung freier Zeit zur Lektüre eines Buches dann gerechtfertigt, wenn sich daraus ein Nutzen für den Leser ergibt.

Ein solcher Nutzen scheint tendenziell dann gegeben zu sein, wenn das Buch sich mit ‚wichtigen‘ Dingen wie Ruhm und Ehre, Öffentlichkeit, Repräsentation usw.

beschäftigt. Genau dies aber ist bei Montaigne nicht der Fall. Sein Buch unter-läuft somit programmatisch eine der Voraussetzungen literarischer Kommuni-kation im 16.Jahrhundert.

Nun ist es keineswegs so, dass man die ostentativen Bescheidenheitsbekun-dungen des Vorwortes für bare Münze nehmen muss. Zwar stimmt es durch-aus, dass das Ich der Essais eher als ein „schwaches Subjekt“ zu begreifen ist.9 Dies bedeutet indes nicht, dass der Text damit seine kommunikative Dimen-sion verlöre; auch das „schwache Subjekt“ der Essais möchte seinen Lesern et-was Relevantes mitteilen. Das Buch enthält sehr wohl Elemente des Nützlichen, nur eben in neuer, ungewöhnlicher Form. Wie Bernd Häsner gezeigt hat, ist ein sehr auffälliges und wichtiges Merkmal von Montaignes Essais die ihnen eigene Performativität. In ihnen komme es, so Häsner, zu einer Verschränkung von Darstellung und Reflexion über die Darstellung. Der Essai diene nicht der Ver-mittlung einer bereits gewussten Wahrheit oder Lehre, sondern er führe vor, wie bestimmte Denkweisen, Meinungen, Urteile, Haltungen eingenommen werden

9 So die These von Jörg Dünne, „Montaigne: Selbstpraxis als Differenzproduktion“, in:

Dünne, Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbst­

praxis in der Moderne, Tübingen 2003, 98–114.

können, und werde somit zugleich zum Ausdrucks- und zum Erzeugungsmodus dieser Urteile, Denkweisen und Haltungen.10 Die Rede über Gegenstände, der Entwurf von Theorien über diese Gegenstände und der Diskurs, in dem diese Rede und diese Theorien ihren Ort haben, verschränkten sich miteinander und würden gekoppelt an einen Diskurs des Subjekts über sich selbst. Die tastende, digressive, nichtdoktrinäre Schreibweise kann man als Ausdruck einer grundle-genden epistemologischen Skepsis deuten.

Diese epistemologische Skepsis ist in den Essais an eine intensive Reflexion über das Schreiben geknüpft. Hugo Friedrich zufolge hat Montaigne „zwei origi-nelle Leistungen vollbracht“: die „Schaffung des Essays“ und die „Ausbildung ei-nes hochentwickelten schriftstellerischen Bewußtseins, mit dem er Rechenschaft ablegt über sein essayistisches Schreiben“. Das schriftstellerische Bewusstsein Montaignes

[…] legt sich folgende Fragen vor: Warum schreibe ich, für wen schreibe ich, wie schreibe ich und warum gerade so? Es beschäftigt sich also mit der Sinnfrage, mit der Publikums-frage und mit der FormPublikums-frage. […] Seine Begründung des Schreibens bildet einen uner-läßlichen Teil der Gesamtreflexion über sein Ich, weil das Schreiben selber ein Hilfsmittel dieser Reflexion ist. […] In einem Maße – wie bisher noch nie – gehört hier das schrift-stellerische Bewußtsein zur Selbstanschauung der Individualität. Man kann sagen, daß die Essais einen durchlaufenden Kommentar ihrer selbst darstellen.11

5.2 Muße als Voraussetzung des Schreibens

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 81-84)