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Die Begegnung von Rittern und Schäfern als literarischen

Im Dokument Muße und Erzählen: (Seite 106-110)

6. Miguel de Cervantes: Don Quijote

6.4 Die Begegnung von Rittern und Schäfern als literarischen

Abschließend möchte ich die Kapitelfolge 11 bis 14 des Ersten Teiles betrach-ten.26 Hier begegnen Quijote und Sancho einer Gruppe von Hirten. Sie begeben sich also in den semantischen Raum der Hirten- und Schäferdichtung, der uns ja schon aus Sannazaros Arcadia als Raum der Muße und des Erzählens vertraut ist. Diese Episode markiert einen Einschnitt auf der syntagmatischen Ebene des Romans. Martín de Riquer, der Herausgeber der hier zitierten Ausgabe, spricht von einer Parenthese in der Erzählung. Er weist darauf hin, dass die bisherigen Ereignisse und Begegnungen auf Wegen in der Ebene stattfanden, während die Schäfer-Episode im Gebirge situiert ist.27 Der Handlungsraum der Schäfer-Epi-sode ist also topographisch in seiner Differenz deutlich markiert. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass hier eine eingeschobene Erzählung, das heißt eine Erzählung zweiten Grades, mitgeteilt wird.28 Damit erfolgt auch eine Än-derung des Erzählmodus. Nachdem sie mit den Hirten das Mahl geteilt haben, hebt Quijote zu einem Lob des Goldenen Zeitalters an.29 Damals habe es noch kein Eigentum gegeben, Friede, Freundschaft und Eintracht hätten geherrscht.

Die Liebesregungen der Seele hätten sich direkt und einfach artikulieren kön-nen, sie seien nicht umständlich in rhetorischen Ornat verpackt worden. Es habe keinen Betrug, keine Täuschung, keine Bösartigkeit usw. gegeben. Junge Frauen hätten ohne Gefahr allein unterwegs sein können. In der Gegenwart aber sei dies nicht mehr so, und daher bedürfe es der fahrenden Ritter, um die Jungfrauen, die Witwen und Waisen und Hilfsbedürftigen zu beschützen. Quijote sieht also die moderne Welt als Verfallsstufe des Goldenen Zeitalters an; die Aufgabe der

Rit-26 Zur kompositionstechnischen Funktion dieser Episode vgl. Henry W. Sullivan/Nilda Rivera, „El género pastoril y el episodio de Marcela como módulo narratológico: de nuevo sobre la elaboración del primer Quijote“, in: Roger Friedlein/Gerhard Poppenberg/Annett Volmer (Hg.), Arkadien in den romanischen Literaturen. Zu Ehren von Sebastian Neumeister zum 70.Geburtstag, Heidelberg 2008, 281–294.

27 „La estancia de Don Quijote con los cabreros, que ocupa los capítulos 11 a 14, ofrece un acusado paréntesis en la narración y presenta un escenario y un ambiente distintos a lo que hasta ahora ha ocurrido y a lo que ocurrirá luego (aventura de los yangüeses, sucesos de la venta, aventuras de los rebaños, de los batanes y de los galeotes), que son episodios que acaecen en caminos más o menos frecuentados y en tierra llana. Los cabreros, en cambio, viven en las asperezas de la sierra.“ (Don Quijote, 112)

28 Zu den Erzählungen zweiten Grades im Quijote vgl. Hans-Jörg Neuschäfer, „Selbst-bestimmung und Identität im Don Quijote. Das Zusammenspiel von Haupthandlung und eingeschobenen Geschichten“, in: Wolfgang Matzat/Bernhard Teuber (Hg.), Welterfahrung – Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Litera­

tur der frühen Neuzeit, Tübingen 2000, 293–303 und Joachim Küpper, „Die novelas inter­

caladas in Cervantes’ Quijote“, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), 387–421.

29 Don Quijote, 114–116.

ter ist für ihn darin begründet, dass sie durch ihr Wirken das Goldene Zeitalter wenigstens partiell wiederherstellen sollen.

Die vermeintliche Hirten- und Schäferidylle, welche Quijotes Ausführun-gen zum Goldenen Zeitalter ausgelöst hat, erweist sich indes im FolAusführun-genden als brüchig. So erfährt man die unglückliche Liebesgeschichte von Marcela und Grisóstomo. Dieser, auf dessen Werbung Marcela nicht eingegangen ist, hat sich aus Verzweiflung das Leben genommen. Diese Liebesgeschichte folgt den Mus-tern der Schäferliteratur, insofern beide Protagonisten keine echten Schäfer sind.

Marcela ist die Tochter von Guillermo el Rico, die als Schäferin verkleidet ist;

der sie liebende Grisóstomo ist eigentlich Student in Salamanca gewesen. Die pastorale Situation steht also unter dem Zeichen einer Rückkehr zum einfachen Leben, eines freiwilligen Verzichts auf Kultur und Zivilisation. Diese inszenierte Einfachheit geht jedoch nicht auf, weil – ähnlich wie schon in Sannazaros Arca­

dia – die Konflikte des nicht-pastoralen Lebens in die Idylle eindringen. Marcela ist die Tochter eines reichen Bauern, die von vielen Männern aufgrund ihrer Schönheit bewundert und begehrt wird. Entgegen den üblichen Gepflogenhei-ten jedoch überlässt es der Vater seiner Tochter, ihren künftigen Ehemann selbst auszuwählen.

Damit weicht er von dem Modus der Verheiratung ab, der bis dahin weit ver-breitet war, nämlich der von den Eltern auf der Grundlage vornehmlich ökono-mischer Interessen gestifteten Zwangsheirat. Michel Foucault hat dieses Bezie-hungsmodell als „dispositif d’alliance“ bezeichnet.30 Im Übergang zur Neuzeit tritt das Allianzdispositiv in Konkurrenz zu dem „dispositif de sexualité“, einem Beziehungsmodell, welches nicht mehr auf primär ökonomischen Interessen be-ruht, sondern Zärtlichkeit, Liebe und Sexualität in den Mittelpunkt stellt. Logi-sche Konsequenz dieses Modells ist, dass die Heirat der freiwilligen Zustimmung der Partner bedarf. Genau dieses Modell steht bei Cervantes zur Diskussion. Die

‚Schäferin‘ Marcela rechtfertigt ihr Verhalten gegenüber Grisóstomo nach dessen Beerdigung, indem sie Folgendes sagt:

Hízome el cielo, según vosotros decís, hermosa, y de tal manera, que, sin ser poderosos a otra cosa, a que me améis os mueve mi hermosura, y por el amor que me mostráis, decís, y aun queréis, que esté yo obligada a amaros. Yo conozco, con el natural entendimiento que Dios me ha dado, que todo lo hermoso es amable; mas no alcanzo que, por razón de ser amado, esté obligado lo que es amado por hermoso a amar a quien le ama.31

30 Michel Foucault, Histoire de la sexualité, I, Paris 1976, 143.

31 Don Quijote, 141f. – „Der Himmel hat mich, wie Ihr sagt, schön geschaffen und so, daß Ihr, ohne weitere bewegende Ursache, mich meiner Schönheit wegen liebt, und die Liebe, die Ihr mir zeigt, soll, wie Ihr sagt, ja fordert, mich zwingen, Euch wiederzulieben.

Durch den natürlichen Verstand, den Gott mir lieh, begreife ich, daß alles Schöne liebens-würdig ist; aber das ist mir unverständlich, wie die, weil man sie liebt, gezwungen sei, den zu lieben, der sie als eine Schönheit liebt“.

Liebe bedarf der Zustimmung beider Partner. Es genügt nicht, geliebt zu werden, man muss auch selber lieben. Dieses grundlegende Problem der Liebe – das Pro-blem der doppelten Kontingenz32 –, welches auch schon in älteren Zeiten bestand (der Canzoniere von Petrarca ist ja eine Klage über die Abweisung der Liebe des Sprechers durch die von ihm geliebte Laura), wird in dem Moment virulent, da das Scheitern der Liebe nicht mehr aufgehoben werden kann in überindividu-ellen Wert- und Ordnungssystemen. Die Transformation der Gesellschaft geht einher mit dem Verlust solcher Wert- und Ordnungssysteme und führt zur Ent-deckung der individuellen Verantwortlichkeit (dies heißt nicht, dass eine solche gesellschaftliche Modernisierung in Spanien um 1600 schon vollzogen gewesen wäre, es heißt nur, dass solche Probleme von Cervantes erkannt und behandelt worden sind, offenbar weil sie sich in der damaligen Gesellschaft abzuzeichnen begannen). Damit aber stellt sich das Problem der angemessenen Reaktion auf individuelles Verhalten im Zusammenhang mit Intimbeziehungen. Die Ge-schichte von Marcela und Grisóstomo ist ein drastisches Beispiel solch moder-ner Individualität. Der abgewiesene Liebende begeht – wie später etwa der junge Werther und seine literarischen Nachfolger – Selbstmord, und die von vielen Männern begehrte, da schöne und reiche Frau beharrt auf ihrer Selbstbestim-mung, indem sie sagt: „Yo, como sabéis, tengo riquezas propias y no codicio las ajenas; tengo libre condición y no gusto de sujetarme“.33

Interessant ist nun, dass ausgerechnet Don Quijote, der Vertreter der feu-dalen Ritterwelt, die ‚moderne‘, selbstbestimmt agierende Frau Marcela be-schützt. Diese Diskrepanz wird noch verstärkt durch die Grabschrift, die man für Grisóstomo gefunden hat34 und aus welcher hervorgeht, dass die altherge-brachten Versatzstücke der Liebeslyrik der modernen Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden. Die Hirten-Episode zeigt nicht zuletzt auch sehr deutlich die Diskrepanz zwischen der Sprache und den Codierungsformen der Literatur auf der einen Seite, und den Verhältnissen der Wirklichkeit auf der anderen Seite, auf. Dies wird insbesondere an der Canción des Grisóstomo deutlich, welche zu Beginn des 14. Kapitels zitiert wird. Der Hirte, der diese Canción vorliest, stellt fest, dass die in ihr enthaltenen Aussagen über die Schäferin Marcela nicht mit anderen Zeugnissen über ihr Verhalten übereinstimmen. Die Erklärung für diese Diskrepanz ist folgende: Der Autor des Gedichts habe dieses in Abwesen-heit der von ihm geliebten Marcela geschrieben. In dieser Situation der Absenz seien ihm die durch seine Eifersucht bewirkten vorgestellten grausamen Hand-lungen der Geliebten zu realen Grausamkeiten geworden.35 Die Kraft der

Ima-32 Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frank-furt a.M. 1995 (1.Aufl. 1982), 35f.

33 Don Quijote, 143. – „Wie Ihr wißt, besitze ich eigenes Vermögen und begehre kein fremdes; ich bin frei, und es gefällt mir nicht, untertan zu werden“.

34 Don Quijote, 144.

35 Don Quijote, 140.

gination erzeugt somit beim Liebenden eine mentale Wirklichkeit, die für ihn zur Wahrheit wird, obwohl sie nicht mit den Fakten übereinstimmt, und die als solche dann in den poetischen Text eingeht. Dieser ist also nicht eine mimetische Abbildung der Wirklichkeit, sondern korreliert mit mentalen Dispositionen und Gefühlszuständen des Dichters.

Ein anderes Beispiel für die Diskrepanz zwischen poetischer Fiktion und Wirklichkeit ist die Reaktion der Hirten auf Don Quijotes Erklärungen bezüg-lich seines Ritteramtes. Im 13. Kapitel fragen ihn die Schäfer, warum er in ihrer friedlichen Landschaft Rüstung und Waffen trage. Er erläutert ihnen, dass er ein fahrender Ritter sei und dass er als solcher bewaffnet sein müsse. Daraufhin hal-ten ihn die Schäfer für verrückt. Dieser Eindruck wird sodann noch verstärkt, als Don Quijote zu einer ausführlichen literaturgeschichtlichen Erklärung anhebt, indem er von den Heldentaten des Königs Artus und der Ritter der Tafelrunde berichtet, die er zu seinen Vorbildern und Vorläufern erklärt.

Die gesamte Episode ist somit lesbar als Begegnung zweier literarisch vorge-formter Welten, der des fahrenden Ritters und der der Schäfer. Die Schnittmenge dieser beiden einander im Prinzip fremden Welten ist die Liebessemantik, die im vorigen untersucht wurde. In beiden Fällen wird außerdem jeweils die Diskre-panz zwischen literarischer Modellierung und außerliterarischer Wirklichkeit als Problem sichtbar gemacht. Eingebettet ist die gesamte Episode in eine Situa-tion des räumlich-zeitlichen Rückzugs, in der der Ritter und die Schäfer nicht handeln, sondern sich gegenseitig etwas erzählen und gemeinsam über das Er-zählte und über das Erzählen reflektieren. Muße und Erzählen kommen also auch hier in einen grundlegenden Reflexionszusammenhang.

7. Jean-Jacques Rousseau: La Nouvelle Héloïse

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