Satz 5.5 Seif :I ⊂R−→R. Hatf in x0∈(a, b)⊂I ein lokales Maximum (Minimum) und ist f in x0 differenzierbar, so gilt f′(x0) = 0.
Beweis. Sei f(x0) ein lokales Maximum von f. Dann existiert einε >0, so dass
f(x)−f(x0)
x−x0 ≤0 f¨ur allex > x0 mit|x−x0|< ε und
f(x)−f(x0)
x−x0 ≥0 f¨ur allex < x0 mit|x−x0|< ε.
F¨ur die einseitigen Grenzwerte folgt daraus:
lim
x→x+0
f(x)−f(x0)
x−x0 ≤0, und lim
x→x−0
f(x)−f(x0)
x−x0 ≥0. (⋆) Da der Grenzwertf′(x0) = lim
x→x0
f(x)−f(x0)
x−x0 nach Voraussetzung existiert, muss gelten f′(x0) = lim
x→x+0
f(x)−f(x0)
x−x0 = lim
x→x−0
f(x)−f(x0) x−x0 .
Aus (⋆) folgt dannf′(x0) = 0. ⊓⊔
Aus f′(x0) = 0 folgt im Allgemeinen nicht, dass f in x0 ein lokales Maximum oder Mi-nimum hat. Wir betrachten zum Beispielf(x) =x3. Dann ist f′(0) = 0, aber 0 ist kein lokaler Extremwert vonf. Zu beachten ist außerdem, dass die Aussage von Satz 5.5 nicht f¨ur die Randpunkte des DefinitionsbereichesI von f gilt.
Satz 5.6 (Satz von Rolle) Seif : [a, b]−→Rstetig und auf (a, b) differenzierbar. Wei-terhin geltef(a) =f(b). Dann existiert ein Punktx0 ∈(a, b) mit f′(x0) = 0.
Beweis. Ist f konstant auf [a, b], so ist die Behauptung trivial. Ist f nicht konstant, so existiert einx1∈(a, b), so dass entweder
f(x1)> f(a) =f(b) oder f(x1)< f(a) =f(b).
Wir betrachten zun¨achst den ersten Fall. Daf : [a, b]−→Rstetig und [a, b] kompakt ist, nimmtf auf [a, b] ein globales Maximum an. Das Maximum liegt wegen obiger Annahme nicht auf den Randpunkten. Folglich existiert ein x0 ∈(a, b) mit
f(x0) = max{f(x)|x∈[a, b]}.
Nach Satz 5.5 folgt dannf′(x0) = 0. Der Beweis f¨ur den zweiten Fall verl¨auft analog mit
Hilfe des globalen Minimums. ⊓⊔
Satz 5.7 (Verallgemeinerter Mittelwertsatz von Cauchy)
Seien f, g: [a, b]−→ R stetig und auf (a, b) differenzierbar. Dann existiert ein ξ ∈(a, b) mit
(f(b)−f(a))·g′(ξ) = (g(b)−g(a))·f′(ξ).
5.2 Die Mittelwerts¨atze der Differentialrechnung und Anwendungen 159
Beweis. Wir betrachten die Funktion ϕ: [a, b]−→R:
ϕ(x) := f(b)−f(a)
·g(x)− g(b)−g(a)
·f(x), x∈[a, b].
Dann istϕstetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b) und es gilt ϕ(a) =f(b)g(a)−g(b)f(a) =ϕ(b).
Nach dem Satz von Rolle existiert einξ∈(a, b) mit ϕ′(ξ) = 0. Wir erhalten somit 0 =ϕ′(ξ) = (f(b)−f(a))g′(ξ)−(g(b)−g(a))f′(ξ).
⊓
⊔ Satz 5.8 (Mittelwertsatz von Lagrange)
Sei f : [a, b] −→ R stetig und auf (a, b) differenzierbar. Dann existiert ein ξ ∈ (a, b), so
dass f(b)−f(a)
b−a =f′(ξ).
Beweis. Folgt aus Satz 5.7 mit g(x) :=x. 2 Geometrisch besagt dieser Mittelwertsatz, dass ein ξ ∈ (a, b) existiert, so dass der Anstieg der Tangente in (ξ, f(ξ)) gleich dem Anstieg der Se-kante durch (a, f(a)) und (b, f(b)) ist.
-6
R R
a b
•
•
•
ξ
Wir werden den Mittelwertsatz von Lagrange jetzt anwenden, um Aussagen ¨uber den Kurvenverlauf der durch f : I ⊂ R −→ R definierten Kurve Γ = graph(f) im R2 zu machen.
Satz 5.9 Seif : (a, b)−→R eine differenzierbare Funktion3. Dann gilt:
1. Ist f′(x)≥0 f¨ur alle x∈(a, b), so ist f monoton wachsend.
Ist f′(x)>0 f¨ur alle x∈(a, b), so ist f streng monoton wachsend.
2. Ist f′(x)≤0 (<0)f¨ur alle x∈(a, b), so istf (streng) monoton fallend.
3. Ist f′ ≡0 auf (a, b), so ist f konstant.
Beweis. Seien x1, x2 ∈(a, b) und x1 < x2. Wir wenden den Mittelwertsatz von Lagrange auff|[x1,x2]an. Nach diesem Satz existiert ein ξ ∈(x1, x2), so dass
f′(ξ) = f(x2)−f(x1) x2−x1
.
Dax2−x1>0, folgen die Behauptungen aus Satz 5.8. ⊓⊔
3 Sofern nichts anderes gesagt wird, lassen wir im Folgenden bei offenen Intervallen (a, b) aucha, b∈ {±∞}
zu.
Als Anwendung beweisen wir zun¨achst die folgende Charakterisierung der Exponential-funktion.
Folgerung 5.1 Seien a, c ∈R gegebene Konstanten. Dann existiert genau eine differen-zierbare Funktionf :R−→Rmitf′=cf undf(0) =a. Diese Funktion ist gegeben durch f(x) =aecx f¨ur allex∈R.
Beweis. Die Funktion f : R −→ R mit f(x) := aecx erf¨ullt f′(x) = caecx = cf(x) und f(0) = a. Sei nun f : R −→ R eine beliebige Funktion mit f′ = cf und f(0) = a. Wir setzenF(x) :=f(x)·e−cx. Dann gilt
F′(x) =f′(x)·e−cx−c·f(x)·e−cx= (cf−cf)e−cx= 0.
Somit ist F konstant. Da F(0) =a, gilt a=f(x)·e−cx und folglich f(x) =aecx f¨ur alle
x∈R. ⊓⊔
Satz 5.10 Sei f : (a, b) −→ R eine differenzierbare Funktion, die in x0 ∈(a, b) zweimal differenzierbar ist. Es gelte
1. f′(x0) = 0 und
2. f′′(x0)<0 (bzw. f′′(x0)>0).
Dann hatf in x0 ein isoliertes lokales Maximum (bzw. Minimum), das heißt, es existiert einε >0, so dass f(x)< f(x0) (bzw.f(x)> f(x0)) f¨ur allex∈(a, b)mit0<|x−x0|< ε.
Beweis. Wir beweisen nur den Fallf′′(x0)<0. Der Beweis f¨urf′′(x0)>0 verl¨auft analog.
Aus
f′′(x0) = lim
x→x0
f′(x)−f′(x0) x−x0
<0 folgt, dass einδ >0 existiert, so dass
f′(x)−f′(x0) x−x0
<0
f¨ur alle x∈(a, b) mit 0<|x−x0|< δ. Daf′(x0) = 0, erh¨alt man f′(x)<0, f¨ur allex > x0 mitx−x0 < δ und f′(x)>0, f¨ur allex < x0 mitx0−x < δ.
Nach Satz 5.9 ist daher f|(x0−δ,x0) streng monoton wachsend, w¨ahrend f|(x0,x0+δ) streng monoton fallend ist. Somit hatf inx0 ein isoliertes lokales Maximum. ⊓⊔
5.2 Die Mittelwerts¨atze der Differentialrechnung und Anwendungen 161
Definition 5.5.Eine Funktion f : (a, b)−→R heißt
• konvex, falls f¨ur allex1, x2 ∈(a, b) und λ∈(0,1)
f(λx1+ (1−λ)x2)≤λf(x1) + (1−λ)f(x2).
• konkav, falls f¨ur allex1, x2 ∈(a, b) und λ∈(0,1)
f(λx1+ (1−λ)x2)≥λf(x1) + (1−λ)f(x2).
Ist f konvex, so liegt die Kurve graph(f) := {(x, f(x)) | x ∈ (a, b)} ⊂ R2 f¨ur beliebige x1, x2 ∈(a, b) unterhalb der Geraden durch (x1, f(x1)) und (x2, f(x2)). Ist f konkav, so liegt graph(f) f¨ur beliebige x1, x2 ∈ (a, b) oberhalb der Geraden durch (x1, f(x1) und (x2, f(x2)).
-6
R R
•
•
x1 x2
f ist konkav
f(x1) f(x2)
-6
R R
•
•
x1 x2
f ist konvex
f(x1) f(x2)
Satz 5.11 Sei f : (a, b)−→R zweimal differenzierbar. Dann gilt:
1. f ist genau dann konvex, wenn f′′(x)≥0 f¨ur alle x∈(a, b).
2. f ist genau dann konkav, wenn f′′(x)≤0 f¨ur allex∈(a, b).
Beweis. Wir zeigen nur die erste Behauptung. Der Beweis der zweiten Behauptung wird analog gef¨uhrt.
(⇐= ) Seif′′(x)≥0 f¨ur allex∈(a, b). Nach Satz 5.9 istf′ auf (a, b) monoton wachsend.
Seien x1, x2 ∈ (a, b), x1 < x2 und λ∈ (0,1). Wir setzen x := λx1+ (1−λ)x2. Dann ist x1 < x < x2. Nach dem Mittelwertsatz existieren ein ξ1 ∈(x1, x) und ein ξ2 ∈(x, x2), so
dass f(x)−f(x1)
x−x1
=f′(ξ1)≤f′(ξ2) = f(x2)−f(x) x2−x . Dax−x1= (1−λ)(x2−x1) und x2−x=λ(x2−x1), erhalten wir
f(x)−f(x1)
1−λ ≤ f(x2)−f(x)
λ .
Daraus folgt
f(x)≤λf(x1) + (1−λ)f(x2).
Somit istf konvex.
(=⇒) Sei f konvex. Wir nehmen an, dass ein x0 ∈ (a, b) existiert mit f′′(x0) < 0. Sei c:=f′(x0) undϕ: (a, b)−→Rdie Funktion ϕ(x) :=f(x)−c(x−x0). Dann istϕzweimal
differenzierbar und es giltϕ′(x0) = 0 undϕ′′(x0)<0. Nach Satz ??hatϕdaher inx0 ein isoliertes lokales Maximum, das heißt, es existiert einh > 0 mit [x0−h, x0+h]⊂(a, b), so dass ϕ(x0−h)< ϕ(x0) und ϕ(x0+h)< ϕ(x0). Deshalb gilt
f(x0) =ϕ(x0)> 1
2(ϕ(x0−h) +ϕ(x0+h)) = 1
2(f(x0−h) +f(x0+h)).
Mitλ= 12, x1=x0−h und x2 =x0+h folgt, dass f nicht konvex ist.
Definition 5.6.Sei f : (a, b) −→ R eine stetige Funktion. Der Punkt x0 ∈ (a, b) heißt Wendepunkt vonf, wenn ein Intervall (x0−ε, x0+ε)⊂(a, b) existiert, so dass entweder f|(x0−ε,x0) konkav undf|(x0,x0+ε) konvex ist oder Umgekehrtes gilt.
Satz 5.12 Sei f : (a, b) ⊂ R −→ R zweimal stetig differenzierbar. Ist x0 ∈ (a, b) ein Wendepunkt von f, so giltf′′(x0) = 0.
Beweis. Die Behauptung folgt aus Satz 5.11. ⊓⊔
Wir haben den Mittelwertsatz der Differentialrechnung f¨urreellwertigeFunktionen bewie-sen. F¨ur komplexwertige oder vektorwertige Funktionen gilt der Mittelwertsatz in dieser Form nicht mehr. Wir betrachten als Beispiel die Funktionf : [0,2π]−→R2:
f(t) := (cos(t),sin(t)).
Es gilt f(2π)−f(0) = (0,0), also f(2π)2π−−0f(0) = (0,0) . F¨ur die Ableitung erhalten wir f′(t) = (−sin(t),cos(t)). Somit ist ||f′(t)||= 1, d.h. f′(t)6= (0,0) f¨ur alle t∈[0,2π].
Es gilt aber der folgende Mittelwertsatz f¨ur vektorwertige (und damit auch f¨ur komplex-wertige) Funktionen:
Satz 5.13 (Mittelwertsatz f¨ur vektorwertige Funktionen)
Sei (E,k · k) ein normierter Vektorraum, f : [a, b]⊂R −→ E stetig und auf (a, b) diffe-renzierbar. Dann existiert ein Punkt ξ∈(a, b), so dass
kf(b)−f(a)k ≤(b−a)kf′(ξ)k.
Beweis. 1. Zum Beweis des Satzes ben¨otigen wir das folgende Lemma:
Lemma 5.7.Sei f : [a, b]−→ E in x0 ∈ (a, b) differenzierbar, und seien (αk) und (βk) Folgen in [a, b] mitαk< x0< βk, die beide gegen x0 konvergieren. Dann gilt
klim→∞
f(βk)−f(αk) βk−αk
=f′(x0).
Beweis. Wir betrachten yk:= ββk−x0
k−αk ∈(0,1). Dann gilt:
f(βk)−f(αk)
βk−αk −f′(x0)
= yk
|{z}
beschr.
·
f(βk)−f(x0)
βk−x0 −f′(x0)
+ (1−yk)
| {z }
beschr.
·
f(αk)−f(x0)
αk−x0 −f′(x0)
.
F¨ur k→ ∞ konvergieren beide Summanden gegen Null. ⊓⊔
5.2 Die Mittelwerts¨atze der Differentialrechnung und Anwendungen 163
2. Wir beweisen nun die Aussage des Satzes. Sei L:= b−3a undM :=kf(b)−f(a)k. Wir betrachten die Funktiong: [a, a+ 2L]⊂R−→E, definiert durchg(s) :=f(s+L)−f(s).
Dann gilt:
g(a) +g(a+L) +g(a+ 2L) =f(b)−f(a) und somit
M ≤ kg(a)k+kg(a+L)k+kg(a+ 2L). (⋆)
Wir ¨uberlegen uns zun¨achst, dass eins1 ∈(a, a+2L) existiert mitkg(s1)k ≥ 13M. Nehmen wir an, dass f¨ur alle s∈(a, a+ 2L) die Ungleichung kg(s)k < 13M gilt. Da die Funktion g: [a, a+ 2L]−→E und die Normk · kstetig sind, erhalten wir auch
kg(a)k ≤ 1
3M und kg(a+ 2L)k ≤ 1 3M.
Dies widerspricht (⋆), es gibt also ein s1 ∈(a, a+ 2L) mit kg(s1)k ≥ 13M.
Sei nunt1 :=s1+L∈(a, b). Dann gilt:
a) a < s1 < t1 < b, b) t1−s1 =L= b−3a,
c) kg(s1)k=kf(t1)−f(s1)k ≥ 13M.
Wir wiederholen nun diese Konstruktion, indem wir statt des Intervalls [a, b] das Intervall [s1, t1] betrachten. Dadurch erhalten wir Folgen (sn) und (tn), so dass gilt
[sn, tn]⊂(sn−1, tn−1), tn−sn= 1
3n(b−a), kf(tn)−f(sn)k ≥ 1 3n ·M.
Wir haben also eine Intervallschachtelung (In:= [sn, tn]), bei der die L¨ange der Intervalle In gegen 0 konvergiert. Nach dem Satz ¨uber die Intervallschachtelung existiert dann ein ξ∈Rmit T∞
n=1
In={ξ}. Es gilt somit
sn−→ξ, tn−→ξ, sn< ξ < tn
und kf(tn)−f(sn)k
tn−sn ≥ M
(tn−sn)·3n = M b−a. Aus Lemma 5.7 folgt nun
f′(ξ) = lim
n→∞
f(tn)−f(sn) tn−sn
und damit
kf′(ξ)k= lim
n→∞
f(tn)−f(sn) tn−sn
= lim
n→∞
kf(tn)−f(sn)k tn−sn
≥ M
b−a = kf(b)−f(a)k b−a .
⊓
⊔
Satz 5.14 Sei f : I ⊂ R −→ E eine differenzierbare Funktion mit beschr¨ankter Ablei-tung. Dann ist die Funktion f lipschitzstetig. Insbesondere ist jede stetig differenzierbare Funktion f : [a, b]⊂R−→E lipschitzstetig.
Beweis. Sei f : I −→ E differenzierbar mit beschr¨ankter Ableitung. Dann existiert eine Konstante C ∈ R+ mit kf′(x)k ≤ C f¨ur alle x ∈ I. Seien x1, x2 ∈ I mit x1 < x2. Dann folgt aus dem Mittelwertsatz 5.13, dass einξ ∈(x1, x2) existiert, so dass
kf(x2)−f(x1)k ≤ kf′(ξ)k ·(x2−x1)≤C· |x2−x1|.
Dies aber bedeutet, dass f lipschitzstetig mit der Lipschitz-Konstanten C ist. Sei nun f : [a, b] −→ E stetig differenzierbar. Dann ist f′ stetig, d.h. f′ ∈ C([a, b], E). Da [a, b]
kompakt ist, existiert
kf′k∞:= max{kf′(x)k |x∈[a, b]} ∈ R.
In diesem Fall k¨onnen wirC:=kf′k∞setzen. ⊓⊔
Abschließend beweisen wir mit Hilfe des verallgemeinerten Mittelwertsatzes von Cauchy die Regeln von L’Hospital. Diese Regeln liefern ein einfaches Verfahren, Grenzwerte von Br¨uchen zweier Funktionen zu bestimmen, wenn bei Limesbildung Ausdr¨ucke der Form 00 oder ∞∞ auftreten.
Satz 5.15 (Die Regeln von L’Hospital - (1))
Seix0∈[a, b]⊂Rund seien f, g: (a, b)\ {x0} −→R differenzierbare Funktionen mit 1. lim
x→x0
f(x) = lim
x→x0
g(x) ∈ {0,±∞}, 2. g′(x)6= 0 f¨ur alle x∈(a, b)\ {x0}, 3. lim
x→x0
f′(x)
g′(x) =c ∈ R ∪ {±∞}. Dann gilt lim
x→x0 f(x) g(x) =c.
Beweis. 1. Fall: lim
x→x0
f(x) = lim
x→x0
g(x) = 0.
Wir setzen f und g in x0 durch f(x0) := g(x0) := 0 fort. Dann sind f, g : (a, b) −→ R stetig. Wir betrachten nun eine gegen x0 konvergente Folge (xn) in (a, b)\ {x0}. Dann sind f, g : [xn, x0] −→ Rstetig und auf (xn, x0) differenzierbar (falls xn < x0, ansonsten betrachten wir [x0, xn]). Nach dem verallgemeinerten Mittelwertsatz 5.7 existiert einξn∈ (xn, x0) (bzw.ξn∈(x0, xn)), so dass
f(xn)g′(ξn) =g(xn)f′(ξn).
Dag′(x)6= 0 f¨ur x∈(xn, x0) (bzw. (x0, xn)), ist g(xn)6= 0 (Satz von Rolle). Damit folgt f(xn)
g(xn) = f′(ξn) g′(ξn).
5.2 Die Mittelwerts¨atze der Differentialrechnung und Anwendungen 165
Da (xn) gegenx0 konvergiert, ist auch (ξn) gegen x0 konvergent und wir erhalten
nlim→∞
f(xn)
g(xn) = lim
n→∞
f′(ξn)
g′(ξn) = lim
x→x0
f′(x) g′(x) =c.
2. Fall: lim
x→x0
g(x) = +∞ und lim
x→x0
f′(x) g′(x) = 0.
Sei (xn) eine gegen x0 konvergente Folge in (a, b) mit xn < x0 und ε > 0. Nach Voraus-setzung existiert ein x∗ ∈(a, x0), so dass
g(x)>0 und
f′(x) g′(x)
< ε f¨ur allex∈(x∗, x0).
Durch Ausmultiplizieren pr¨uft man folgende Formel nach:
f(xn)
g(xn) = f(x⋆)
g(xn) +f(xn)−f(x⋆) g(xn)−g(x⋆) ·
1− g(x⋆) g(xn)
. (⋆)
Da (xn) gegen x0 konvergiert, gibt es ein n0 ∈ N, so dass xn ∈ (x⋆, x0) f¨ur alle n≥ n0. Nach verallgemeinertem Mittelwertsatz existiert einξn∈(x∗, xn) mit
f(xn)−f(x∗)
g(xn)−g(x∗) = f′(ξn) g′(ξn). Eingesetzt in Gleichung (⋆) ergibt dies
f(xn) g(xn) ≤
f(x⋆) g(xn) +
f′(ξn) g′(ξn)
| {z }
<ε
1− g(x⋆) g(xn)
und damit
f(xn) g(xn) ≤
f(x∗) g(xn) +ε
1− g(x∗) g(xn) . Da (g(xn)) gegen +∞ konvergiert, folgt
nlim→∞
f(x∗) g(xn)
= 0 und lim
n→∞
g(x⋆) g(xn) = 0.
Wir erhalten:
lim sup
n→∞
f(xn) g(xn) ≤ε.
Daεbeliebige Werte annehmen kann, folgt daraus
nlim→∞
f(xn) g(xn) = 0 f¨ur alle gegenx0 konvergente Folgen (xn) mit xn< x0.
Analog behandelt man gegen x0 konvergente Folgen (xn) mit xn > x0 und erh¨alt das gleiche Resultat. Dies zeigt, dass
xlim→x0
f(x) g(x) = 0.
3. Fall: lim
x→x0g(x) = +∞ und lim
x→x0 f′(x)
g′(x) =c∈R beliebig.
Wir betrachten die Funktion f1(x) :=f(x)−c·g(x). Dann ist
xlim→x0
f1′(x)
g′(x) = lim
x→x0
f′(x)
g′(x) −c= 0.
Wir wenden den 2. Fall an und erhalten
xlim→x0
f1(x) g(x) = 0.
Daraus folgt
xlim→x0
f(x)
g(x) =c+ lim
x→x0
f1(x) g(x) =c.
4. Fall: lim
x→x0f(x) = lim
x→x0g(x) = +∞ und lim
x→x0 f′(x)
g′(x) = +∞. Dann gilt lim
x→x0 g′(x)
f′(x) = 0 und aus dem 2. Fall folgt sofort lim
x→x0 g(x)
f(x) = 0. Nach Vorausetzung sindf undg in einer Umgebung von x0 positiv. Folglich gilt lim
x→x0
f(x)
g(x) = +∞. 5. Fall: lim
x→x0
f(x) = lim
x→x0
g(x) = +∞ und lim
x→x0
f′(x)
g′(x) =−∞.
Dieser Fall kann nicht auftreten, da sonst f oder g in einer Umgebung von x0 monoton fallend w¨aren und somit nicht gegen +∞konvergieren w¨urden. ⊓⊔
Satz 5.16 (Die Regeln von L’Hospital - (2))
Seien f, g: (a,∞)−→Rdifferenzierbare Funktionen mit g′(x)6= 0 f¨ur allex∈(a,∞). Ist
xlim→∞f(x) = lim
x→∞g(x)∈ {0,±∞} und lim
x→∞
f′(x)
g′(x) =c∈R ∪ {±∞}, so gilt
xlim→∞
f(x) g(x) =c.
Beweis. OBdA. sei a >0. Wir betrachten die Funktionen f1(x) =f(x1) und g1(x) =g(x1) auf dem Intervall (0,1a). Dann gilt
f1′(x) =−1 x2f′1
x
und g′1(x) =−1 x2g′1
x 6= 0 und daher
xlim→0+
f1′(x)
g1′(x) = lim
x→0+
f′(x1) g′(1x)
Vor.= c.
Mit Satz 5.15 folgt dann
xlim→∞
f(x)
g(x) = lim
x→0+
f1(x) g1(x) =c.
⊓
⊔
Mit Hilfe der Regeln von L’Hospital k¨onnen wir Grenzwerte von Funktionen und damit auch von Folgen in vielen F¨allen leichter ausrechnen, als es mit den Methoden der vorigen Kapitel m¨oglich war.