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Die Entstehung der Wissenschaft als soziale Institution

Im Dokument Hochschule und Gesell-schaft (Seite 56-60)

2. Multidisziplinärer Kontext

2.3 Die Entstehung der Wissenschaft als soziale Institution

Die wissenschaftliche Gemeinschaft (scientific community) (Kuhn 2014 [1962]) wird als Grundeinheit des Wissenschaftssystems bezeichnet. Es wird davon ausgegangen, dass Wissenschaft nicht nur isoliert von Einzelforschern betrieben wird, sondern eine soziale Aktivität ist, »die in unterschiedlichen sozialen Einheiten unterschiedlicher Größe […] stattfindet.« (Felt u.a. 1995:

57) Die Frage, was Wissenschaftler dazu motiviert zusammenzuarbeiten und beispielsweise gemeinsam Zeitschriftenartikel in Fachzeitschriften zu veröf-fentlichen, hat bereits die Anfänge der Wissenschaftssoziologie beschäftigt.

Sie ist Teil der Erforschung des eben beschriebenen sozialen Prozesses.

Allerdings ist einzuwenden, dass bisher wenige empirische Studien zu for-mellen und inforfor-mellen Beziehungen zwischen Kooperationspartnern durchgeführt wurden (Kapitel 3 und 10).

Als Gründervater der Wissenschaftssoziologie gilt der amerikanische Soziologe Robert K. Merton (1910–2003). Als einer der ersten betrachtete er die Wissenschaft als soziales System, in der Wissenschaftler gemeinsam in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft agieren (Felt u.a. 1995: 59). In seinen zahlreichen Arbeiten ging er der Frage nach, welche spezifischen ins-titutionellen Gegebenheiten innerhalb einer Gesellschaft vorherrschen müs-sen, um Wissenschaft als Institution entstehen zu lassen (Weingart 2013 [2003]: 16). Ausgangspunkt von Mertons Überlegungen war Max Webers These, dass der Wert wissenschaftlicher Wahrheit ein Produkt bestimmter Kulturen und nicht naturgegeben sei (Weingart 2001: 36; Weber 2002 [1919]). Laut Merton ist eine nachhaltige Entwicklung der Wissenschaft nur in Gesellschaften mit einer demokratischen Ordnung möglich, die das Ethos

der Wissenschaft integriert hat. Durch seine Beschreibung des »wissen-schaftlichen Ethos«, das heißt institutioneller Imperative der Wissenschaft, gleichbedeutend mit Prinzipien und Normen wissenschaftlicher Kommu-nikation, versuchte Merton zu beschreiben, inwiefern wissenschaftliches Wissen eine Sonderstellung im Vergleich zu anderen Wissensformen (Ab-schnitt 2.2) einnimmt. In seinem Aufsatz Science and Technology in a Democratic Order (1973b [1942]) wurden vier Werte und Normen wissenschaftlicher Kommunikation formuliert, abgeleitet von den Zielen und Methoden der Wissenschaft.

»An examination of the ethos of modern science is only a limited introduction to a larger problem: the comparative study of the institutional structure of science.«

(Merton 1973b [1942]: 269)

Sie werden ausgedrückt in Form von Vorschriften, Verboten, Vorlieben und Befugnissen, die bestimmen, was als wissenschaftlich gilt. Diese institutio-nalisierten Werte und Normen werden von Wissenschaftlern unterschied-lich stark internalisiert, vermittelt durch Prinzipien und Beispiele und sie werden durch Sanktionen verstärkt – sie prägen den wissenschaftlichen Geist und binden einzelne Wissenschaftler aneinander. Jedoch werden die institutionellen Imperative nicht systematisch in Form von Gesetzen erfasst, ihre Auslegung liegt in der Hand der Wissenschaftler selbst.

1. Universalismus: Die Bewertung wissenschaftlicher Forschung soll unab-hängig von persönlichen und sozialen Merkmalen eines Wissenschaftlers erfolgen. Rasse, Nationalität, Religion, soziale Klassenzugehörigkeit oder persönliche Qualitäten dürfen nicht zur Annahme oder Ablehnung von Forschungsergebnissen herangezogen werden.

2. Kommunismus: Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung gelten als Produkt kooperativer Forschungsarbeit und sollen grundsätzlich allen Mitgliedern der Gemeinschaft uneingeschränkt zur Verfügung stehen.

Es besteht die Pflicht zur Veröffentlichung von Ergebnissen. Das Besitz-recht (intellektuelles Eigentum) an diesen Ergebnissen bezieht sich aus-schließlich auf Anerkennung und Wertschätzung innerhalb der wissen-schaftlichen Gemeinschaft.

3. Uneigennützigkeit (Desinteresse): Wissenschaft ist gekennzeichnet durch ech-te Leidenschaft, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen, pure Neu-gier und einer altruistischen Sorge um das Wohlergehen der Menschheit.

Sie erfordert Objektivität und Desinteresse an den

Forschungsergeb-nissen (öffentlicher und überprüfbarer Charakter der Wissenschaft), un-abhängig von ihrem Prestige.

4. Organisierter Skeptizismus: Dieser ist ein methodologisches und insti-tutionelles Mandat der Wissenschaft. Ein endgültiges Urteil soll erst nach einer genauen Überprüfung der Fakten auf Basis empirischer und logi-scher Kriterien erfolgen.

Das hier vorgestellte Ethos der Wissenschaft und die Beschreibung des Handelns von Wissenschaftlern gilt heute weitestgehend als überholt (Felt u.a. 1995: 61ff.). Es wird davon ausgegangen, dass sich die Wissenschaft an sich und auch die leitenden Normen der im System arbeitenden Wissen-schaftler gewandelt haben. Jedoch bezeichnet es immer noch die idealtypi-schen Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikation und die Voraus-setzungen, wie es zur Produktion gesicherten Wissens kommen kann (Weingart 2013 [2003]: 30). Neuere Papiere zur Beschreibung bestimmter Verhaltensregeln von Wissenschaftlern wurden von der DFG (2013 [1998]) und der Max-Planck-Gesellschaft (2000 [1997]) im Zuge der Diskussion um Betrugsfälle in der Forschung in den späten 1990er Jahren herausgegeben (Weingart 2001: 39). Ein Bezug auf Mertons Werte und Normen guter wissenschaftlicher Praxis wird in beiden Dokumenten deutlich. Bei Nicht-einhaltung der festgelegten Regeln drohen Sanktionen.

Das Interesse der Wissenschaftler an Priorität bleibt ambivalent. Dieses Bedürfnis wird nicht nur durch sein Engagement für die Forschung begrün-det, sondern auch durch die Institution an sich erzeugt. Das Belohnungs-system der Wissenschaft beeinflusst die Struktur der Wissenschaft durch eine ungleiche Verteilung von Chancen und ungleichem Zugang zu (finan-ziellen) Ressourcen zur Produktion wissenschaftlichen Wissens. Hervorra-gende Wissenschaftler mit hoher Reputation erhalten überproportional mehr Anerkennung für ihre wissenschaftliche Leistung als junge Wissen-schaftler, oder jene mit geringerer Reputation. Dieser Effekt wurde von Merton (1968; 1988) als Matthäus-Effekt beschrieben. Besonders deutlich wird dies, wenn das Originalitätsgebot der Wissenschaft als Erklärungs-faktor herangezogen wird. Nur neues Wissen zählt, für bereits bekanntes Wissen gibt es keine Anerkennung (Kuhn 2014 [1962]). Als zentraler Steue-rungsmechanismus wissenschaftlicher Kommunikation greift das Peer-Review-Verfahren – die Beurteilung wissenschaftlicher Arbeiten vor der Veröffentlichung durch Fachkollegen (Abschnitt 1.3). Es gilt als zentraler Entscheidungsmechanismus über das Erscheinen neuen Wissens und die Verteilung von Ressourcen. Erst publizierte und öffentlich zugängliche

wis-senschaftliche Arbeiten (Zeitschriftenartikel, Monographien, Sammelbände) gehen in den Kanon wissenschaftlichen Wissens ein und werden somit von außen legitimiert (Merton 1957: 655; Merton 1988: 620).

Die absolute Anzahl an Zeitschriftenartikeln, die Wissenschaftler im Verlauf ihrer Karriere publizieren, schwankt enorm. Anknüpfend an den von Merton beschriebenen Matthäus-Effekt bildet Alfred J. Lotkas Häufig-keitsverteilung wissenschaftlicher Produktivität die stabile Sozialstruktur der Wissenschaft und das in ihr herrschende Belohnungssystem sehr gut ab, wenn angenommen wird, dass auch denjenigen Wissenschaftlern, die am produktivsten sind, die größte Reputation zuteil wird (Weingart 2013 [2003]:

26). Lotka (1926) geht davon aus, dass sich die Zahl der Autoren, die n Artikel produzieren, umgekehrt proportional zu n2 aller publizierender Au-toren verhält. Die Verteilung folgt somit einer Potenzfunktion: viele Autoren publizieren wenig, aber nur wenige viel (Cole/Cole 1973). Es herrscht also eine große Ungleichheit unter Wissenschaftlern (Allison 1980):

Im Durchschnitt publiziert ein Wissenschaftler im Verlauf seiner Karriere drei bis sechs Artikel. Lediglich ein Prozent aller Wissenschaftler publizieren mehr als zehn und nur die erfolgreichsten schaffen es, 40 oder mehr Artikel pro Jahr zu veröffentlichen (Zuckerman 1988: 528). In vielen Fachbereichen erfolgt die Verbreitung wissenschaftlichen Wissens jedoch nicht nur über die Publikation von Zeitschriftenartikeln. Konferenzbeiträge, Monografien, Beiträge in Sammelbänden, Berichte, Patente und viele andere Formen wis-senschaftlichen Outputs werden in dieser Arbeit allerdings nicht berück-sichtigt, da Zeitschriftenartikel in den STEM+-Fächern, neben Patenten, die wichtigste Form zur Distribution wissenschaftlichen Wissens sind.

Der seit 1901 vergebene Nobelpreis gilt als prestigeträchtigster Preis, der innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft vergeben wird. Er zeichnet herausragende Wissenschaftler aus, die auf ihrem Gebiet substantielle Entdeckungen35 gemacht haben. Er gilt somit als guter Gradmesser für wissenschaftliche Leistungsfähigkeit (Hurley 1997). Einschränkend ist anzu-merken, dass dieser Preis lediglich in Forschungsfeldern der Naturwissen-schaften (Chemie, Physik), Medizin und Literatur vergeben wird. Der wohl

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35 Entdeckungen gelten als wichtiges Event und anzustrebendes Ziel für (Natur-) Wissenschaftler. Sie stehen im engen Zusammenhang mit Prestige und ihre Wurzeln reichen zurück bis in die wissenschaftliche Gemeinschaft. Entdeckungen gelten als guter Gradmesser für wissenschaftlichen Fortschritt, jedoch ist es nicht einfach den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, wann eine Entdeckung gemacht wurde. Es handelt sich um einen zeitlichen Prozess, der viele Wissenschaftler umfasst und kann meist nicht auf eine Einzelperson zurückgeführt werden (Kuhn 1962).

berühmteste, Friedensnobelpreis, wird für außergewöhnliche Friedens-bemühungen, Konfliktlösungen oder den besonderen Einsatz zur Einhal-tung der Menschenrechte verliehen. Seit 1968 werden zusätzlich herausra-gende Arbeiten in den Wirtschaftswissenschaften geehrt (www.nobelprize.

org). In ihrer Studie zum wissenschaftlichen Belohnungssystem haben Cole und Cole (1967) die Publikationsaktivität von Nobelpreisgewinnern mit Wisenschaftlern, die diesen Preis nicht bekommen haben, verglichen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Preisträger im Durchschnitt 58 Publikationen vorzuweisen haben, andere Wissenschaftler im Vergleich lediglich 5,5.

Dieser Befund deckt sich mit Zuckermans (1988) Aussage, dass lediglich die herausragendsten Wissenschaftler extrem produktiv in Bezug auf wissen-schaftliche Veröffentlichungen sind.

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