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6 Diskussion der Ergebnisse

6.1 Reaktionen auf die Fehlgeburt

6.1.1 Die psychische und körperliche Symptomatik nach der Fehlgeburt

6.1.2.3 Die depressive Verarbeitung der Fehlgeburt

Beschreibung des Verarbeitungsmusters „depressive Verarbeitung der Fehlgeburt“

Frauen, deren Umgang mit der Fehlgeburt durch ein depressives Verarbeitungsmuster gekenn-zeichnet ist, nehmen unseren Studienergebnissen zufolge überwiegend Attributionen auf Merk-male der eigenen Person, das eigene Schicksal oder psychischen Stress vor. Sie ziehen sich, ähnlich wie die Frauen mit pessimistisch-traurigem Verarbeitungsmodus, von ihrer Umwelt zurück oder reagieren ärgerlich und gereizt auf ihre Umwelt, grübeln häufig, verfallen in Tagträume und Wunschdenken und versuchen, den Verlust zu bagatellisieren oder zu

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nen. Im Gegensatz zur pessimistisch-traurigen Verarbeitung fehlen Zeichen von Trauer oder einer Auseinandersetzung mit dem Verlust.

Das Muster der depressiven Verarbeitung ist überwiegend geprägt durch

internale Attribuierungen: Skalen „eigene Person“ und „Stress in der Schwanger-schaft“ des Fragebogens zur Attribution der Fehlgeburt,

Vermeidungsstrategien: Skalen „Depressive Verarbeitung“ und „Bagatellisierung und Wunschdenken“ des FKV, Skala „schuldhafte Verarbeitung“ der MTS und

Gefühlen von Ärger und Enttäuschung.

Beurteilung der Adaptivität einer „depressiven Verarbeitung der Fehlgeburt“

Eine depressive Verarbeitung der Fehlgeburt geht nach unseren Befunden mit einem erhöhten Risiko für einen pathologischen Trauerverlauf einher. Sie ist darüber hinaus mit einer ausge-prägten Symptomatik in der neuen Schwangerschaft in Form erhöhter Depressivität und situati-ver sowie schwangerschaftsbezogener Ängste assoziiert und somit ein prognostisch ungünstiger Verarbeitungsmodus. Einen Zusammenhang zwischen depressiven Verarbeitungsmustern und einer schlechten psychischen Anpassung an die Fehlgeburt weisen Beutel (1998), Madden (1986), James & Kristiansen (1996) und Dorfer et al. (1999) nach.

Fehlgeburten stellen eine Verlusterfahrung dar, die bei bestehender psychischer Disposition (depressive Neurosenstruktur oder depressogene Schemata, vgl. Kapitel 2.3.5.2) symptomaus-lösend sein kann. Nach den psychodynamischen Theorien der Depression werden unbewusste Konflikte durch eine reale Trennungs- oder Verlusterfahrung wiederbelebt. In das Bewusstsein drängende Emotionen wie Hass, Wut und Enttäuschung über frühere Versagungen können durch die Wiederbelebung des Konfliktes nicht mehr verdrängt werden und werden über reg-ressivere Abwehrmechanismen der Wendung gegen das Selbst, der Verleugnung und Affektiso-lation auf Kosten einer depressiven Symptomatik unbewusst gehalten (vgl. Kapitel 2.3.5.2).

Der Beck’schen Depressionstheorie zufolge werden durch eine traumatische Situation negative Kognitionen ausgelöst, die eine depressive Symptomatik bedingen und aufrechterhalten. Auf dem Hintergrund einer generell negativen Sicht von sich selbst, der Welt und der Zukunft wird dem Misserfolg (hier der Fehlgeburt) eine enorme Bedeutung zugemessen und auf andere Situationen (z. B. Schwangerschaften) generalisiert. Die Ursache für das negative Ereignis suchen diese Frauen nur bei sich.

Depressive Verarbeitungsmuster sind unseren Befunden nach bei solchen Frauen besonders häufig zu beobachten, die durch verschiedene Umstände starke Schuldzuweisungen an sich selbst vornehmen. Auch James und Kristiansen (1995) beobachten einen Zusammenhang zwi-schen Attributionen auf den eigenen Charakter und das eigene Verhalten und depressiven

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wältigungsstrategien wie sozialem Rückzug und Selbstanklagen. Als Teil depressiver Verarbei-tungsmodi können internale Attributionen sowohl Ursache als auch Folge depressiver Bewälti-gungsmechanismen sein. Aufgrund der ausgeprägten Schuldgefühle vermeiden die Frauen ver-mutlich eine Auseinandersetzung mit dem Verlust und können sich eine Trauer und Enttäuschung über das Ereignis kaum zugestehen, was den depressiven Verarbeitungsmodus in Gang setzt (Wendung gegen das Selbst, durch Selbstanklagen verstärkte Schuldgefühle). Auch wenn Frauen mit depressivem Verarbeitungsmuster mittelfristig eine vorübergehende Stabili-sierung ihres psychischen Gleichgewichts erlangen können, besteht für sie gerade aufgrund der ausgeprägten Selbstanklagen ein erhöhtes Risiko dafür, dass Schuldgefühle und Selbstanklagen mit Eintritt einer neuen Schwangerschaft wiederbelebt werden und zu psychischen Befindens-störungen führen.

Einflussfaktoren, die eine „depressive Verarbeitung der Fehlgeburt“ begünstigen

Das Muster der depressiven Verarbeitung wird bei den Teilnehmerinnen unserer Studie durch eine psychische Vorerkrankung, durch die Ungeplantheit der Schwangerschaft und durch eine mangelnde Unterstützung durch den Partner bzw. eine bestehende emotionale Belastung durch Trennung oder Scheidung wahrscheinlicher. Diese Risikofaktoren werden auch in anderen Un-tersuchungen diskutiert (Lasker & Toedter, 1991; Neugebauer et al., 1992; Janssen et al., 1997;

Lin & Lasker, 1996; Deckardt et al., 1994; vgl. Kapitel 2.3.4.3).

Im Falle einer psychischen Erkrankung, die bereits vor der Fehlgeburt bestand, handelt es sich um ein Fortbestehen der psychischen Störung mit neurotischen Abwehrmechanismen, die hier als depressive Verarbeitung erfasst wird. Es ist aber auch denkbar, dass das Ereignis der Fehl-geburt erneut zum Auslöser einer bereits remittierten Störung wird.

Schuldzuweisungen an die eigene Person sind dann besonders häufig zu beobachten, wenn eine ambivalente Haltung gegenüber der Schwangerschaft bestand (Beutel et al., 1995; Stirtzinger et al., 1995). Ambivalente Gefühle gegenüber der Schwangerschaft können Folge ungeplanten, möglicherweise auch ungewollten Schwangerschaft sein. Letztere erhöhen unseren Analysen zufolge das Risiko einer depressiven Verarbeitung und internaler Attributionen. In diesem Zu-sammenhang sollten auch die Folgen zurückliegender Schwangerschaftsabbrüche erwähnt wer-den, obwohl sie kein signifikanter Prädiktor für eine depressive Verarbeitung der Fehlgeburt sind. Frühere Schwangerschaftsabbrüche können Schuldgefühle nach Fehlgeburten ebenfalls verstärken, besonders auch deshalb, weil die operativen Eingriffe bei Schwangerschaftsabbrü-chen und Fehlgeburten identisch sind. So berichten Klock et al. (1997) bei Abortpatientinnen mit zurückliegenden Schwangerschaftsabbrüchen stärker ausgeprägte internale Attributionen für die Fehlgeburt. In unserer Untersuchung sagen frühere Schwangerschaftsabbrüche eine er-höhte Depressivität in der auf die Fehlgeburt folgenden Schwangerschaft voraus. Vermutlich

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handelt es sich um durch die Schwangerschaft wieder belebte Schuldgefühle, die sich auf die frühere Entscheidung zur Abtreibung beziehen.

Partnerschaftsprobleme wie Trennungen oder mangelnde Unterstützung können das Verlassen-heitsgefühl der Frauen verstärken und depressive Bewältigungsweisen fördern. Umgekehrt kann eine geringe Unterstützung durch den Partner ein Resultat des sozialen Rückzugs bzw.

einer negativ verzerrten Wahrnehmung der Frauen sein.

6.1.2.4 Zusammenfassung

Bei Frauen mit pathologischen Trauerverläufen lassen sich überwiegend maladaptive Verarbei-tungsmuster der pessimistisch-traurigen Verarbeitung oder der depressiven Verarbeitung der Fehlgeburt beobachten. Der Verarbeitungsmodus der aktiven Auseinandersetzung mit der Fehl-geburt trägt hinsichtlich der psychischen Anpassung der Frauen nach der FehlFehl-geburt adaptiven Charakter, da er nicht mit längeranhaltenden Befindensstörungen assoziiert ist und das Risiko für schwangerschaftsbezogene Ängste in einer neuen Gravidität verringert. Wir gehen aufgrund unserer Ergebnisse davon aus, dass bislang nach Trauerfällen beschriebene Trauerverläufe mit starker Traurigkeit und Trauerarbeit nach Frühaborten in der Regel nicht oder nur wenig ausge-prägt erwartet werden können, da es sich bei so frühen Schwangerschaftsverlusten nicht um den Verlust eines bereits deutlich repräsentierten Objektes handelt, sondern vielmehr um eine Situa-tion des Versagens des eigenen Körpers, der eigenen Fähigkeit, Mutter zu werden. Der Verlust stellt eher eine narzisstische Kränkung dar, die unseren Befunden zufolge am ehesten mit Stra-tegien des Selbstaufbaus, der Ablenkung, der Suche nach entlastenden Ätiologiemodellen für die Fehlgeburt und der Suche nach Trost und partnerschaftlicher Unterstützung bewältigt wer-den kann (aktive Auseinandersetzung mit der Fehlgeburt). Wird nach Frühaborten eine ausge-prägte Traurigkeit, meist verbunden mit großer Verlustangst und depressiven Symptomen, beo-bachtet (pessimistisch-traurige bzw. depressive Verarbeitung der Fehlgeburt), so ist dies als Zeichen einer neurotischen Abwehr der erfahrenen Versagungssituation des Schwangerschafts-verlustes zu verstehen, die mit einem Risiko für langanhaltende psychische Befindensstörungen einhergehen kann. Eine gute Unterstützung durch den Partner der Frauen stellt sich als wertvol-le Ressource für adaptive Verarbeitungsmuster nach der Fehlgeburt dar. Eine noch bestehende emotionale Belastung durch zurückliegende Ereignisse wie Schwangerschaftsverluste, Trauer-fälle oder Trennungen erhöht die Wahrscheinlichkeit maladaptiver Verarbeitungsmuster nach der Fehlgeburt ebenso wie eine psychische Vorerkrankung oder ambivalente Einstellung zur Schwangerschaft.

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6.2 Die neue Schwangerschaft

Hypothese 2:

Schwangere mit einer bzw. mehreren vorangegangenen Fehlgeburten weisen in den ersten Wochen einer erneuten Schwangerschaft eine gegenüber anamnestisch nicht belasteten Schwangeren erhöhte körperliche und psychische Symptomatik auf. Frauen mit rezidivie-renden und habituellen Aborten sind in einer neuen Schwangerschaft stärker durch psychi-sche und körperliche Symptome belastet als Frauen nach einer ersten Fehlgeburt. Psychoso-ziale und kognitive Merkmale der Schwangeren stehen in Zusammenhang zur Ausprägung der psychischen und körperlichen Symptomatik in einer neuen Schwangerschaft.

Diese Annahmen lassen sich durch die Daten der vorliegenden Untersuchung weitest gehend bestätigen. Die Schwangeren mit zurückliegenden Fehlgeburten weisen gegenüber den Schwangeren der Kontrollgruppe erhöhte schwangerschaftsbezogene Ängste und, vor dem Ü-berschreiten des kritischen Zeitpunktes der zurückliegenden Fehlgeburten, auch erhöhte Zu-standsängste auf. Sie klagen häufiger als anamnestisch nicht belastete Schwangere über Schwangerschaftsbeschwerden und sind ebenfalls häufiger von Schwangerschaftskomplikatio-nen in Form von Blutungen betroffen. Entgegen unseren Annahmen sind jedoch die durch-schnittliche Depressivität und allgemeinen Körperbeschwerden in einer neuen Schwangerschaft gegenüber der Vergleichsgruppe nicht erhöht. Dies trifft selbst auf Schwangere mit zurücklie-genden rezidivierenden oder habituellen Aborten nicht zu.

In der Schwangerschaft lassen sich faktorenanalytisch drei wesentliche Bewältigungsdimensio-nen beschreiben: eine „Auseinandersetzung mit der Schwangerschaft“ eine „vermeidendes Verhalten in der Schwangerschaft“ und eine „innere Beziehung zum Kind“. Die „innere Bezie-hung zum Kind“ spielt im ersten Schwangerschaftstrimenon eine untergeordnete Rolle und wird deshalb nicht weiterführend interpretiert. Ausgeprägte depressive Symptome, allgemeine Körperbeschwerden, schwangerschaftsbezogene und Zustandängste im ersten Trimenon einer neuen Schwangerschaft stehen in engem Zusammenhang zu vermeidendem Verhalten der Frau-en mit Abortanamnese. SchwangerschaftsbezogFrau-ene Ängste stehFrau-en zugleich in positiver Bezie-hung zu einer Auseinandersetzung der Frauen mit ihrer Schwangerschaft. Zwischen der Häu-figkeit von subjektiven Schwangerschaftsbeschwerden und Schwangerschaftskomplikationen auf der einen Seite und psychischen Befindensstörungen der Schwangeren und ihren Bewälti-gungsversuchen auf der anderen Seite kann kein Zusammenhang hergestellt werden. In den folgenden Kapiteln werden zunächst die beiden Bewältigungsmuster in der Schwangerschaft genauer beschrieben und ihr Bezug zur Symptomatik der Schwangeren mit zurückliegenden Aborten diskutiert (Kapitel 6.2.1). Das darauf folgende Kapitel widmet sich der körperlichen und psychischen Symptomatik der Frauen in der auf die Fehlgeburt folgenden

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schaft. Zunächst wird ein Bezug zu Befunden anderer Untersuchungen hergestellt, dann werden ätiopathogenetische Überlegungen dargelegt und anschließend Risikofaktoren beschrieben, die Einfluss auf die Ausprägung der Symptomatik nehmen (Kapitel 6.2.2).