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6 Diskussion der Ergebnisse

6.1 Reaktionen auf die Fehlgeburt

6.2.2 Symptomatik der Abortpatientinnen im ersten Drittel einer neuen

6.2.2.2 Ängste in einer neuen Schwangerschaft

Schwangerschaftsbezogene Ängste sind auf konkrete Gefährdungen der Schwangerschaft ge-richtet (Angst vor Blutungen; Angst, dem Kind zu schaden). Zustandsängste hingegen haben keinen solchen Fokus. Sie sind vielmehr ein Maß „für die Intensität eines emotionalen Zu-stands, der gekennzeichnet ist durch Anspannung, Besorgtheit, Nervosität, innere Unruhe und Furcht vor zukünftigen Ereignissen“ (Laux et al., 1981, S.49). Allerdings sind sie im Gegensatz zu Trait-Ängsten abhängig von Merkmalen der Situation, in der die Befragung erfolgt (in unse-rem Falle die Schwangerschaft). Dieser Zustand der Anspannung und Nervosität ist nur bei denjenigen der von uns befragten Schwangeren mit Abortanamnese signifikant ausgeprägt, die den kritischen Zeitpunkt der letzten Fehlgeburt(en) noch nicht überschritten haben. Das bestä-tigt die klinischen Beobachtungen vieler Ärzte, die gerade bei Frauen mit rezidivierenden Abor-ten einen Kreislauf aus Angst und Abort beschreiben: Um den Zeitpunkt des letzAbor-ten Abortes

45 Auch Läpple & Krumbacher (1988) berichten ausgeprägtere State-Ängste nach rezidivierenden Aborten. Aller-dings führten sie die Befragungen zum Befinden in der Schwangerschaft retrospektiv nach einem erneutem Schwangerschaftsverlust durch.

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nehme die Angst vor einer erneuten Fehlgeburt zu und nicht selten erfolge in dieser Zeit ein erneuter Abort (z. B. Rauchfuß, 1999; Läpple, 1988; Hertz & Molinski, 1986).

Ängste in der neuen Schwangerschaft können unterschiedlichen Ursprungs sein. In der Regel resultieren sie aus der Erfahrung von Hilflosigkeit und Nichtkontrollierbarkeit während des plötzlichen Ereignisses der Fehlgeburt. Eine Häufung nichtkontrollierbarer negativer Lebenser-eignisse kann zu erhöhten Erwartungsängsten bezüglich zukünftiger negativer ErLebenser-eignisse füh-ren (vgl. Kapitel 6.1.1). Die Ängste bestehen bereits vor Eintreten einer neuen Schwangerschaft und sind mit der Antizipation eines erneuten Verlustes verbunden (Prettyman et al., 1993; Beu-tel et al., 1995). Bewältigungsversuche, die auf eine Einordnung des Ereignisses in einen Sinn-zusammenhang und die Wiedererlangung innerer Sicherheit gerichtet sind, modulieren die Ausprägung der Ängste. So reduziert unseren Befunden zufolge eine Auseinandersetzung mit der Fehlgeburt schwangerschaftsbezogene Ängste in der neuen Schwangerschaft, während eine depressive Verarbeitung der Fehlgeburt schwangerschaftsbezogene und Zustandsängste ver-stärkt.

Es können jedoch auch unbewusste, neurotische Konflikte zu Angstsymptomen führen. In Ka-pitel 2.2.2 wurden verschiedene unbewusst gehaltene Konflikte beschrieben, die mit Eintritt einer Schwangerschaft aktualisiert werden und zur Symptombildung führen können. Gerade bei Schwangeren mit Fehlgeburtsanamnese ist eine aus der narzisstischen Kränkung durch den Verlust resultierende Ambivalenz gegenüber der neuen Schwangerschaft denkbar, die in der Angstsymptomatik über Mechanismen der Verschiebung und Somatisierung abgewehrt wird.

Welche Bedeutung sollte man den bei Abortpatientinnen besonders ausgeprägten Ängsten in der Frühschwangerschaft beimessen? Diese Frage wird in der Literatur kontrovers diskutiert.

Wir fanden keine Belege für einen Zusammenhang zwischen Angst und erneuter Fehlgeburt bzw. drohendem Abort (Blutungen). Auch in unserer Untersuchung kein Zusammenhang zwi-schen schwangerschaftsbezogenen und Zustandsängsten auf der einen Seite und Schwanger-schaftskomplikationen in Form von Blutungen auf der anderen Seite nachweisen. Empirische Befunde zum Zusammenhang zwischen Ängsten in der Schwangerschaft und Komplikationen in späteren Schwangerschaftsstadien (vorzeitige Wehentätigkeit und Blasensprung) wurden in Kapitel 2.3.8 beschrieben (Rauchfuß, 2004; Standley et al., 1979; Wimmer-Puchinger, 1992;

Whadwha et al., 1993; Rizzardo et al., 1988). Allerdings werden Schwangerschaftsängste in diesen Studien meist erst nach dem ersten Schwangerschaftstrimenon erhoben, einem Zeit-punkt, zu dem die Schwangerschaftsängste der Abortpatientinnen unserer Untersuchung bereits deutlich abnehmen.

Rizzardo et al. (1988) stellen bei gesunden Schwangeren fest, dass sich diejenigen Frauen, die im weiteren Verlauf der Schwangerschaft Komplikationen erleiden, von Frauen ohne Schwan-gerschafts- oder Geburtskomplikationen dadurch unterscheiden, dass sie im ersten

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schaftstrimenon unter ausgeprägten Zustandsängsten (STAI) leiden, welche zum sechsten Schwangerschaftsmonat hin abnehmen. Rauchfuß & Trautmann berichten einen Zusammen-hang zwischen schwangerschaftsbezogenen Ängsten und Schwangerschaftskomplikationen nur bei gesunden Schwangeren. In der Gruppe der anamnestisch durch Fehl-, Früh- oder Totgebur-ten belasteTotgebur-ten Schwangeren lasse sich ein solcher Zusammenhang hingegen nicht nachweisen (Rauchfuß & Trautmann, 1997). Verknüpft man die Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen mit den Befunden unserer Untersuchung, lassen sich folgende Überlegungen ableiten:

Schwangerschaftsbezogene Ängste

Die ausgeprägten schwangerschaftsspezifischen Ängste der Frauen mit vorangegangenen Fehl-geburten sind isolierte Ängste, die ausschließlich auf mögliche Schwangerschaftskomplikatio-nen gerichtet sind. Sie stellen weniger irrationale neurotische Ängste dar als vielmehr realisti-sche Befürchtungen, da sie an die real erfahrene, als bedrohlich erlebte Situation der Fehlgeburt anknüpfen46. Sie sind Zeichen einer mit der neuen Schwangerschaft eintretenden Erwartungs-angst vor einer erneuten Fehlgeburt und daher bei Frauen, die durch wiederholte Schwanger-schaftsverluste stark verunsichert sind, besonders ausgeprägt. Wie schon erwähnt, besteht gera-de bei Frauen mit wiegera-derholten Schwangerschaftsverlusten eine starke Fixierung auf gera-den Kinderwunsch, welche die subjektive Bedeutsamkeit einer neuen Schwangerschaft erhöht und dementsprechend Erwartungsängste verstärkt.

Da sich schwangerschaftsbezogene Ängste auf eine reale Bedrohung richten, es sich also um begründete Ängste handelt, müssen sie nicht unbedingt als pathologisch eingeschätzt werden.

So können sich im Falle einer positiven Auseinandersetzung mit der Schwangerschaft die schwangerschaftsbezogenen Ängste erhöhen, da sich die Frauen über bestehende Risiken be-wusster werden. Umgekehrt können ausgeprägte Schwangerschaftsängste einen bebe-wussteren Umgang mit der Schwangerschaft veranlassen. Indem sich die Frauen beispielsweise stärker schonen oder Vorsorgeuntersuchungen häufiger in Anspruch nehmen, kann sich dieses Verhal-ten protektiv auf den weiteren Schwangerschaftsverlauf auswirken (Rauchfuß & Trautmann, 1997).

Der potentiell protektive Charakter von Schwangerschaftsängsten bei Abortpatientinnen wird durch die Ergebnisse unserer Befragung unterstrichen: Auseinandersetzungsstrategien sind nur mit schwangerschaftsbezogenen Ängsten assoziiert, nicht jedoch mit allgemeineren Zustands-ängsten. Stark schwangerschaftsbezogene Ängste können aber auch mit vermeidendem Verhal-ten in der Schwangerschaft einhergehen, was sich über RisikoverhalVerhal-ten wie Nikotin- oder Al-koholgenuss und ein Vermeiden ärztlicher Untersuchungen u. U. negativ auf den weiteren

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Schwangerschaftsverlauf auswirken kann. Es sind demnach nicht die erhöhten schwanger-schaftsbezogenen Ängste selbst, die das Risiko für Schwangerschaftskomplikationen erhöhen, sondern der Grad ihrer Ausprägung und der Umgang der Frauen mit diesen Ängsten (Läpple, 1988). Schwangerschaftsbezogene Ängste nehmen bei den von uns befragten Frauen mit A-bortanamnese im 2. Schwangerschaftstrimenon auf das Angstniveau anamnestisch nicht be-lasteter Schwangerer ab und werden im dritten Trimenon von Geburtsängsten abgelöst. Auch der zeitliche Verlauf der Ängste deutet darauf hin, dass es sich um Erwartungsängste handelt, welche mit fortgeschrittenerem Schwangerschaftsalter und geringer werdender Bedrohung durch Fehlgeburten abnehmen.

Zustandsängste

Zustandsängste in Form innerer Unruhe, Anspannung und Nervosität erfassen stärker die psy-chovegetative Seite von Ängsten. Sie können schwangerschaftsbezogene Ängste mehr oder weniger stark begleiten, aber auch Ausdruck allgemeinerer, ungerichteter Ängste sein. Unserer Meinung nach sind es diese das Allgemeinbefinden erheblich beeinträchtigenden Zustandsängs-te mit stark vegetativer Erregung, die das Risiko für Schwangerschaftskomplikationen erhöhen.

Allerdings kann unsere Untersuchung den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen Zu-standsängsten und Schwangerschaftskomplikationen nicht erbringen (siehe Kapitel 6.2.2.4).

Rizzardo et al. (1988) weisen einen Zusammenhang zwischen Zustandsangst und Schwanger-schaftskomplikationen bei gesunden Schwangeren nach. Kopplungen über das vegetative Ner-vensystem und das Immunsystem sind denkbar und in einer Reihe von Studien nachgewiesen (siehe Kapitel 2.3.3.4).

Anders ausgedrückt: Um die tatsächliche Belastung der Schwangeren durch Angstsymptome beurteilen zu können, ist es erforderlich, neben den auf konkrete Gefährdungen gerichteten Be-fürchtungen der Schwangeren (schwangerschaftsbezogene Ängste) v. a. auch das Ausmaß an allgemeiner Unruhe, Nervosität und psychovegetativer Symptomatik zu erfassen. Durchschnitt-lich hohe Zustandsängste mit unveränderter Ausprägung bestehen bei den Frauen mit Abort-anamnese bereits seit dem ersten Erhebungszeitpunkt einige Wochen nach der Fehlgeburt. Of-fenbar gewinnen betroffene Frauen erst in einer neuen Schwangerschaft, und zwar erst nach Überschreiten des kritischen Zeitpunktes der letzten Fehlgeburt, an innerer Sicherheit. Obwohl schwangerschaftsbezogene Ängste weiterhin bestehen können, nehmen nach „Überstehen“ des kritischen Zeitpunktes die Zeichen allgemeiner Verunsicherung ab. Eine Teilnehmerin, die nach drei Fehlgeburten in der 6., 7. und 9. Schwangerschaftswoche (bisher keine Kinder) erneut schwanger ist, schreibt uns dazu Folgendes:

46 Klinisch kann eine reale Furcht von einer körpernahen, ungerichteten Angst unterschieden werden (vgl. Ment-zos, 1984).

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„Ich bin in der 10. Woche schwanger. Die Ultraschalluntersuchung gestern ist sehr positiv verlaufen. Da in den ersten drei Schwangerschaften jeweils in den Schwangerschaftswochen 6 bis 9 eine missed abortion festgestellt wurde, bin ich so weit wie noch nie und habe seit gestern ein Freudengefühl.“

Zustandsängste in der Schwangerschaft stehen, ähnlich wie depressive Symptome, in engem Zusammenhang mit einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten und lassen sich durch eine de-pressive Verarbeitung der Fehlgeburt voraussagen. Wir vermuten daher, dass sie aus Versagensängsten und Schuldgefühlen resultieren, die Folge maladaptiver Verarbeitungsmuster des zurückliegenden Schwangerschaftsverlustes oder neurotischer Vorerkrankungen sind.

Schwangerschaftsbezogene Ängste und Zustandsängste können zwar inhaltlich und z. T. sym-ptomatisch voneinander unterschieden werden, sie stehen jedoch auch in positivem Zusammen-hang. Stark ausgeprägte Befürchtungen von Gefährdungen der Schwangerschaft gehen überzu-fällig häufig mit innerer Unruhe, allgemeiner Anspannung und Nervosität einher.

Während eine Reihe von Veröffentlichungen den schwangerschaftsbezogenen Ängsten große Aufmerksamkeit schenkt, geben unsere Befunde einen Hinweis darauf, dass es notwendig ist, gerichtete, isolierte schwangerschaftsbezogene Ängste von Zustandsängsten allgemeinerer Na-tur zu unterscheiden, um sie hinsichtlich ihrer Ätiologie und Adaptivität beurteilen zu können.

Da diese Unterscheidung in unserer Untersuchung unseres Wissens zum ersten Mal getroffen wird, bedürfen diese Befunde einer weiteren empirischen Replikation.

Allgemeine Ängstlichkeit

Die Neigung zu allgemeiner Ängstlichkeit zählt nicht zu den Schwangerschaftsbeschwerden im engeren Sinne. Dennoch können und müssen schwangerschaftsbezogene und Zustandsängste auf dem Hintergrund der allgemeinen Disposition, Situationen als bedrohlich zu erleben, bewertet werden. Bei Frauen mit Fehlgeburten beobachten wir eine durchschnittlich höhere allgemeine Ängstlichkeit als bei Schwangeren ohne Fehlgeburtsanamnese und Frauen der Nor-malbevölkerung. Dabei wird bei Frauen mit rezidivierenden und habituellen Aborten das durchschnittlich höchste Niveau der Trait-Angst gemessen. Unsere Befunde widersprechen den Ergebnissen anderer Untersuchungen (Läpple & Krumbacher, 1988; Theut, 1988). Lediglich Klock et al. (1997) bestätigen erhöhte Trait-Ängste bei Frauen mit Fehlgeburten. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die von uns befragte Population aus überzufällig vielen ängstlichen Frauen zusammensetzt und die Befunde Folge unkontrollierter Stichprobenverzerrungen sind.

Sollte der Befund ausgeprägterer Trait-Angst bei Frauen mit Fehlgeburten in weiteren Untersu-chungen Bestätigung erfahren, so könnte das auf eine bei Frauen mit Fehlgeburten überdurch-schnittlich häufig anzutreffende neurotische Disposition deuten. Eine neurotische Persönlich-keitsstruktur bei Frauen mit habituellen Aborten wird in der Literatur kontrovers diskutiert (vgl.

Kapitel 2.3.3.3). Darüber hinaus bleibt offen, ob die ausgeprägtere Angstbereitschaft bei Frauen

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mit Fehlgeburten als Merkmal ihrer Persönlichkeitsstruktur bereits vor der ersten Fehlgeburt besteht oder erst eine Folge des von tiefer Verunsicherung der Frauen geprägten Abortgesche-hens ist.

Zusammenfassung

Ängste vor einem erneuten Verlust der Schwangerschaft können sowohl protektive Funktion haben als auch eine Gefährdung für die Schwangerschaft darstellen. Ob eine Gefährdung durch Ängste besteht, ist abhängig vom Ausmaß der Ängste, dem Umgang der Frauen mit ihren Ängsten und v. a. dem Ausmaß an allgemeiner Verunsicherung und psychovegetativen Beglei-terscheinungen der Angst (Zustandsangst). Die Ausprägung der Ängste ist in großem Maße davon abhängig, wie die Frauen die zurückliegende Fehlgeburt verarbeitet haben und mit wel-chen Einstellungs- und Bewältigungsmustern sie der neuen Schwangerschaft begegnen. Beru-higende Interventionen sind bei stark ausgeprägten Ängsten, die mit hoher Anspannung, innerer Unruhe und Nervosität einhergehen, indiziert und, wie sich gezeigt hat, auch erfolgreich (Stray-Pedersen & Stray-(Stray-Pedersen, 1984; Liddell et al., 1991). Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass Schwangerschaftsängste nach Fehlgeburten aufgrund der erfahrenen Verunsicherung durchaus natürlich und für einen Anpassungsprozess notwendig sind. Können diese Ängste ausgelebt und durchlebt werden, so können sie dem Selbstschutz dienen und zur Wiederherstel-lung von Selbstsicherheit beitragen (Hohenstein, 1998).

6.2.2.3 Depressivität und allgemeine Körperbeschwerden in einer neuen Schwangerschaft