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Die Bedeutung nicht-pflegerischer Unterstützungsleistungen in der Schweiz

Im Dokument in der Schweiz (Seite 60-65)

Gesellschaftliche Organisation der Betreuung im Alter in der Schweiz

1.5 Die Bedeutung nicht-pflegerischer Unterstützungsleistungen in der Schweiz

Wie in den vorigen Kapiteln ersichtlich wird, stehen betreuerische Leistungen im Schatten der Pflege. In 1.4 wurde die Verwandtschaft zwischen Altershilfe und Betreuung deutlich. Was beide Unterstützungsformen verbindet, ist ihr grund-sätzlich nicht-pflegerische Charakter.

Zwei Studien heben die sozialpolitische Bedeutung von nicht-pflege-rischen Unterstützungsleistungen in der Schweiz hervor. Sowohl die Studie

«Ambulante Alterspflege und -betreuung» der Berner Fachhochschule (Fluder et.

al., 2012) als auch die Swiss-Age-Care Studie (Perrig-Chiello & Höpflinger &

Schnegg, 2010 & 2011) messen den nicht-pflegerischen Leistungen für die Ver-sorgung zu Hause eine enorme Bedeutung zu. Die Autorinnen und Autoren der Berner Hochschule halten in ihrer Untersuchung fest, dass 70 Prozent aller erhal-tenen Unterstützungsleistungen nicht-pflegerischer Natur sind. Unterstützungen finden sich in den Dimensionen Haus/Wohnung putzen, schwere körperliche Tätigkeiten, Mahlzeiten vorbereiten, Einkaufen, Gartenarbeit, Telefonbedienen und Administration. Die Unterstützungsformen richten sich demnach auf den Verbleib im gewohnten sozialen Umfeld. Des Weiteren übernehmen Angehörige, Freunde und Nachbarn rund 65 Prozent der nicht-pflegerischen Aufgaben. Dane-ben stehen die Spitex und andere professionelle Dienste mit einem Leistungs-anteil von 35  Prozent. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Erstens findet die nicht-pflegerische Unterstützung hauptsächlich im informellen Umfeld statt.

Zweitens ist das Netzwerk zwischen informeller und professioneller Unterstüt-zung von Betagten zu Hause relevant. Nicht-pflegerische UnterstütUnterstüt-zung zu Hause kann darüber hinaus «als ein Frühindikator für eine zunehmende Pflege- und Unterstützungsbedürftigkeit gedeutet werden» (Fluder et. al., 2012, S. 208). Dies

bedarf jedoch einer besseren Koordinationsarbeit zwischen informeller und pro-fessioneller Unterstützung in Form einer Sensibilisierung des Betreuungspersonals zur Früherkennung und das Angebot von Weiterbildungen.

Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch die Swiss-Age-Care Studie (vgl. auch 1.3). Die Autoren untersuchten gesamtschweizerisch die Probleme, Bedürfnisse und Ressourcen pflegender Angehöriger älterer Menschen wie auch ihre Zusam-menarbeit mit ambulanten Unterstützungsleistungen durch die Spitex. Die Befragung unterscheidet zwischen basalen (ADL) und instrumentellen (IADL) Einschränkungen in Alltagsaktivitäten. Aus der Studie geht hervor, dass ältere Menschen, die zu Hause wohnen, mehrheitlich keine oder nur leichte Schwie-rigkeiten bei der Bewältigung von basalen Tätigkeiten haben. Hingegen ist der Unterstützungsbedarf bei instrumentellen Alltagsaktivitäten bedeutend höher.

Schwere Hausarbeit, Einkaufen, öffentliche Verkehrsmittel benützen oder Wäsche waschen, stellen ältere Menschen vor grosse Herausforderungen. Die Einschrän-kungen in den instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens sind nicht nur deutlich höher als im Bereich der basalen Aktivitäten. Sie verweisen ebenfalls «auf die zentrale Bedeutung ambulanter Hilfeleistungen bei den instrumentellen Akti-vitäten» (Wächter, 2015 S. 22). Die Bedeutung hauswirtschaftlicher Unterstüt-zungsangebote ist auch für betreuende und pflegende Angehörige zentral. Bisher fehlen nämlich finanziell erschwingliche, hauswirtschaftliche Entlastungsange-bote (vgl. Perrig-Chiello & Höpflinger & Schnegg, 2010, S. 107).

Im stationären Bereich hält die Eidgenössische Gesundheitsbefragung 2007 fest, dass die Pflegebedürftigkeit den Hauptgrund des Heimeintritts dar-stellt. Im europäischen Vergleich weist die Schweiz mit einem Anteil von über 50 Prozent eine hohe stationäre Pflegequote auf. Laut der Statistik der sozialme-dizinischen Institutionen (SOMED) weisen in vielen Kantonen zwischen 25 und 30 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner nur einen geringen Pflege- oder Unterstützungsbedarf auf (vgl. Wächter, 2015, S. 24). Aus der Eidgenössischen Gesundheitsbefragung 2007 geht hervor, dass knapp ein Viertel der Bewohnerin-nen und Bewohner in Alters- und Pflegeheimen in ihren basalen Alltagsaktivitäten nicht eingeschränkt sind. Aus funktionaler Sicht besteht deshalb wenig Hilfs- und Pflegebedarf. 56 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner sind in ihren Alltags-aktivitäten nicht eingeschränkt und 44 Prozent haben geringe Schwierigkeiten, zum Beispiel, sich zu waschen. Aus der Befragung geht hervor, dass mehr als vier von zehn Personen mit geringem Pflegebedarf vor ihrem Heimeintritt auf infor-melle Hilfe und drei von zehn Personen auf Spitex-Dienste angewiesen waren.

Dieses Verhältnis deutet darauf hin, dass der Heimeintritt dieser Personengruppe hauptsächlich wegen Einschränkungen in den instrumentellen Alltagsaktivitäten vollzogen wurde.7

7 Ob der Heimeintritt auch aus finanziellen Gründen erfolgt, bleibt unklar. Denn im Gegensatz zu Beeinträchtigungen in den basalen Alltagsaktivitäten, ist die finanzielle Unterstützung für nicht-pflegerische Leistungen gering.

Matthias Wächter ergänzt diese Feststellung: Zu den instrumentellen All-tagsaktivitäten kommen die «Verletzlichkeit in Bezug auf soziale Vereinsamung und Isolation, eine ungeeignete Wohnsituation oder Unsicherheit im Alltag» (vgl.

Wächter, 2015, S. 24) als Faktoren eines verfrühten Heimeintritts hinzu. Ein wei-terer Grund für den Heimeintritt gering eingeschränkter Betagter ist in der Sta-bilisierung der Person nach dem Heimeintritt zu finden. Dies hat oft eine tiefere Einstufung der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit zur Folge. Andererseits hängen die frühen Heimeintritte älterer Menschen mit niedriger Pflegebedürftigkeit mit der defizitären Unterstützung und Betreuung vor dem Eintritt zusammen. Letzteres zeichnet sich exemplarisch in der Studie zur «Versorgung mit Spitexleistungen im Kanton Schwyz» (Krummenacher & Wächter, S. 2013) ab. Die Autoren konn-ten in den Interviews erkennen, dass Alter und Hochaltrigkeit weniger stark mit Krankheitsbildern verbunden sind, welche die Pflege notwendig machen würden.

Eher ist ein allgemeiner Unterstützungsbedarf gefragt. Gemäss den Einschätzun-gen der befragten Personen hätte eine gute Betreuung zu Hause oder eine entspre-chende Alterswohnung einen wesentlichen Einfluss auf das Leben in den eigenen vier Wänden.

1.6 Schlussfolgerungen

Die Ausführungen in Kapitel 1 verdeutlichen, wie vielschichtig und komplex sich das Schweizer Pflegesystem für ältere Menschen darstellt. Noch schwieriger gestal-tet sich die Auseinandersetzung mit der Unterstützungsform Betreuung. Grund-sätzlich fehlt eine systematische Aufarbeitung und Analyse zum Thema Betreu-ung. Bisher taucht das Thema in verschiedenen Kontexten unterschiedlich auf.

Altersbetreuung

Was unter Betreuung zu verstehen ist, bleibt unklar. Die bisherige Praxis defi-niert Betreuung in Abgrenzung zu den kassenpflichtigen Pflegeleistungen gemäss der KLV. Folglich ist Betreuung eine nicht-pflegerische Unterstützungsform. Wie die obigen Ausführungen zeigen, geht die Unterstützungsform Betreuung mit der Beschreibung von Hilfeleistungen einher. Betreuungsleistungen richten sich grundsätzlich auf die Unterstützung älterer Menschen bei der Bewältigung instru-menteller Aktivitäten des täglichen Lebens. Darunter fallen hauswirtschaftliche Tätigkeiten, administrative Hilfe, psychische und soziale Unterstützung, Unter-stützung im Gemeinschaftsleben und Handreichung in der Körperpflege. Betreu-ungsleistungen erfolgen im stationären, intermediären und ambulanten Bereich.

In Heimeinrichtungen ergänzt die Betreuung die Angebote der Hotellerie und der Pflege. In welchem Umfang die Betreuung tatsächlich erfolgt, bleibt unklar.

In Bezug auf die sozialrechtliche Regulierung von Altershilfe und Alters-pflege wurde deutlich, dass das Verständnis von Hilflosigkeit, eine Beeinträchti-gung von notwendigen Lebensverrichtungen (gemäss den ADL-Kriterien)

bedeu-tet. Dieselben Kriterien der Beeinträchtigung gelten auch für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit in der Grundpflege. Die sozialrechtlich regulierte Hilflosigkeit kann deshalb nicht per se mit Betreuung gleichsetzt werden. Denn dies würde bedeuten, dass Betreuungsaufgaben nur Beeinträchtigungen unter ADL-Kriterien einschliessen. Doch die Betreuung berücksichtigt soziale wie auch wirtschaftli-che Faktoren der Unterstützung. Betreuungsaufgaben werden häufig aus dem familiären und sozialen Netzwerk erbracht und finden im Privathaushalt statt.

Allerdings werden die Unterstützungstätigkeiten nicht als Betreuung umschrieben sondern meistens als informelle Hilfe bezeichnet.

Betreuung findet aber nicht nur im informellen Sektor statt. Indem die öffentliche Hand verstärkt auf kassenpflichtige Leistungen fokussiert, öffnet sich ein Markt für Betreuungsdienstleistungen. Betreuung ist folglich auch im Bereich der professionellen Altershilfe lokalisierbar.

Altersbetreuung im sozialrechtlichen Kontext

Gemäss der Bundesverfassung sind die Kantone verpflichtet, für die Hilfe und Pflege von Betagten zu Hause und stationär zu sorgen. Die Verpflichtung ist in vielen Kantonen auf Gesetzes- und Verordnungsebene konkretisiert wor-den. Die Umsetzung dieser Verpflichtungen wurde allerdings bisher im Bereich der nicht-pflegerischen Leistungen «nicht differenziert und umfassend erfasst»

(Wächter, 2015, S. 83). Betreuung als Begriff bleibt in den Gesetzgebungen unbe-stimmt. Die Grundlage einer generell-abstrakten Definition auf Bundesebene ist nicht vorhanden.

In der Schweiz müssen für Betreuungsleistungen grundsätzlich die Privat-haushalte, das heisst die betagten Personen selbst aufkommen. Mögliche Ansprü-che der Betagten auf Betreuungsleistungen, können indirekt durch das ELG Art.

14b ELG in Form von Geld- und Sachleistungen unter anderem für Betreuung zu Hause oder in Tagesstrukturen geltend gemacht werden. Die Umsetzungskom-petenzen liegen auf kantonaler Ebene und die 26 unterschiedlichen Ausgestaltun-gen geben kein klares Bild ab, welche BetreuungsleistunAusgestaltun-gen tatsächlich vorhanden sind.

Die Betreuungsgutschrift stellt eine finanzielle Anerkennung für betreu-ende und pflegbetreu-ende Angehörige dar. Die Höhe der Betreuungsgutschrift ent-spricht der dreifachen jährlichen Minimalrente. In fünf Kantonen und mindesten elf Gemeinden können Betreuungszulagen geltend gemacht werden. Die Modelle der Vergütung unterscheiden sich stark und der Zugang gestaltet sich für Angehö-rige als schwierig. Bisher gibt es keine existenzsichernde Betreuungsunterstützung für betreuende Familienmitglieder und Angehörige.

Die Bedeutung der Betreuung für die Altersversorgung in der Schweiz

Der Unterstützung nicht-pflegerischer Leistungen kommt in der Schweiz eine grosse Bedeutung zu. Die Hauptlast dieser Unterstützungsaufgaben kommt den betreuenden und pflegenden Angehörigen zu. Im Hinblick der demografischen Entwicklung und der Zunahme der Demenzerkrankung dürften gerade die hauswirtschaftlichen und betreuerischen Leistungen steigen. Bisher fehlen in der Schweiz umfassende Beratungs- und Entlastungsangebote für betreuende und pflegende Angehörige. Es besteht daher das Risiko der Überforderung und Über-belastung von Angehörigen.

Die fehlende Sensibilisierung für nicht-pflegerische Unterstützungsleis-tungen und die unzureichenden finanziellen Unterstützungsmodalitäten vernach-lässigen den präventiven Charakter der Betreuungstätigkeit. Betreuung zu Hause kann als Indikator dienen, damit frühzeitig Massnahmen und Interventionen getroffen werden können, um die Selbstständigkeit alter Menschen zu erhalten und zu fördern.

Kapitel 2

Who cares? Akteure in der Alterspflege

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