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I. LEBEN UNTER MANGELBEDINGUNGEN

1.1 URSACHEN DES MANGELS

1.1.4 Lokale Ursachen: Konstanz

1.1.4.1 Die Ausgangslage

Konstanz unterschied sich 1945 zunächst von allen anderen Städten der FBZ dadurch, dass es völlig unzerstört geblieben war.139 Die Nähe zur Schweiz und der Status als Lazarettstadt verschonten die Stadt zudem vor Kampfhandlungen bei der Besetzung durch die Franzosen.140 Mit dem Einmarsch der Franzosen am 26. April 1945 schlugen diese Vorteile jedoch in ihr Gegenteil um.

Zwar blieben der Stadt die aufwändigen und kostspieligen Trümmerbeseitigungen und Wiederaufbauarbeiten erspart,141 die viele Städte Deutschlands neben den sonstigen Nachkriegsproblemen zu bewältigen hatten, doch verlockte gerade die Unzerstörtheit und landschaftlich schöne Lage dazu, hier nicht nur prächtige Paraden zu veranstalten,142 sondern ein Zentrum der Besatzungsmacht einzurichten.143 So befanden sich 1945/46 rund 8.000 Angehörige der Besatzungsmacht in Konstanz.144 Sie beanspruchten bis 1948 rund 20% der 320.000 m², die in Konstanz als Wohnraum zur Verfügung standen.145 Damit hatte 1946 jeder

139 Nur wenige deutsche Städte teilten dieses Glück, so z.B. Kempten in der ABZ und Güstrow in der SBZ. In der BBZ war keine vergleichbare Stadt unzerstört geblieben. Vgl. Grebing/Pozorski/Schulze 1980a:14. Als Grund für die ausgebliebene Zerstörung in Konstanz wurde gerne angegeben, die Konstanzer hätten auf eine Verdunkelung verzichtet, so dass die Stadt für die alliierten Bomber nicht von der neutralen und daher hell erleuchteten schweizer Nachbarstadt Kreuzlingen zu unterscheiden gewesen wäre. Diese nette Geschichte lässt sich allerdings nicht mehr aufrecht erhalten. Die Schweiz hatte bis in den September 1944 sehr wohl verdunkelt, so dass ein erleuchtetes Konstanz deutlich herausgestochen wäre. Moser, Arnulf. 2002. Konstanz und die Grenzlage im 20. Jahrhundert. In: Rosgartenmuseum Konstanz (Hg.). 2002. Mager und knapp. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960. Erschienen anlässlich der Ausstellung „Mager und knapp. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960. Vom Hitlergruß zum Petticoat. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960.“ Konstanz: Konstanzer Museumsjournal, 49-59, hier 54. Der Grund für die ausgebliebene Bombadierung ist vielmehr in der Tatsache zu suchen, dass die Alliierten keinerlei Informationen über Konstanz besaßen und es demnach auch nicht als Ziel ihrer Angriffe sahen. Burchardt, Lothar. 2002b. Arbeit und Beruf in Konstanz. In: Rosgartenmuseum Konstanz (Hg.). 2002. Mager und knapp. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960. Erschienen anlässlich der Ausstellung „Mager und knapp. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960. Vom Hitlergruß zum Petticoat. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960.“

Konstanz: Konstanzer Museumsjournal, 116-124, hier 121. Friedrichshafen hingegen stand auf Platz 10 der alliierten Bomberangriffsliste. Rügert, Walter. 1996. 50 Jahre nach Kriegsende. Von der »Stunde Null« zum

»Anschwellenden Bockgesang« - Der Umgang mit der Erinnerung. Konstanzer Allmanach 42, 19-22, hier 19.

140 Burchardt 1996: 14; Klöckler 1995a:216. Im Vorfeld der Übernahme der Stadt durch die Franzosen war es zu geheimen Verhandlungen deutscher, schweizer und französischer Verantwortlicher gekommen, die eine kampflose Übergabe der Stadt vereinbart hatten. Burchardt 1996:14; Schoop, Albert. 1988. Die Ereignisse im Frühjahr 1945, von der Schweiz aus gesehen. In: Maurer, Helmut (Hg.). 1988. Die Grenzstadt Konstanz 1945.

Konstanz: Südkurier, 65-79, hier 76.

141 Burchardt 1996:19. Die zerstörten badischen Städte waren auf staatliche Hilfe angewiesen, die das Land wegen der hohen Besatzungskosten nicht leisten konnte. So zog sich der Wiederaufbau über viele Jahre hin.

Burchardt 1996:61.

142 Vgl. Kapitel 3.2.2.

143 In Konstanz befanden sich außer der Garnison der Besatzungstruppen auch die Stellen der Militärregierung für den Stadt- und den Landkreis Konstanz. Zum Aufbau der Militärregierung in Konstanz vgl. Kapitel 3.1.2.

144 Klöckler 1995a:220.

145 Klöckler 1995a:220. Die Zahl der Wohnungen beschreibt den Stand 1950. Da aber bis 1950 kaum gebaut wurde und die Stadt keine Verluste an Wohnraum aufzuweisen hatte, kann diese Zahl auch für die Jahre 1945-1949 angenommen werden. Erst mit dem Greifen des Marshallplanes und dem Boom nach der Korea-Krise kam es auch in Konstanz verstärkt zu einem Wohnungsbau. Klöckler, Jürgen. 2002b. Die Entwicklung und das Wachstum der Stadt Konstanz zwischen 1920 und 1960. In: Rosgartenmuseum Konstanz (Hg.). 2002. Mager

Franzose durchschnittlich 9,1 m² zur Verfügung, der deutschen Zivilbevölkerung blieben pro Kopf lediglich 4,8 m².146 Noch 1950 lagen die Konstanzer mit 7,4 m² pro Kopf um zwei m² unter dem südbadischen Schnitt und nahmen damit den letzten Platz der Statistik ein.147 Daran änderte sich bis weit in die 1950er Jahre wenig, da die Franzosen ab 1950 zwar nur noch rund 10% der Wohnungen in Beschlag hielten,148 die Konstanzer Bevölkerung infolge der nun eintreffenden Ostflüchtlinge aber anstieg.149 Trotz dieser im badischen Schnitt so schlechten Konstanzer Zahlen muss jedoch bedacht werden, dass die Konstanzer zwar äußerst beengt, jedoch in unzerstörten und - wenn Brennmaterial vorhanden war - heizbaren Räumen lebten.150 Zudem handelt es sich bei allen Werten um Durchschnittswerte, die wenig über die tatsächlichen Verhältnisse aussagen. So kann man davon ausgehen, dass den Angehörigen der Militärregierung und ihren Familien rund 15 m² pro Person zur Verfügung standen, da ein Großteil des Besatzungspersonals in Kasernen untergebracht war.151 Die Konstanzer verfügten ebenso wenig alle über den gleichen Wohnraum. Geht man davon aus, dass einige Bürger weit mehr Platz zur Verfügung hatten, ergibt sich zwangsläufig, dass viele mit noch weniger als den durchschnittlich angegebenen Werten auskommen mussten.152 Die räumliche Enge, die dadurch für viele Menschen zur alltäglichen Erfahrung wurde, ist heute kaum noch vorstellbar.153 Tägliche Reibereien zwischen den Familienangehörigen dürften aufgrund der Enge keine Seltenheit gewesen sein.

Die Bevölkerung lebte in ständiger Angst vor Wohnungsrequisitionen. Dies schlug sich auch in den Quellen nieder. Der Konstanzer Handwerker Karl Leo Nägele schildert in einer

‚Plauderei‘ die Requisition seiner Wohnung. Das bange Hoffen, verschont zu bleiben, das befürchtete Klingeln an der Haustür, die Ausweisung innerhalb weniger Stunden unter Mitnahme nur weniger Gegenstände und schließlich die verzweifelte Suche nach einer neuen Bleibe. Im Falle Nägeles eine baufällige Kammer im selben Haus, die er mit seiner Frau

und knapp. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960. Erschienen anlässlich der Ausstellung „Mager und knapp. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960. Vom Hitlergruß zum Petticoat. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960.“ Konstanz: Konstanzer Museumsjournal, 20-48, hier 47.

146 Klöckler 1995a:221.

147 Klöckler 1995a:221. Auch im Vergleich mit der gesamten FBZ schnitten die Konstanzer schlecht ab: 1946 standen jedem Deutschen in der FBZ durchschnittlich 9,4 m² zu. Vgl. Grebing/Pozorski/Schulze 1980a:30f.

148 Die letzte beschlagnahmte Wohnung wurde erst 1956 freigegeben. Burchardt 1996:270.

149 Klöckler 1995a:221. Vgl. Kapitel 2.2.1.

150 Zur Versorgung mit Hausbrand vgl. Kapitel 1.1.4.3 und 1.2.4.2.

151 Klöckler 1995a:220f.

152 Burchardt 1996:269.

153 Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person betrug in (West-)Deutschland 1994 35 m². Vgl. Klöckler 1995:221.

teilte.154 Bei Nägele schimmert auch durch, was viele Zeitgenossen bewegte: das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. „Ich fand eben keinen ausreichenden Grund für die Requisition, weil ich nichts Unrechtes getan hatte und zeitlebens hilfsbereit war.“155

Verschärft wurde die Wohnsituation wie auch die allgemeine Versorgungslage zunächst noch durch die Flüchtlinge und Verwundeten, die Konstanz als grenznahe Lazarettstadt in den letzten Kriegsmonaten aufgenommen hatte. Die Bevölkerung hatte sich 1945 im Vergleich zur Bevölkerungszahl von 1939 fast verdoppelt. Zu den ca. 38.000 Konstanzern kamen zwischen 10.000 und 20.000 Wehrmachtsangehörige, darunter rund 5.000 Verwundete,156 und rund 20.000 Evakuierte und Flüchtlinge, darunter auch rund 2.000 Ausländer,157 sogenannte

‚Displaced Persons‘, sowie illegal Zugezogene, so dass sich im Mai 1945 an die 70.000 Menschen in der Stadt befanden.158 Durch eine schnelle Rückführung aller ‚Nicht-Konstanzer‘ konnte die Bevölkerungszahl bis Januar 1946 zwar wieder auf rund 39.000 zurückgeschraubt werden,159 bis dahin bedeutete aber die Überfüllung eine hohe Belastung für die Stadt.

Die Nähe zur Schweiz entpuppte sich auch in anderer Hinsicht als negativer Faktor. Konstanz befand sich zum einen in der fünf Kilometer tief entlang der Schweizer Grenze gezogenen

‚zone interdite‘, die nur mit Sondergenehmigungen, sogenannten ‚laissez-passers‘ betreten oder verlassen werden durfte.160 Zum anderen war jeglicher Verkehr über den Bodensee verboten,161 so dass sich die Konstanzer in einer äußerst isolierten Situation wiederfanden.162 Durch die für Deutsche seit der Besetzung hermetisch geschlossene Grenze nach Kreuzlingen ging den Konstanzern nicht nur ein während des Krieges immer noch offengestandener Informationskanal verloren,163 sondern vor allem das dringend benötigte Gemüse, das Konstanzer Bauern auf dem jenseits der Grenze liegenden, aber sich im Besitz der Stadt

154 Nägele 1988:57ff. Wie sehr die Angst vor der Ausweisung aus den eigenen vier Wänden die Menschen beherrschte, zeigt auch das Tagebuch des Konstanzers H. Schilderungen von Ausweisungen der Nachbarn und die Angst, selbst bald die Wohnung verlassen zu müssen, ziehen sich durch das ganze Werk. Vgl. Tagebuch H.

155 Nägele 1988:59. Der große Bedarf der Franzosen machte bald klar, dass der ursprüngliche Plan deutscher Behörden und der Antifas, nur belastete Nationalsozialisten zu Requisitionen heranzuziehen, nicht aufrecht erhalten bleiben konnte. Spätestens ab Juli 1945 wurde die Last auf die gesamte Konstanzer Bevölkerung verteilt. Klöckler 1995a:218. In der Bevölkerung stieß das auf Unverständnis und trübte das deutsch-französische Verhältnis erheblich. Man fühlte sich beraubt und ungerecht behandelt. Burchardt 1996:32;

Wolfrum 1996a:60. Vgl. Kapitel 3.3.1.

156 Kluge 1988:13.

157 Burchardt 1996:70.

158 Stei 1992:41.

159 Klöckler 1995a:217. Vgl. Kapitel 2.3.1.

160 Bosch 1988:47.

161 Dietrich, Agnes. 1966. Das geschah in Konstanz 1945-1966. Zwei Jahrzehnte Zeitgeschehen. Konstanz:

Südkurier, hier 24.

162 Burchardt 1996:33. Zum Lebensgefühl unter den Bedingungen dieser Grenzlage vgl. Kapitel 3.2.2.

163 Burchardt 1996:25. Vgl. Kapitel 3.2.2.

befindenden Tägermoos anbauten. Erst 1947 wurde die Grenze für einen eingeschränkten

‚Kleinen Grenzverkehr‘ und damit auch für die Gemüsebauern wieder geöffnet.164

Die Nähe zur Schweiz brachte jedoch nicht nur Nachteile mit sich. Konstanz profitierte über viele Jahre hinweg von zahlreichen schweizer Hilfsaktionen, unter anderem mehrere Schulspeisungen.165 Gerade Kindern musste so die Schweiz wie ein unerreichbares Schlaraffenland erscheinen. Der in Konstanz aufgewachsene Franz Schäfer, damals 12 Jahre alt, erinnert sich:

Kreuzlingen war mir völlig unbekannt und unerreichbar. Von der Seestraße schaute man zum Schweizer Ufer wie nach einem fremden, verbotenen Paradies. Erst nach Jahren gab es Tagespassierscheine dort hin. Eine Cousine meiner Mutter durfte in der Schweiz arbeiten. Sie konnte uns Kaffe und Sacharin schenken. Das waren exotische Dinge.166

Die Grenzlage brachte Konstanz also sowohl Vor- wie Nachteile, wobei die Nachteile wie gezeigt wurde überwiegen sollten. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich Konstanz trotz dieser für die Nachkriegszeit misslichen Grenzlage durchaus in einer privilegierten Position wiederfand: da ihre Stadt unzerstört geblieben war, blieb den Konstanzern das Schicksal der Ausgebombten und Flüchtlinge erspart.