• Keine Ergebnisse gefunden

In seinem 1958 erschienenen Werk The Selection of Retail Locations erörtert NELSON die Standortfaktoren im Einzelhandel und anderen konsumentenorientierten Dienstleistungen, wobei der (positiven) Wirkung von (Einzelhandels-)Agglomerationen ein besonderes Gewicht zukommt. Sein Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von den anderen hier diskutierten Standorttheorien, da es sich hierbei nicht um deduktive Ableitungen handelt, sondern um empirisch gewonnene Erkenntnisse, die induktiv in allgemeingültige Aussagen übertragen werden (BROWN 1993, S. 201f.). Daher werden auch keine ausdrücklichen Annahmen hinsichtlich des Konsumenten-/Anbieterverhaltens oder des Raums postuliert, sondern die Aussagen beziehen sich auf tatsächlich stattgefundene bzw. stattfindende Gegebenheiten;

auch werden NELSONs Ausführungen zumeist nicht (oder zumindest nicht explizit) mittels mikroökonomischer Begriffe und Zusammenhänge erklärt.

Auf dieser Grundlage stellt NELSON einen Standortfaktorenkatalog für den Einzelhandel auf, der in acht Elemente unterteilt wird. Diese sollten ihm zufolge in der genannten Reihenfolge im Rahmen der unternehmerischen Standortpolitik (insb. bei der Eröffnung einer neuen oder der Verlagerung einer bestehenden Verkaufsstelle) beachtet werden; sie müssen aber nicht zwingend allesamt Berücksichtigung finden und schließen sich in einigen Fällen auch gegenseitig aus (NELSON 1958, S. 52ff.):

 Kunden- bzw. Kaufkraftpotenzial im Marktgebiet

 Kundenfrequentierung des für die Eröffnung der neuen Verkaufsstelle anvisierten Angebotsstandortes hinsichtlich der eigenen Anziehungskraft (Generative business) und externer Frequenzbringer (Shared business bzw. Suscipient business)

 Regionalökonomisches Wachstumspotenzial des Marktgebietes hinsichtlich der Bevölkerung und der Haushaltseinkommen

 Möglichkeit einer räumlichen Positionierung zwischen dem Marktgebiet und den bestehenden Anbietern (d.h. Konkurrenzmeidung), um potenzielle Kundschaft der Konkurrenten vorher „abzufangen“ (Business interception)

 Gemeinsame Kundenanziehungskraft aller ungleichartigen (bzw. komplementären) und/oder gleichartigen (konkurrierenden) Anbieter am Angebotsstandort (Cumulative attraction)

 Kompatibilität der anderen Anbieter am anvisierten Angebotsstandort (Compatibility)

 Minderung des Wettbewerbsrisikos (Competitive hazard), d.h. (räumliche) Orientierung an den Konkurrenten, da ihre bestehenden Verkaufsstellen von einer erfolgreichen Standortwahl zeugen

 Qualität des Mikrostandortes (Immobilie bzw. Geschäftsfläche), d.h. kleinräumige Lageeigenschaften (z.B. Flächenzuschnitt, Verkehrstechnischer Zugang usw.)

Es existieren viele weitere Standortfaktorenkataloge für den Einzelhandel, die sich in ihren Kernaussagen nicht grundlegend von NELSONs Ansatz unterscheiden (Überblick z.B. KROL

2010, S. 61ff.; KULKE 2009, S. 143ff.; OVERFELD/JAHN 2009, S. 424ff.). In mehreren Punkten stellt NELSON jedoch die Vorteile von Agglomerationen ungleichartiger und/oder konkurrierender Anbieter in den Mittelpunkt. Abgesehen davon, dass diese auch allgemein das unternehmerische Risiko senken können, liegen die Vorzüge im Wesentlichen in den konsumentenseitigen Agglomerationsvorteilen. Hierbei werden drei Elemente identifiziert, die sich auf die Kundenfrequenz beziehen und in unterschiedlicher Gewichtung das Kunden- bzw. Umsatzvolumen von Einzelhandelsanbietern beeinflussen (NELSON 1958, S. 53f.):

Generative business: Umsatz, der auf die Anziehungskraft des Anbieters selbst zurückzuführen ist, d.h. der vom (Magnet-)Betrieb „selbst generiert“ wird. NELSON

führt hier als Beispiel an, dass es sehr umsatzfördernd ist, wenn allgemein bekannt ist, dass der Anbieter eine große Auswahl (Sortimentstiefe) bereithält

Shared business: Umsatz, der auf die Anziehungskraft der anderen Betriebe bzw. die gemeinsame Anziehungskraft aller Anbieter am Angebotsstandort zurückzuführen ist.

Dieser Teil des Geschäftserfolges wird durch die Möglichkeit von Kopplungs- und Vergleichskäufen generiert. Bei branchengleichen bzw. konkurrierenden Anbietern

„wirken“ Kumulationsvorteile (gemeinsame Anziehungskraft der Mitbewerber), bei andersartigen Anbietern Kompatibilitätsvorteile (d.h. die Angebotsformen sind untereinander kompatibel, da sie sich für eine Kopplung anbieten)

Suscipient business: Umsatz, der weder durch das Geschäft selbst noch durch Geschäfte in der Nachbarschaft generiert wird, sondern durch Personen, die ein bestimmtes Ziel in der Nähe des Geschäftes haben und deshalb zu dessen Kunden werden; dieser Teil des Umsatzes wird durch externe Frequenzbringer beschert (z.B.

Geschäfte am Flughafen oder in unmittelbarer Nähe der Arbeitsstätte)

Prinzipiell lassen sich alle drei Erfolgselemente als Agglomerationsvorteile interner oder externer Art interpretieren; die hier im Fokus stehenden nachfrageseitigen Effekte sind aber die Facetten des shared business (Kumulations- und Kompatibilitätsvorteile).

2.4.2 Das Prinzip der Konkurrenzanziehung (Kumulationsvorteile)

In NELSONs Standortfaktorenkatalog spielt neben nachfrage- und immobilienbezogenen Aspekten auch der Faktor Konkurrenz eine wesentliche Rolle. Die Berücksichtigung der Konkurrenzstandorte bei der Standortwahl kann entweder in der Entscheidung für eine

„Abfang“-Position (d.h. Konkurrenzmeidung) oder aber in einer bewussten Ansiedlung in unmittelbarer Nähe zu gleichartigen Anbietern resultieren (d.h. Konkurrenzanziehung) resultieren; in letztgenanntem Fall überwiegen also die Vorteile durch die kumulierte Anziehungskraft aller Anbieter gegenüber den Nachteilen des Wettbewerbs (NELSON 1958, S. 54). Bei diesen hier als Kumulationsvorteile bezeichneten Effekten handelt es sich gemäß der gängigen Abgrenzung (siehe Kap. 2.1.2) um Lokalisierungsvorteile. Der Ansatz von NELSON behandelt also die Agglomeration von gleichartigen Anbietern und wird oftmals als wichtigste und – gemeinsam mit dem HOTELLING-Modell (siehe Kap. 2.2.3) – als erste theoretische Basis für die räumliche Konzentrationen konkurrierender Einzelhandelsbetriebe aufgefasst (z.B. BROWN 1989c, S. 4; DAMIAN et al. 2011, S. 459).

Die Kernaussage dieser Theory of cumulative attraction (auch: cumulative generation) ist, dass kompetitive Anbieter für die Konsumenten attraktiver sind, wenn sie räumlich geballt lokalisiert sind, als wenn sie weit voneinander getrennt liegen: „A given number of stores dealing in the same merchandise will do more business if they are located adjacent or in proximity to each other than if they are widely scattered” (NELSON 1958, S. 58).

Ob bei der Standortwahl von Einzelhandelsbetrieben die Konkurrenznähe oder stattdessen eine Konkurrenzmeidung vorteilhaft ist, lässt sich nach NELSON (1958, S. 58) auf der Grundlage der Eigenanziehungskraft (Generative business) und dem Charakter der angebotenen Sortimente differenzieren:

 Je weniger (bzw. mehr) Aufwand beim Kauf betrieben wird und je standardisierter (bzw. ausdifferenzierter) die angebotenen Güter sind, desto eher sollte eine Konkurrenzmeidung (bzw. Konkurrenzballung) betrieben werden. Anbieter von stark ausdifferenzierten Gütern (z.B. hinsichtlich Design, Farbe usw.) sollten demnach eine Agglomeration mit Konkurrenten bevorzugen, Anbietern von standardisierten Gütern empfiehlt sich eher die Lokalisierung in einer „Abfang“-Position

 Je geringer (bzw. größer) die eigene Kundenanziehungskraft, desto wichtiger (bzw.

unwichtiger) ist die räumliche Nähe zu Mitbewerbern

Der Grundgedanke der Konkurrenzanziehung bei NELSON ist also, dass das gemeinsame Auftreten von Konkurrenten für eine größere Auswahl sorgt und Vergleichskäufe ermöglicht.

Dies gilt insbesondere für shopping goods, bei denen (modische) Präferenzen eine große Rolle spielen und der Preis und die Qualität zwischen den Produktvarianten sehr unterschiedlich sind (BROWN 1994, S. 555; EATON/LIPSEY 1979, S. 422). Als aus seiner Sicht besonders treffendes Beispiel wählt NELSON hierfür den Schuheinzelhandel: „Four shoe stores located close together will do more business than the same four stores located several blocks apart. When clustered, they become a kind of ‘shoe center’ and the total trading area of the four stores is enlarged by their proximity. Frequently their percentage

share of business from that market area is also enlarged – that is, depth of penetration is increased as well as the size of the trade area” (NELSON 1958, S. 58).

Konkurrierende Anbieter gleicher Branche können nach NELSON also, wenn sie sich räumlich an einem Angebotsstandort konzentrieren, höhere Kunden-/Kaufkraftzuflüsse generieren als sie dies in der Summe als einzelne Anbieter könnten; hierfür sorgt ihr als implizit zusammengehörig empfundenes gemeinsames Angebot (hier: „shoe center“), dessen Resultat ein gemeinsames (größeres) Marktgebiet ist. Eine gemeinsame Anziehungskraft für die Konsumenten kommt allerdings nicht nur bei gleichen Anbietern zustande, sondern lässt sich auf verschiedenste Angebotskombinationen ausdehnen, was von NELSON als (Sortiments-)Kompatibilität bezeichnet wird.

2.4.3 Das Prinzip der Kompatibilität (Kompatibilitätsvorteile)

Nach NELSON spielt die Kombination verschiedener Sortimente bzw. Anbieter eine entscheidende Rolle für den betriebswirtschaftlichen Erfolg der Betriebe in einer Einzelhandelsagglomeration; insbesondere werden geplante Einkaufszentren dahingehend aufgebaut, dass sie einen optimierten Angebotsmix aus gleich- und ungleichartigen Anbietern beinhalten (NELSON 1958, S. 63f.). Sofern die unmittelbare räumliche Nähe eines Anbieters zu einem anderen – alle sonstigen Bedingungen konstant gelassen – dessen Kunden-/Kaufkraftzufluss positiv beeinflusst, liegt eine Kompatibilität zwischen diesen Anbietern vor; diese besteht entweder bei Anbietern von komplementären Gütern, die beim Einkauf miteinander gekoppelt werden, oder bei gleichartigen Gütern, die von den Konsumenten hinsichtlich der Warenqualität, des Preises usw. miteinander verglichen werden (ebd., S. 66). NELSON sieht also auch konkurrierende Anbieter als „kompatibel“ im Sinne der kumulierten Anziehungskraft (siehe Kap. 2.4.2) an; beide genannten Prinzipe – Kumulations- und Kompatibilitätsvorteile – sind demnach nicht als voneinander losgelöst zu betrachten, sondern greifen ineinander. Diese hier so genannten Kompatibilitätsvorteile sind demnach zwar in erster Linie als Urbanisierungsvorteile zu interpretieren, jedoch auch als Lokalisierungsvorteile, wenn sie sich auf die Ballung von kompetitivem Angebot beziehen.

Basierend auf langjährigen empirischen Untersuchungen von mehreren hundert Einzelhandelsagglomerationen und über 100.000 individuellen Einkaufsfahrten hat NELSON

induktiv seine Rule of retail compatibility (Gesetz der Agglomeration im Einzelhandel bei verbundenen Bedarfen) abgeleitet (NELSON 1958, S. 66f.; SCHENK 1979, S. 33); demnach besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe des Kundenaustauschs zwischen zwei Geschäften und ihrer Umsatzhöhe: „Two compatible businesses located in close proximity will show an increase in business volume directly proportionate to the incidence of total consumer interchange between them, inversely proportionate to the ratio of the business volume of the larger store to that of the smaller store, and directly proportionate to the sum of the rations of purposeful purchasing to total purchasing in each of the two stores”

(NELSON 1958, S. 66). Dieses „Gesetz“ bezieht sich sowohl auf branchengleiche als auch branchenungleiche Agglomerationen, so lange die beiden Anbieter miteinander „verbunden“

sind; von NELSON ist auch eine mathematische Formalisierung dieser Regel vorgenommen worden (siehe Formel 1). Die Modellformel ist allerdings zur konkreten Berechnung insofern in ihrer Aussagekraft eingeschränkt, dass immer nur zwei Betriebe Berücksichtigung finden, was die mögliche Agglomerationswirkung von Dritten ausklammert (SCHENK 1979, S. 34).

  

VL = Umsatzvolumen des größeren Geschäftes PL = Geplante Käufe im größeren Geschäft VS = Umsatzvolumen des kleineren Geschäftes PS = Geplante Käufe im kleineren Geschäft

Dieselben empirischen Daten zum Konsumentenverhalten und den Handelsumsätzen, die dem genannten „Gesetz“ zu Grunde liegen, hat NELSON außerdem in Matrizen zur Kompatibilität von Anbietern (Compatibility tables) verarbeitet; aus ihnen ist der jeweilige Kompatibilitätsgrad zwischen Angebotsformen des Einzelhandels sowie weiterer konsumentenorientierter Dienstleistungen an verschiedenen Typen von Angebotsstandorten (z.B. geplantes Einkaufszentrum, Innenstadtbereich) abzulesen. Der Grad der Kompatibilität wird operationalisiert durch den prozentualen Grad des Kundenaustauschs zwischen den beiden Angebotsformen, d.h. wie hoch der Anteil der Kunden ist, die den Besuch beider Anbieter miteinander verbinden (NELSON 1958, S. 78):

 Hoch kompatibel: 10-20 %

 Mäßig kompatibel: 5-10 %

 Schwach kompatibel: 1-5 %

 Inkompatibel: Kundenaustausch spielt keine Rolle

 Schädlich: Die räumliche Nähe hat – alle anderen Bedingungen konstant gelassen – einen negativen Einfluss auf den Kunden-/Kaufkraftzufluss

In Tabelle 1 finden sich Auszüge aus der Kompatibilitätsmatrix für verschiedene Angebotsformen in mittleren bis großen Einzelhandelsagglomerationen (Einkaufszentren und mittelgroße Geschäftsstraßen). Aus der Tabelle ist beispielsweise ablesbar, dass Lebensmittelmärkte mit anderen Anbietern von Gütern des täglichen Bedarfs (z.B. Bäckerei, Metzgerei) vergleichsweise häufig gekoppelt werden, wohingegen Anbieter von Gartenartikeln keinen Einfluss haben und die räumliche Nähe zu einem Drive-in-Restaurant tendenziell schädlich ist. Möbel sind hingegen zu keiner anderen Angebotsform hoch kompatibel, jedoch zu den meisten schwach kompatibel. Bekleidungsanbieter sind vor allem mit anderen Bekleidungsanbietern sowie mit Schuhgeschäften kompatibel.

Kritisch anzumerken ist vor diesem Hintergrund, dass zur Operationalisierung der Schädlichkeit keine Angaben gemacht werden (BROWN 1994, S. 551); möglicherweise ist diese Kategorie über Vergleichsrechnungen zwischen Anbietern mit unterschiedlichem Umfeld (z.B. Nähe zu einer Tankstelle oder nicht) entstanden. Auch bleibt, wie NELSON

(1958, S. 78) selbst anmerkt, die jeweilige Größe der untersuchten Anbieter bei der Analyse der Kompatibilität unberücksichtigt. Dennoch zeigen die Kompatibilitätsmatrizen von NELSON

klare und plausible Tendenzen einer horizontalen und/oder vertikalen Kopplung im Sinne von LANGE (1973) auf (siehe Kap. 2.3.3).

Tabelle 1: NELSON – Kompatibilitätstabelle für verschiedene Angebotsformen (Auszüge)

Quelle: Eigene Darstellung nach NELSON (1958, S. 74f.), verändert

Die Überlegungen von NELSON sind, im Gegensatz zu den vorher diskutierten Ansätzen der Standorttheorie, als induktiv gewonnene „Gesetze” nicht an strikte Verhaltensannahmen oder bestimmte Menschenbilder gekoppelt; anders als z.B. bei der Theorie von CHRISTALLER

erübrigt sich daher eine Kritik an unrealistischen Ausgangsbedingungen. Abgesehen von praktischen Einschränkungen der Kompatibilitätsformel ist das Werk von NELSON im Hinblick auf seine als mangelhaft empfundene Verallgemeinerbarkeit beanstandet worden (BROWN

1993, S. 202). Es steht jedoch außer Frage, die Kompatibilitätstabellen oder die Formel analog auf alle Angebotsstandorte übertragen zu wollen; vielmehr ist der Ansatz von NELSON

als Ideengeber für eine intensive Beschäftigung mit Einzelhandelsagglomerationen zu verstehen. Die Grundidee – „[…] retail agglomerations are more than the sum of their parts“

(TELLER 2008, S. 383) – hat maßgeblich dazu beigetragen, auch die räumliche Ballung von konkurrierenden Anbietern ausführlich zu behandeln, was z.B. durch CHRISTALLERs Theorie nicht geleistet wurde. Analysen zur Kompatibilität von branchengleichen und -ungleichen Anbietern sind ein höchst aktueller Untersuchungsgegenstand (z.B. WOTRUBA 2014, S. 93f.).

Zusammenfassend betrachtet bilden NELSONs Ausführungen zu Sortimentskompatibilität und Konkurrenzanziehung wichtige Ergänzungen zu den deduktiv abgeleiteten Standorttheorien.