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2.3 Die Raumwirtschaftstheorien von C HRISTALLER , L ÖSCH und L ANGE

2.3.1 Die Theorie der zentralen Orte von C HRISTALLER

2.3.1.6 Agglomerationen und räumliche Disparitäten der Ausstattung

Da die Möglichkeit von Kopplungskäufen einen zentralen Ort bzw. Angebotsstandort aus Sicht der Konsumenten attraktiver macht, wirkt sich dies positiv auf seine Kundenzuflüsse aus dem Marktgebiet aus (siehe Kap. 2.3.1.4). Für die Perspektive des Grundmodells, in der nur Einzweckeinkäufe stattfinden, ist dieser Gedanke ohne Belang, nicht jedoch dann, wenn Mehrzweckeinkäufe in Kombination mit einer Transportkostenminimierung angenommen werden und die Konsumenten in den Nachfrageorten ihre Einkaufsstättenwahl danach ausrichten. Dieser Zusammenhang schlägt sich in mehreren Gesichtspunkten der dynamischen Entwicklung von zentralörtlichen Systemen nieder.

Da die Attraktivität von Angebotsstandorten durch die Anzahl der dort angebotenen Güter ausgemacht wird, resultieren angebotsseitige Veränderungen, d.h. Hinzukommen bzw.

Abbau einzelner Angebotsformen, notwendigerweise in der Veränderung dieser Attraktivität.

Wird an einem zentralen Ort ein bestimmtes Gut nicht mehr angeboten (z.B. wegen der Schließung eines einzelnen Betriebs), kann dies unter der Bedingung, dass dieses Gut im Rahmen von Mehrzweckeinkäufen mit dem Erwerb eines anderen Gutes gekoppelt wird, zu einer Umlenkung der Kundenflüsse führen: Die Einkaufsorientierung der Verbraucher ändert sich dahingehend, dass sie – zwecks Aufwandsminimierung – einen weiter entfernten

Angebotsstandort aufsuchen, an dem sie beide Güter erwerben können (CHRISTALLER 1933, S. 95f.). In einer Abwägung zwischen Transportkosten und Nutzen der Angebotsstandorte ist der weiter entferntere aufgrund seines Kopplungspotenzials nun also attraktiver als der nähere. Analog wirkt sich die Ausweitung des Angebots an einem Angebotsstandort in einer Steigerung der Gesamtnachfrage aus: „Nach gleichen Überlegungen wird ein zentraler Ort, der eine neue Art eines zentralen Gutes anbietet, eine höhere Zunahme des Verkaufs an zentralen Gütern überhaupt zu verzeichnen haben, als auf das neue zentrale Gut allein entfällt, einmal durch die Ersparung von Wegekosten für die disperse Bevölkerung, zum anderen durch Zuwanderung der Nachfrage nach den bisherigen zentralen Gütern aus den benachbarten Gebieten“ (ebd., S. 96).

Die Attraktivität zentraler Orte spiegelt sich wiederum in der Größe ihres Marktgebietes: Eine Zunahme (bzw. Abnahme) an zentralen Gütern stärkt (bzw. schwächt) den jeweiligen zentralen Ort im Vergleich zu konkurrierenden Angebotsstandorten, da die räumliche Ausdehnung seines Marktgebietes wächst (bzw. schrumpft): „Eine Änderung der Bedeutung eines zentralen Orts wirkt unmittelbar auf eine Änderung der Reichweite der zentralen Güter […] dadurch, dass mehrere Arten von zentralen Gütern ‚in einem Gang’, d.h. mit einmaliger Aufwendung der Wegekosten, erworben werden können […] Die Folge von einer Vermehrung bzw. Verminderung der Anzahl von Güterarten, die an einem zentralen Ort angeboten werden, ist […] eine Vermehrung bzw. Verminderung der Bedeutung des zentralen Orts; es vergrößert bzw. verringert sich entsprechend die Reichweite aller an ihm angebotenen Güterarten, weshalb die Bedeutung des Orts um mehr als nur um den Verbrauch der zusätzlichen bzw. abgängigen Güterarten steigt bzw. sinkt“ (ebd., S. 109). Der Zuzug (bzw. Wegfall) eines einzelnen Anbieters betrifft also auch alle anderen Anbieter am selben Angebotsstandort in positiver (bzw. negativer) Weise, da sie über kundenseitige Kopplungen miteinander in Beziehung stehen.

Wenn nun die Kopplungsmöglichkeiten in den gut ausgestatteten Angebotsstandorten immer weiter ausgebaut werden, dehnen sich dementsprechend deren Marktgebiete auf Kosten der Orte mit geringerem Kopplungspotenzial aus, was wiederum die betriebswirtschaftliche Tragfähigkeit ihres Angebotes beeinträchtigt: „Wird die Reichweite […] vergrößert, so heißt das, dass das betreffende zentrale Gut, das bisher vielleicht an allen zentralen Orten niederer Ordnung angeboten werden musste, damit das ganze Land versorgt wird, nur noch an wichtigeren zentralen Orten angeboten zu werden braucht, wo das Angebot in größerer Menge erfolgen kann, da jetzt ein größeres Gebiet innerhalb der Reichweite liegt; mit der größeren Zentralisation der Produktion bzw. des Angebots ist aber in der Regel eine Verbilligung verbunden, was einen Vorsprung der zentralen Orte höherer Ordnung vor den zentralen Orten niederer Ordnung in Bezug auf dieses Gut mit sich bringt […]“ (ebd., S.

110f.). Aufgrund der Ausdehnung der Marktgebiete großer Angebotsstandorte wird also das Angebot in den kleineren möglicherweise grundsätzlich in Frage gestellt, wobei die Folge sein kann, „[…] dass die kleineren Märkte absterben“ (ebd., S. 111).

Agglomerationsvorteile durch die Möglichkeit von Kopplungskäufen und damit verknüpften Preissenkungen aufgrund von steigenden Skalenerträgen bei der Güterproduktion (z.B.

Verkaufsflächenerweiterung eines Einzelhandelsbetriebs in Verbindung mit größeren Minimal- und Maximalumsätzen) werden also dahingehend wirksam, dass größere Angebotsstandorte gegenüber kleineren über eine bessere Marktposition verfügen. Dieser Effekt wird stärker, je mehr Angebot in den ranghohen zentralen Orten hinzukommt bzw. in

den rangniedrigen zentralen Orten wegbricht; die räumlichen Disparitäten zwischen den Angebotsstandorten werden also zirkulär-kumulativ verstärkt, bis ggf. sogar kleinere zentrale Orte vollständig verschwunden sind und somit räumliche Versorgungslücken – auch bei Gütern niedrigen Ranges (!) – hinterlassen. Gesteigert werden kann dieser Effekt auch durch Veränderungen auf Betriebsformenebene, wenn aufgrund sich ausdehnender Marktgebiete gewisse zentrale Güter in ihrer Rangstufe steigen, da sie sukzessive von Anbietern mit größerer Sortimentsbreite und -tiefe angeboten werden, die tendenziell (nur) an ranghohen Angebotsstandorten lokalisiert sind; der Ausbau solcher Anbieter – als Beispiel werden Warenhäuser genannt – geht wiederum auf Kosten kleinerer Anbieter, die (auch) in kleineren Angebotsstandorten vorkommen, und somit auch zu Lasten dieser Orte (ebd., S. 102).

Auch nachfrageseitige Veränderungen können zu Lasten kleiner bzw. zu Gunsten großer Angebotsstandorte mit hohem Kopplungspotenzial gehen. Bei schwindender Kaufkraft im gesamten ZO-System sind Auswirkungen auf die Preisstruktur zu erwarten: In den kleinen Angebotsstandorten werden die Preise der Güter sinken, um weiterhin Kunden zu binden;

dieser Trading-down-Effekt („Ausverkauferscheinung“) ist jedoch nur vorübergehend, da sich die Nachfrager langfristig in Richtung der besser ausgestatteten Angebotsstandorte orientieren, was zu Lasten der kleinen geht. Diese Aspekte werden noch verstärkt, wenn die Nachfrageelastizität der zentralen Güter berücksichtigt wird, d.h. die Zu- oder Abnahme der Nachfrage nach diesen Gütern unter den Bedingungen von Einkommens- und/oder Angebotsveränderungen; auch hier ist eine Stärkung ranghöherer zentraler Orte zu erwarten, da hochelastische Güter (Güter des mittel- und langfristigen Bedarfs mit großer oberer und unterer Reichweite) bevorzugt dort angeboten werden (ebd., S. 90 u. 92f.).

Einen weiteren wesentlichen Aspekt der dynamischen Theorie bilden Veränderungen des Transportkostenniveaus: Nach CHRISTALLER (1933, S. 105ff.) führt die Absenkung von Transportkosten (z.B. geringere ÖPNV-Kosten, kürzere Fahrtzeiten) im ZO-System dazu, dass ein größerer Teil des Haushaltseinkommens der Konsumenten für die zentralen Güter selbst aufgewendet werden kann, was in einer höheren Nachfrage nach diesen Gütern bzw.

einer steigenden realen Kaufkraft resultiert. Die Haushalte haben zudem die bequemere und/oder günstigere Möglichkeit, weiter entfernte Angebotsstandorte mit besserer Ausstattung (d.h. höheren Ranges) zu frequentieren, was zur Verschiebung der Nachfrage in Richtung dieser Orte führt. Die Höhe der Transportkosten beeinflusst also, ähnlich wie der Ausbau des Angebots, die räumliche Ausdehnung der Marktgebiete zentraler Orte, wobei diese umso mehr profitieren, je mehr Kopplungsmöglichkeiten sie bieten (ebd., S. 110f.).

In der dynamischen Betrachtung des zentralörtlichen Systems werden also deutlich die simultanen Wachstums- und Schrumpfungsprozesse zentraler Orte im Kontext von positiven Agglomerationseffekten aufgezeigt; das Kundenverhalten bringt einen Anreiz zur Ballung von Anbietern verschiedener Branchen mit sich, die über Kopplungsbeziehungen miteinander verbunden sind (Urbanisierungsvorteile). Das Ergebnis ist eine räumliche Konzentration des Angebotes von zentralen Gütern an großen Angebotsstandorten; diese wachsen, während kleine schrumpfen und ggf. sogar vollständig aufgegeben werden (d.h. Polarisierung der Angebotsstandorte). Angefacht wird dies noch durch eine bessere Erreichbarkeit weiter entfernter, spärlich gestreuter Angebotsstandorte hohen Ranges. Das Endresultat ist die Konzentration des Angebots an wenigen großen zentralen Orten und somit räumliche Disparitäten der Ausstattung bzw. Versorgung mit zentralen Gütern, was eine Folge des

freien Marktgeschehens ist, „[…] eine Bevorzugung der großen Städte auf Kosten der kleinen, aus streng wirtschaftlichen Erwägungen heraus“ (ebd., S. 107).

Unberücksichtigt bleiben in dieser Betrachtung allerdings Lokalisierungsvorteile19. Außerdem wird das Kopplungsverhalten allein durch die Transportkostenminimierung erklärt, während andere mögliche Gründe keine Rolle spielen; dieses Konsumentenverhalten unterliegt selbst auch keiner Dynamik. Es existieren viele Erweiterungen der Zentrale-Orte-Theorie, die das Wirkungsgeflecht von Kopplungskäufen und Agglomerationen zum Gegenstand haben (z.B.

BÖKEMANN 1967, EATON/LIPSEY 1982, FORSTER/BRUMMELL 1984, FUJITA et al. 1988, GHOSH

1986, KOHSAKA 1984, LANGE 1973, MULLIGAN 1984, VANDENBROUCKE 1995); ein diesbezüglich besonders hervorstechender Theorieansatz (LANGE 1973) wird in Kap. 2.3.3 besprochen. Zunächst soll aber die Theorie von LÖSCH (1944) diskutiert werden.