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3. Theoretischer Rahmen

3.6. Das Literacy-Konzept

sich die positive Selbstwirksamkeitserwartung, wobei ein negativer Einfluss als Folge der Zuschreibung eines Erfolges auf günstige Umstände möglich ist. Zusammenfassend lässt sich für die volitionale Phase die Aussage treffen, dass es wichtig ist, „konstruktiv zu planen, sich erreichbare Unterziele zu setzen, sich Belohnungen zu schaffen und verschiedene Be-wältigungsoptionen zur Verfügung zu haben“ (Schwarzer 2004, S. 96).

Das sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Handelns erwies sich bereits in einigen Studien mit ernährungsbezogenen Fragestellungen als passendes theoretisches Erklä-rungsmodell. Martinez-Brockmann und KollegInnen demonstrierten den erfolgreichen Ein-satz des Modells in der Vorhersage des Stillverhaltens von Müttern mit niedrigem Sozialsta-tus (Martinez-Brockman et al. 2017). Auch de Jager und KollegInnen fanden in ihrem Review zu psychosozialen Faktoren – darunter auch die Selbstwirksamkeitserwartung – im Zusam-menhang mit dem ausschließlichen Sillen über einen Zeitraum von sechs Monaten eine star-ke Vorhersagekraft der psychosozialen Faktoren (Jager et al. 2013).

Zusammenfassend kann hinsichtlich der Forschungsfragen dieser Arbeit angenommen wer-den, dass das sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Handelns als gut geeignet erscheint um die Einstellungen zur Kinderernährung aus Perspektive der Mütter erklären zu können, da das Modell neben der Motivation zu einem bestimmten Gesundheitsverhalten auch die Art der Bewältigung und den Umgang mit Problemen (Volition) berücksichtigt, was im Zusammenhang mit dem hier vorliegenden Forschungsgegenstand von besonderer Be-deutung ist. Da in dem Modell ein Schwerpunkt auf der Handlungsausführung steht sowie den diesbezüglichen hemmenden und fördernden Faktoren, wird dieses Modell im Rahmen des Empirie Theorie-Transfers (vgl. Kapitel 6.2.) zum Einsatz kommen.

Fä-higkeiten: „Gesundheitsinformationen erwerben, verstehen und beurteilen, sich über Ge-sundheit/Krankheit austauschen, gesundheitsrelevante Entscheidungen treffen und Gesund-heitsinformationen für den Erhalt und die Förderung von Gesundheit erfolgreich zu nutzen“

(Abel und Sommerhalder 2015, S. 923).

Nutbeam prägte mit seiner ersten Definition von Health Literacy eine Differenzierung in Form eines mehrdimensionalen Konstrukts in drei Fähigkeitsbereiche: die funktionale, die interak-tive und die kritische Gesundheitskompetenz. Die funktionale Gesundheitskompetenz bein-haltet die Fähigkeit, nach gesundheitsrelevanten Informationen zu suchen bzw. diese auch zu finden und deren Inhalte zu verstehen (Nutbeam 2000). Übertragen auf die Stellung des Patienten in unserem Versorgungssystem meint diese Kompetenz den Wissenserwerb von Gesundheitsinformationen und Risiken sowie die angemessene Nutzung medizinischer An-gebote (Smith et al. 2013). Die Fähigkeit, das erworbene Gesundheitswissen in Interaktion mit anderen Individuen auszutauschen und in unterschiedlichen Situationen anzuwenden, ist Inhalt der interaktiven Gesundheitskompetenz (Nutbeam 2000). Dazu zählen auch Gesprä-che über gesundheitsrelevante Themen in der Familie (Abel und Sommerhalder 2015). Mit der kritischen Gesundheitskompetenz werden stärker kognitive Fähigkeiten angesprochen, die im Zusammenhang mit sozialen Fähigkeiten dazu dienen, Informationen kritisch zu ana-lysieren und damit eine bessere Kontrolle über gesundheitsbezogene Lebenssituationen erreichen zu können (Nutbeam 2000). Dies beinhaltet neben dem „selektiven Umgang mit den Angeboten des Gesundheitssystems genauso auch eine bewusste bzw. selbstbewusste und kritische bzw. selbstkritische Lebensgestaltung“ (Abel und Sommerhalder 2015, S. 54).

Laut Abel und Sommerhalder wird mit der kritischen Gesundheitskompetenz die Fähigkeit beschrieben, mit gesundheitlichen Fragen und diesbezüglichen normativen Erwartungen selbstbewusst umzugehen und schreibt dieser Form von Kompetenz einen emanzipatori-schen Charakter zu. Darüber hinaus lässt sich besonders die kritische Gesund-heitskompetenz mit dem Empowerment8-Ansatz vereinen (Abel und Sommerhalder 2015).

Bei Betrachtung der Gesundheitskompetenz im Zusammenhang mit dem Sozialstatus konn-ten Schaeffer und KollegInnen in der repräsentativen HLS-GER nachweisen, dass 54,3% der deutschen Bevölkerung über eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz verfügt (Schaeffer et al. 2017). Dabei konnte die Forschergruppe einen sozialen Gradienten in der Gesund-heitskompetenz herausstellen und zeigen, dass Personen mit niedrigem Sozialstatus (78,3%) und Menschen mit Migrationshintergrund (70,5%) einen prozentual höheren Anteil

8 „Empowerment zielt darauf ab, dass Menschen die Fähigkeit entwickeln und verbessern, ihre soziale Lebens-welt und ihr Leben selbst zu gestalten und sich nicht gestalten lassen“( Brandes und Stark 2016, S. 1). Über-setzt werden kann der Begriff Empowerment als Selbstbefähigung oder Selbstbemächtigung (Sperlich 2009).

an eingeschränkter Gesundheitskompetenz aufweisen im Vergleich zu Personen höherer Sozialstatusgruppen und Personen ohne Migrationshintergrund (s. ebd.).

Das Health Literacy-Konzept findet auch Anwendung in anderen, stärker differenzierten gesundheitsbezogenen Kontexten wie der Mental Health Literacy und der Food/Nutrition Literacy, um nur einige zu nennen.

Food Literacy- und Nutrition Literacy-Konzept

Hinsichtlich der Forschungsfrage dieser Arbeit bietet sich mit dem theoretischen Überbau des Health Literacy-Konzepts das Food Literacy- oder Nutrition Literacy-Konzept im Speziel-len an, die sich beide mit Literacy im Kontext von Ernährung beschäftigen. Bislang existiert auch hier keine einheitliche Definition für das Food oder das Nutrition Literacy-Konzept. Krause und KollegInnen kamen in ihrem systematischen Review zu dem Thema Definitionen des Food Literacy- und des Nutrition Literacy-Konzepts zu der Erkenntnis, dass die beiden Begriffe in der Praxis koexistieren ohne dass beide Konzepte klar voneinander abgegrenzt werden. Eine Gemeinsamkeit beider Konzepte besteht darin, dass sie spezifi-sche Formen der Health Literacy darstellen (Krause et al. 2016). Velardo hat in einem Artikel die Feinheiten zwischen den konzeptionellen Dimensionalisierungen der Begrifflichkeiten von Health Literacy, Food Literacy und Nutrition Literacy herausgearbeitet und ist auch zu dem Schluss gekommen, dass das Food Literacy- und das Nutrition Literacy-Konzept in der Lite-ratur häufig abwechselnd verwendet werden. Ebenso konnte Velardo zeigen, dass die drei Fähigkeitsebenen aus dem Health Literacy-Konzept von Nutbeam (s. oben) in einen ernäh-rungsbezogenen Kontext (s. Tabelle 5) gesetzt werden können (Velardo 2015).

Verschiedene Autoren konzeptualisieren Nutrition das Food Literacy-Konzept als einen spe-zifischen Bereich der Health Literacy, der sich durch die Fähigkeit auszeichnet, auf Ernäh-rungsinformationen zuzugreifen sowie diese interpretieren und nutzen zu können (Carbone und Zoellner 2012; Neuhauser et al. 2007).

Tabelle 5 Analytisches Raster zu der Sortierung von Elementen aus der Nutrition und Food Literacy

Health Literacy Form

Kurze Begriffe, Themen und Themenfelder des Food Literacy- und Nutrition Literacy-Konzeptes

Die Fähigkeit....

functional health literacy

…Informationen über Lebensmittel und Ernährung - zu erlangen

- zu verstehen - zu nutzen

Wissen über verschiedene Themenfelder im Bereich Lebensmittel und Ernährung (z.B. Wissen über die Ernährungsempfehlungen)

…praktische Fähigkeiten um eine (gesunde) Mahlzeit zubereiten zu können

interactive health literacy

…Informationen über Lebensmittel und Ernährung mit anderen und in Interaktion untereinander

- auszutauschen - zu teilen - zu diskutieren

Teilnahme an gemeinsamen Aktionen (z.B. gemeinsames Kochen) critical health

lite-racy

kritische Beurteilung von Informationen über Lebensmittel und Er-nährung

- den Einfluss von Entscheidungen zu der Ernährung und zu den Lebensmitteln auf die Gesellschaft wahrnehmen

- Lebensmittel als einen integrativen Bestandteil eines komple-xen Produktions- und Distributionssystems verstehen - den Einfluss verschiedener sozialer Bedingungen auf die

Le-bensmittelwahl und das Ernährungsverhalten wahrnehmen nach (Krause et al. 2016, Appendix, S.1), eigene Darstellung

Das Food Literacy-Konzept beinhaltetet dagegen ein breiteres Spektrum an Kompetenzen, die im Ernährungsgeschehen von Bedeutung sind (Krause et al. 2016).

Beispiele für Begriffsdefinitionen bzw. Konzeptualisierungen des Food Literacy-Konzeptes lauten wie folgt:

„Food Literacy ist die Fähigkeit, den Ernährungsalltag selbstbestimmt, verantwortungsbe-wusst und genussvoll zu gestalten“ (aid 2018).

„The everyday practicalities associated with navigating the food system and using it in order to ensure a regular food intake that is consistent with food recommandations. ... Food literacy is the scaffolding that empowers individuals, households, communitys or nations to protect diet quality through change and strengthen dietary resilience over time. It is composed of a collection of inter-related knowledge, skills and behaviors, required to plan, manage, select,

prepare and eat food to meet needs and determine intake” (Vidgen und Gallegos 2014, S.

54).

„Food literacy is a set of skills and attributes that help people sustain the daily preparation of healthy, tasty, affordable meals for themselves and their families. Food literacy builds resili-ence, because it includes food skills (techniques, knowledge and planning ability), the confi-dence to improvise and problem solve, and the ability to access and share information. Food literacy is made possible through external support with healthy food access and living condi-tions, broad learning opportunities, and positive socio-cultural environments.” (Desjardins und Azevedo 2013, S. 6).

Das Food Literacy-Konzept kommt hier zum Einsatz, weil es ein breiteres Spektrum an Fä-higkeiten abdeckt als das Nutrition Literacy-Konzept. Dabei werden die Kompetenzen aus dem Food Literacy-Konzept genutzt, um die Fähigkeiten der in dieser Arbeit gebildeten Ty-pen (vgl. Kapitel 5.6.1.) im Sinne eines Empirie Theorie-Transfers und der Weiterentwicklung des sozial-kognitiven Prozessmodells gesundheitlichen Handelns (vgl. Kapitel 6.2.) einord-nen und erklären zu köneinord-nen.

Es fehlt jedoch ein Modell, das sich mit dem Food Literacy-Konzept im Zusammenhang mit Einstellungen von Müttern zur Kinderernährung auseinandersetzt. Krause und KollegInnen plädieren in ihrem systematischen Review für eine verstärkte Forschungsaktivität im Bereich der interaktiven Kompetenzen des Food Literacy-Konzeptes, da diese bislang eher selten diskutiert und untersucht wurden. Daneben formulieren sie einen erhöhten Forschungsbedarf hinsichtlich der Rolle von Motivation, Einstellungen und Verhalten im Zusammenhang mit dem Food Literacy-Konzept. Zwar werden diese Determinanten im Bereich des Health Lite-racy-Konzeptes schon diskutiert, jedoch beim Konzept der Food Literacy noch nicht weiter vertieft (Krause et al. 2016). Sörensen und KollegInnen haben bspw. 2012 ein integratives Modell des Health Literacy-Konzeptes entwickelt, in dem die Motivation zu Wissen und Fä-higkeiten eingebettet ist (Sörensen et al. 2012). Das Modell beinhaltet neben den vier Hauptdimensionen (Zugang, Verständnis, Beurteilung und Anwendung von Informationen) auch distale und proximale Faktoren. Wobei zu den distalen Faktoren gesellschaftliche Fak-toren und UmweltfakFak-toren zählen und unter die proximalen FakFak-toren persönliche und situati-onsbezogene Determinanten fallen (Sörensen et al. 2012). Dieses Modell wird zum jetzigen Zeitpunkt als vielversprechend im Hinblick auf die theoretische Untermauerung der Ergeb-nisse dieser Arbeit angesehen, weil es mit der Motivation zu Wissen und Fähigkeiten auch die Einstellungen der Subjekte beinhaltet.