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Das Bild als ‚anti-Beweis‘: der Flur zum Tatort

Im Dokument Das Bild als Zeuge (Seite 183-187)

134 6 von tatorten unD DeteKtiven

6.4 Detektivgeschichten .1 Sophie Calles ‚The Shadow‘

6.5.2 Das Bild als ‚anti-Beweis‘: der Flur zum Tatort

Um das Spezifische an Demands künstlerischem Verfahren herauszuarbeiten, werde ich im Folgenden zwei weitere Arbeiten exemplarisch vorstellen, in denen sich der dargestellte Ort über das weitere Bedeutungsumfeld als Tatort identifizieren lässt.

1995, bereits zwei Jahre vor der Fotografie ‚Badezimmer‘, entstand die Arbeit

‚Flur‘. Mit einer Größe von 183,5 x 270 cm ist ‚Flur‘ ein wesentlich größeres Format als

‚Badezimmer‘, das 160 x 122 cm misst (Abb. 101). Beim Betrachten des Bildes fällt der Blick

567 Hierauf verweist das Seitenverhältnis, das sich auf keines der gängigen Kamera- bzw. Bildformate zurückführen lässt.

568 Die Existenz der Badematte ist allerdings durch die textlichen Tatortbeschreibungen belegt, zumal sie sich im späteren Verfahren als ein nicht unwichtiges Indiz erwiesen hat. Vgl. Sandmeyer, 2007.

569 Interessanterweise ist Sebastian Knauer gar kein Fotograf, sondern eigentlich schreibender Journalist, der in diesem Fall die Kamera eines fotografierenden Kollegen nutzte, um die vorgefundene Situation fotografisch zu dokumentieren. Auch dies unterstützt die These, dass es vor allem um eine Fotografie als Beweis der Situation ging.

184 in einen vorwiegend in hellen Farbtönen gestalteten Raum, der sich unschwer als Flur zu erkennen gibt. Zu sehen sind drei in unterschiedlichem Abstand nebeneinander be-findliche, hellgelb getönte Türen. Die Reihung der drei Türen führt den Betrachter pers-pektivisch in den hinteren Bildraum, wo der Blick von einer im rechten Winkel stehenden Wand aufgehalten wird und der Flur offenbar endet. Exakt lässt sich das jedoch nicht be-stimmen, da durch den spezifischen Betrachterstandpunkt nicht zu erkennen ist, was den Türen gegenüberliegt.

Abb. 101: Thomas Demand: Flur, 1995, Chromogenic Color Print.

Am rechten Bildrand ist ein Vorsprung zu erkennen, der den hinteren Flurteil ab-grenzt und die Fortsetzung des Flurs in den vorderen Bildraum nach rechts hin andeutet.

Ein Wandausschnitt, der etwas größer gehalten ist als die Türausschnitte, befindet sich vorne links im Bildraum und legt die Vermutung nahe, dass sich der Flur auch in diese Richtung fortsetzt. Der Boden ist hellgrau gehalten und deutet großformatige, quadrati-sche Fliesen an. Die extrem nüchterne Gestaltung des Raumes und vor allem die niedrige Deckenhöhe lassen bei dem dargestellten Ort an einen Neubau denken. Der verwinkelte Flur und die drei relativ dicht nebeneinander befindlichen Türen, die keinen Aufschluss darüber geben, was sich hinter ihnen befinden könnte, lassen eine Art Appartementhaus assoziieren, könnten aber auch Teil eines Bürogebäudes sein. Die Darstellung des Rau-mes ist extrem reduziert, sie zeigt wenig Details. Neben den leicht bräunlich gefärbten Fußleisten sind nur zwei weiße Lichtschalter zu erkennen und die Deckenbeleuchtung, wobei sich nicht definitiv entscheiden lässt, ob es sich um in die Decke eingelassene läng-liche Fensterausschnitte oder Lampen handelt. Weder Türgriffe noch -schlösser sind zu erkennen, es gibt keine Fußmatten, noch zeigt der Raum irgendwelche Gebrauchsspuren oder gibt Aufschluss über eine menschliche Gegenwart. Stärker noch als in ‚Badezimmer‘

scheint aus dem Raum jede Regung, jedes Anzeichen von Belebtsein, jede Spur mensch-licher Nutzung getilgt. Der Gesamteindruck des Raumes ist extrem nüchtern und ähnlich farbreduziert wie in ‚Badezimmer‘. Doch während dort das Petrol der Wand- und Boden-fliesen einen eher kräftigen Farbeindruck vermittelt, sind die Farben in ‚Flur‘ abgetönt, selbst das Weiß der Decke und der Wände erscheint weniger klar und leuchtend.

185 Anders als in ‚Badezimmer‘, wo die vereinzelten narrativen Elemente und Spuren im Bild letztlich auf einen spezifischen Ort hinzudeuten scheinen, wirkt ‚Flur‘ noch weniger wie ein konkreter Ort, sondern eher wie das Schema oder die Typologie eines solchen. Auch die Assoziation an ein Architekturmodell, das den Ort vor seiner eigentlichen Entstehung und Nutzung entwirft, liegt in ‚Flur‘ näher. Das Makellose und Unspezifische des Raumes – die auch in dieser Arbeit Demands Resultat eines Papiermodellbaus sind – heben ihn nicht nur aus dem Konkreten, sondern auch ein Stück weit aus der Zeit heraus, geben ihm etwas Unzeitliches. Demand selbst sieht seine Bilder durch eine solche Unzeitlichkeit charakterisiert.

„Bei mir sehen diese Sachen so kalkuliert und unberührt aus, dass es ein Vorher und ein Nachher gar nicht gibt. Dadurch gibt es eigentlich auch den einen Augenblick von Fotografie nicht mehr, sondern es ist eher eine Verallgemeinerung von Augenblick.“ 570

Hatte man in ‚Badezimmer‘ noch den Eindruck, das Bild ließe sich wie ein Spuren-feld lesen, in dem einzelne Bildelemente auf bestimmte Geschehnisse hindeuten, gibt es in ‚Flur‘ keinerlei narrative Andeutungen oder Spuren zu entziffern. Die Fotografie scheint nicht über die Beschreibung der Architektur des Ortes hinauszuweisen. Die seltsame Lee-re, die den Ort kennzeichnet, macht ihn zum einen unspezifisch und zeitlos, zum anderen erzeugt sie sehr subtil eine Atmosphäre des Unheimlichen. Der Eindruck des Unheimli-chen wird in ‚Flur‘ durch die besondere Topografie des Ortes evoziert, da der Raum über den Bildausschnitt, den die Fotografie zu sehen gibt, nicht komplett zu überblicken ist.

In drei Bereichen scheint sich der Flur über die Bildfläche hinaus zu erstrecken. Jedoch liegen zwei dieser Bereiche im Schatten oder sind zumindest schlecht beleuchtet und deuten damit die Raumdimensionen und die Fortführung des Raumes über die Bildfläche hinaus nur an. Gerade diese Unüberschaubarkeit und partielle Dunkelheit des Raumes unterstützen den Eindruck des Unheimlichen und Geheimnisvollen.

Kennt man Demands künstlerisches Verfahren und weiß etwas mehr über die Hintergründe des Bildes, so vermag man den Eindruck des Geheimnisvollen als subti-len Hinweis auf den Bedeutungskontext zu deuten, der die Fotografie ‚Flur‘ ähnlich wie

‚Badezimmer‘ mit dem Feld der Kriminalistik verbindet. Denn auch bei diesem Bild hat Demand Fotografien als Ausgangspunkt seiner Arbeit gewählt, die Teil der medialen Be-richterstattung über ein Verbrechen waren. Mit der Arbeit ‚Flur‘ bezieht er sich auf den Wohnort des US-amerikanischen Serienmörders Jeffrey Dahmer, der zwischen 1978 und 1991 in Wisconsin 17 Männer und Jugendliche tötete und 1992 für den Mord in 15 Fällen verurteilt wurde. 1994 wurde Dahmer selber Opfer eines Verbrechens, als ihn ein Mithäft-ling mit einem Besenstiel erschlug.571 Dahmer war von der Polizei überführt worden, weil seinem letzten Opfer Tracy Edwards, das er in das Zimmer 213 der Oxford Apartments in Milwaukee gelockt hatte, die Flucht geglückt war. Bei der Durchsuchung seines Zimmers wurden Hunderte Fotos verstümmelter Leichen, ein vollständiges Skelett und etliche ab-getrennte Gliedmaßen sichergestellt. Den Flur zu Jeffrey Dahmers Zimmer, der nach des-sen Überführung vielfach in unterschiedlichen Aufnahmen in den Medien gezeigt wurde, wählt Thomas Demand ein Jahr nach Dahmers Tod als Motiv für seine eigene Darstellung (Abb. 102).

570 Demand, 1999, S. 15.

571 Zum Fall Jeffrey Dahmer vgl. u. a. Danny Kringiel: Serienmörder Jeffrey Dahmer. Leben mit dem Menschenfresser, in:

Spiegel Online, 2008, http://einestages.spiegel.de/external/ShowTopicAlbumBackground/a24364/l0/l0/F.html#

featuredEntry (Zugriff: 9. August 2012).

186 Ursprünglich war Demand

„auf der Suche nach dem Innenraum des Apartments von Jeffrey Dahmer, dem Massenmörder [...].

Ich habe einmal im Flugzeug ein Foto von seiner Wohnung gesehen. Ich versuchte es zu kriegen und bin nach Milwaukee gefahren. Alle sagten, diese Fotos von Dahmers Wohnung – wo der in der Du-sche auch einige seiner Opfer hatte –, die gibt es gar nicht, denn die Polizei hat niemanden darin fotografieren lassen. Dann bin ich zu dem Ort gefahren, wo das Haus stand. Das hatte man aber nach der Beweisaufnahme abgerissen, erstens weil niemand mehr darin wohnen wollte, zweitens weil ein Tourismus begann, den natürlich diese Stadt unbedingt vermeiden wollte. Also gibt es diesen Ort auch nicht mehr. Das Foto habe ich dann später gefunden, man hat es mir gezeigt. Es ist eigentlich uninteressant, aber auf dem Weg dazu habe ich Hunderte von Fotos von diesem Flur und von der Außenseite des Hauses gesehen. Der Flur wird so zum Inbegriff der Banalität, die ich in der Wohnung und auf dem Foto davon suchte, aber nicht mehr finden konnte.“ 572

Dieser Kommentar Thomas Demands verdeutlicht, wie umfassend die Vorarbei-ten und Recherchen sind, die seinen ModellbauVorarbei-ten und Fotografien vorausgehen. Anders jedoch als der Vergleich von Demands Fotografie ‚Badezimmer‘ mit Knauers Pressefoto-grafie, der zahlreiche ästhetische und motivische Korrespondenzen ergeben hat, lassen sich die Pressebilder, die anlässlich Dahmers Verhaftung in den Medien veröffentlicht wurden, nicht über Demands Bild erinnern.

Abb. 103: Allen Fredrickson/Reuters: File Photo of Door to Jeffrey Dahmer’s Apartment.

Ein direkter Vergleich mit den noch heute über die Bildagenturen Getty und Corbis verfügbaren Bildern, die den Flur zu Jeffrey Dahmers Apartment zeigen, macht deutlich, wie weit sich Demand mit seiner Szenerie von diesen entfernt und dass es ihm keinesfalls um eine Kopie derselben geht. Den langen, schmalen Flur zu Dahmers Apart-ment 213 ersetzt der Berliner Künstler durch eine unübersichtlich und verschachtelt wir-kende Raumkonstruktion, die assoziativ auf eine Unheimlichkeit des Ortes anspielt. Die großen, auf das Türblatt aufgesetzten Ziffern, die den Hinweis geben, dass es sich um die Tür zu Dahmers Apartment handelt, werden für die Pressefotografien zum zentralen Bedeutungsträger, in Demands reduzierter Bildversion fehlen sie komplett. Ohne die Zahl 213 oder die im Bild des Reuters-Fotografen Allen Fredrickson sichtbaren Zeichen der po-lizeilichen Versiegelung des Apartments (Abb. 103) gäbe es in den Pressefotografien kei-nen visuellen Hinweis, dass es sich bei der zu sehenden Tür tatsächlich um die zum Tatort handelt, insofern erweisen sich diese Bildelemente in den Pressebildern als bedeutungs-konstitutiv. Demand greift also den Bedeutungskontext des Tatorts auf, ohne dass sein Bild – abgesehen von einer unterschwellig unheimlich wirkenden Raumszenerie konkrete Hinweise auf einen solchen, noch dazu auf den spezifischen des Apartments 213, geben würde.

572 Demand, 1999, S. 14.

187 Mit der Betonung des Banalen greift Demand ein zentrales Charakteristikum von Tatort-fotografien generell auf, die in ihrer Ambivalenz zum einen Bilder des Schreckens und Grauens evozieren und zum anderen seltsam banal wirken, weil sie sich immer auf etwas beziehen, das jenseits der visuellen Grenzen des Bildes liegt: das Verbrechen selbst. Der Aspekt des Banalen, der für die meisten Tatortfotografien durch die Abwesenheit der Tat selbst konstitutiv ist, wird durch die radikale ästhetische Reduktion in ‚Flur‘ gleichsam auf die Spitze getrieben, indem sie keinerlei Hinweise auf die Besonderheit des Ortes und das eigentliche Tatgeschehen gibt und darüber hinaus motivisch kein Wiedererkennen der medialen Vorbilder ermöglicht.573 Das, was der Betrachter tatsächlich zu sehen bekommt, ist ein seltsam menschenleerer Flur, der in seiner Spurenlosigkeit jeder konkreten Verzeit-lichung und Verortung enthoben scheint. Darüber hinausgehende Bedeutungskontexte eröffnen sich vor allem über zusätzliche Informationen zum Bild sowie die Projektionen und Erwartungen der Bildbetrachter, die sich das Bild, das sie sehen, auf der Folie ihres Wissens über das konkrete Verbrechen zu erschließen suchen.

„Der kriminelle Aspekt von ‚Flur‘ ist nur lesbar, wenn ich ein Minimum über Jeffrey Dahmer weiß.

Ohne dieses Wissen bleibt nur der ‚Inbegriff der Banalität‘, von dem Sie [Demand wird hier von Wid-mer angesprochen; K. F.] sprechen. Die Banalität wird freigesetzt, indem sich das Bild durch die Re-duktion radikal von der abgebildeten Welt löst.“ 574

Die Kriminalistik als ein Feld, auf dem die ‚fotografische Lichtspur‘, in ihrer Funkti-on als Zeugin, Spuren vFunkti-on Verbrechen festzuhalten vermag, indem sie zur Voraussetzung einer auf Objektivität und Neutralität setzenden polizeilichen Ermittlung wird, kehrt De-mand mit seiner Fotografie gleichsam ins Gegenteil. Indem er jegliche Art von Spuren tilgt, lässt er sein Bild zu einer Art ‚Anti-Beweis‘ werden. Die entscheidende Funktion, die das Medium der Fotografie im Kontext der Kriminalistik übernimmt, indem sie den Tatort gleichsam im ‚Rohzustand‘ zu dokumentieren und ihn mit einem Neutralität versprechen-den Blick ins Bild zu bannen hat, greift Demand über versprechen-den Topos des Neutralen auf. Da er einen Ort zeigt, der an Neutralität kaum zu überbieten ist, vermittelt er jedoch eine Foto-grafie, die jeglicher Beweiskraft und Zeugenschaft beraubt scheint.

Im Dokument Das Bild als Zeuge (Seite 183-187)