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Der automatismus der Kamera

Im Dokument Das Bild als Zeuge (Seite 29-39)

Jede Reflexion der Repräsentationsweisen von Wirklichkeit muss der Frage nach der Beziehung zwischen einem Zeichen und seinem Referenten, zwischen Signifikant und Signifikat nachgehen. Diese Frage stellt sich, wie ich oben gezeigt habe, auf beson-dere Weise bei dokumentarischen Bildern, da das Dokumentarische im Sinne seiner In-dexikalität den Glauben an die Realität des Signifikats als tatsächlich Da-Gewesenes zu verbürgen scheint. Spricht man über fotografische Bilder, gewinnt diese Frage an Bedeu-tung, da der Fotografie vor den Diskursen der Dekonstruktion historisch eine besondere Glaubwürdigkeit und Wirklichkeitsnähe unterstellt wurden.132 So konnte die Fotografie aufgrund ihrer Eigenschaften als technisch generiertes Bild zur zentralen Metapher für das Dokumentarische avancieren.

„Und diese der Fotografie unterstellte Wirklichkeitsnähe, dieses unantastbare Vermögen, Zeugnis ab-legen zu können, beruht hauptsächlich darauf, dass man sich des mechanischen Herstellungsprozes-ses des fotografischen Bildes und der spezifischen Weise seiner Konstituierung und Existenz bewusst ist, beruht auf dem Wissen vom sogenannten Automatismus seiner technischen Genese.“ 133

128 In Deutschland gab es seit den 20er-Jahren die ‚Berliner Illustrirte Zeitung‘, in Paris wurde 1928 die Zeitschrift ‚Vu‘ gegrün-det und in den 30er-Jahren in den USA die Bildmagazine ‚Life‘ (1936–1972) und ‚Look‘ (1937–1971). Vgl. u. a. Ausst.-Kat.:

Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage 1839–1973, hg. von Bodo von Dewitz, zusammengestellt von Robert Lebeck, Museum Ludwig Köln, Göttingen 2001, S. 110–160 sowie S. 190–226.

129 Im Kontext der Fotografie der Farm Security Administration (F.S.A.) entstand in den USA zwischen 1935 und 1942 ein Konvolut von mehr als 200.000 Aufnahmen, die von der wirtschaftlichen und sozialen Realität der Roosevelt-Ära berichten und noch heute unser Bild von den Auswirkungen der US-amerikanischen Depression prägen. Vgl. Kapitel 4.

130 Starl, 2003, S. 74.

131 Abigail Solomon-Godeau: Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie?, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2003, S. 53–74, hier S. 53.

132 Interessanterweise wurde der Malerei im 15. Jahrhundert ebenfalls ein vergleichbarer Wahrheitswert beigemessen, wie es Patricia Fortini Brown für die venezianische Malerei des 15. Jahrhunderts gezeigt hat. Man konnte von Dingen oder Ereignissen als wahr sprechen, eben weil sie in Gemälden erschienen, denen eine besondere Augenzeugenschaft zuge-sprochen wurde. Diese Bilder galten als wahr, weil sie gemalt worden waren. Vgl. Patricia Fortini Brown: Venetian Narrative Painting in the Age of Carpaccio, New Haven, London 1988.

133 Philippe Dubois: Der Fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam, Dresden 1998, S. 29.

30 Fotografie wird im Gegensatz zu Sprache und Malerei, zu symbolischen und ikonischen Zeichensystemen und den mit ihnen verbundenen Kategorien von Ähnlichkeit und Kon-vention gerade nicht in erster Linie als eine Zeichensprache wahrgenommen, sondern impliziert einen hohen Anteil an technisch vermittelter und das heißt unmittelbarer Ab-bildungsweise.

Schon in der Frühphase der Fotografie betont der englische Naturwissenschaft-ler William Fox Talbot im Vorwort zu seinem 1844/46 erscheinenden Bildband ‚The Pencil of Nature‘ den Automatismus der technischen Bildentstehung. Er schreibt: „Die Hand der Natur hat sie abgedrückt.“ 134 Und weiter: „[D]ie Tafeln des vorliegenden Werks sind allein durch die Einwirkungen des Lichtes hervorgerufen worden, ohne irgendeine Mithilfe von Künstlerhand.“ 135 Noch 100 Jahre später schwärmt André Bazin von der „Beharrlichkeit der leidenschaftslosen Mechanik“ 136 fotografischer Technik.

„Zum ersten Mal – einem rigorosen Determinismus entsprechend – entsteht ein Bild der Außenwelt automatisch, ohne das kreative Eingreifen des Menschen. [...] Alle Künste beruhen auf der Gegenwart des Menschen, nur die Fotografie zieht Nutzen aus seiner Abwesenheit. [...] [Sie; K. F.] verleiht ihr eine Stärke und Glaubhaftigkeit, die jedem anderen Werk der bildenden Künste fehlt. Welche kritischen Einwände wir auch immer haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des repräsentierten Objekts zu glauben, des tatsächlich repräsentierten, das heißt des in Zeit und Raum präsent gewor-denen.“ 137

Die Fotografie wird als etwas Automatisches, als etwas Selbstgeneriertes wahr-genommen, das sich offenbar ohne das Eingreifen des Menschen selber schafft. Wenn sich die fotografische Bildproduktion gleichsam ohne Beteiligung eines Subjekts voll-zieht, geht mit ihr eine Entsubjektivierung des Erkenntnisprozesses einher. Dort, wo nach-weislich die Apparatur allein als Urheber, kein Darstellungsinteresse oder verstellender Gestaltungswille auszumachen sind, vermittelt sich scheinbar ein unmittelbares Abbild der Welt in szientistischer Exaktheit. Die nach naturwissenschaftlichen Regeln beschreib-bare Bildentstehung prädisponiert das technische Bild für die spezifischen Wirklichkeits-versprechen von Authentizität und Dokumentarismus. In Analogie zum Automatismus der Kamera wird dokumentarästhetische Authentizität als spezifische Qualität fotogra-fischer Abbilder denkbar. Die subjektlose, technische Bildproduktion garantiert so das objektive Bild. Diese Vorstellung setzt eine Technikwahrnehmung voraus, die sich histo-risch erst im Laufe der Neuzeit herausgebildet hat. Bis ins 16. Jahrhundert hinein wurde die Verwendung technischer Hilfsmittel nämlich noch als ein Handeln gegen die Natur wahrgenommen. Dass sich die Natur über eine technische Apparatur gleichsam selbst offenbaren könnte, war undenkbar, denn die vorneuzeitliche Wissenschaft vertraute der menschlichen Wahrnehmung und nicht dem instrumentell vermittelten Blick auf die Welt.

Im Laufe der Zeit änderte sich jedoch die Wahrnehmung von technischen Instrumenten und Apparaten.138 Gerade im Zusammenhang mit Galileis Erfindung des Fernrohrs, einer Apparatur, die eine Welt offenbarte, die ohne technische Hilfsmittel, mit bloßem mensch-lichem Auge nicht wahrzunehmen war, konnte „der Mensch keinen unmittelbaren Zu-gang zu den Geheimnissen der Natur mehr geltend machen [...] – eine fundamentale Ein-schränkung, die von neuzeitlichen Wissenschaftlern als Folge der gefallenen Natur des

134 William Henry Fox Talbot: Der Zeichenstift der Natur, in: Wilfried Wiegand (Hg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassi-sche Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt a. M. 1981, S. 45–89, hier S. 45.

135 Ebd., S. 89.

136 André Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes, in: Hartmut Bitomsky (Hg.): André Bazin: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975, S. 21–27, hier S. 25.

137 Ebd., S. 24.

138 Zur Unterscheidung von Apparaten und Instrumenten vgl. Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat, in: dies.:

Medien, Computer, Realität, Frankfurt a. M. 1998, S. 73–94. Sybille Krämer unterscheidet zwischen Technik als Werkzeug und Technik als Apparat. „Apparate [...] effektivieren nicht einfach das, was Menschen auch ohne Apparate schon tun, sondern erschließen etwas, für das es im menschlichen Tun kein Vorbild gibt [...]. Die Technik als Werkzeug erspart Arbeit, die Technik als Apparat aber bringt künstliche Welten hervor, sie eröffnet Erfahrungen und ermöglicht Verfahren, die es ohne Apparaturen nicht etwa abgeschwächt, sondern überhaupt nicht gibt.“ Ebd., S. 84 f.

31 Menschen gedeutet“ 139 wurde. Später wurden vermehrt die Vorteile von Instrumenten und Apparaten wahrgenommen: „Das Instrument sei in jeder Hinsicht unbefleckt von menschlicher Schwäche und daher bestens geeignet, die Restauration paradiesischer Un-mittelbarkeit in Angriff zu nehmen.“ 140 Im Zuge der neuzeitlichen Wissenschaft gewann eine utopische Sicht auf die Technik mehr und mehr Akzeptanz. Technik konnte zum Ga-ranten einer unmittelbaren Vermittlung von Wirklichkeit werden.

„Für die neuzeitliche Wissenschaft ist es die Wirklichkeit selbst, die gegen beredsam vorgetragene Weltbilder aufbegehrt. Ihr muss eine Stimme verliehen werden, eine Sprache, in deren Darstellungs-konzept der Mensch, die Beschreibung als Mittler zum Verschwinden gebracht werden soll, denn ihm – Mensch wie Text – gilt das Misstrauen.“ 141

Unmittelbarkeit war auch das zentrale Merkmal der Camera obscura, die seit dem 16. Jahrhundert eine stetige technische Entwicklung nahm. Bereits in der Frühphase ihrer Entwicklung, als sie noch eine große, begehbare Kammer war, projizierte sie ein Bild, das auch ohne das Zutun des Betrachters zustande kommen konnte. Wie später die Fotogra-fie garantierte sie eine automatische, entsubjektivierte Darstellung, ein kontingentes Ab-bild der Welt. So schreibt Janin, dass sich in der Camera obscura die Außenwelt „mit einer Wahrheit ohne Vergleich“ 142 abbilde. Die Daguerreotypie wird meistens als Fortentwick-lung der Camera obscura verstanden. Auch wenn der illusionistische Effekt der Daguer-reotypien begrenzt war, wurde die Unmittelbarkeit ihrer Darstellungsform gerühmt. So sah Alexander von Humboldt bei ihrer Betrachtung „Gegenstände, die sich selbst mit un-nachahmlicher Treue malen; Licht gezwungen durch chemische Kunst, in wenigen Minu-ten bleibende Spuren zu hinterlassen“. 143

Entscheidend für eine solche Wahrnehmung war die technische, entsubjektivier-te und autorlose Bildentsentsubjektivier-tehung, die auch im Fall der Daguerreotypien hervorgehoben wurde. Bereits zur Zeit der Daguerreotypien wurde die Kamera als visuelle Enzyklopä-distin wahrgenommen, wie es Dominique François Aragos Beschreibung anlässlich der Präsentation des Daguerreotypieverfahrens vor der französischen Deputiertenkammer belegt.144 Die Mechanik des fotografischen Bildgebungsverfahrens, das gleichsam ohne Künstlerbeteiligung ein unmittelbares, ungefiltertes Bild der Wirklichkeit zu zeichnen ver-mochte, wurde in der Frühphase der Fotografie noch als besondere Eigenschaft des Medi-ums gerühmt. Der Kunstdiskurs des 19. Jahrhunderts, für den ich Baudelaire exemplarisch anführen möchte, wertete jedoch die Rolle des Künstlers als Schöpfer eines Kunstwerkes entscheidend auf. In diesem Kontext gewann die Vorstellung vom Künstler als Genie be-sondere Bedeutung. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Fotografie in einem Umfeld, das die Kunst als reine Schöpfung der künstlerischen Einbildungskraft verstand, mehr und mehr der Kritik ausgesetzt sah. In seiner Schrift zum Salon von 1859 betont Baudelaire die begrenzte Funktion der Fotografie, die als reine Aufzeichnungstechnik keinerlei Kunstan-spruch gerecht würde und somit allein als Gedächtnisstütze und Hilfsmittel den Künsten zur Seite stehen solle.

„[...] ich bin jedoch überzeugt, dass die schlechtangewandten Fortschritte der Photographie, wie üb-rigens jeder rein materielle Fortschritt, das Ihrige dazu beigetragen haben, das bereits so spärliche künstlerische Genie der Franzosen noch weiter zu verarmen. [...] es kann niemandem entgehen, daß die Industrie, wenn sie in die Kunst einbricht, die schlimmste Todfeindin wird [...]. Erlaubt man der

139 Volker Wortmann: Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln 2003, S. 127.

140 Ebd., S. 128.

141 Ebd., S. 242, Fußnote 27.

142 Ebd., S. 134.

143 Ebd.

144 Vgl. Solomon-Godeau, 2003, S. 57, Fußnote 7.

32 Photographie als Stellvertreterin der Kunst in einigen ihrer Funktionen aufzutreten, so wird sie diese bald verdrängt oder gänzlich verdorben haben [...]. Sie muß demnach zu ihrer wahren Bestimmung zurückgeführt werden, der, eine Dienerin der Wissenschaft und der Künste zu sein, eine sehr beschei-dene Dienerin jedoch, wie die Druckkunst und die Stenographie, welche die Literatur weder geschaf-fen noch ersetzt haben. Sie bereichere unverzüglich das Album des Reisenden und liefere seinem Auge jene Deutlichkeit, derer sein Gedächtnis sich nicht entsinnt. [...] sie sei schließlich der Sekretär und Notar jedes Menschen, dessen Beruf eine unbedingte materielle Genauigkeit fordert [...]. Erlaubt man ihr aber solche Übergriffe in den Bereich des Ungreifbaren und des Imaginären, in alles, was nur deshalb einen Wert besitzt, weil der Mensch etwas von seiner Seele hinzutut – dann wehe uns!“ 145 Mit seiner Funktionszuweisung der Fotografie zieht Baudelaire eine klare Trenn-linie zwischen der Kunst und dem Bereich bloßer Wirklichkeitsaufzeichnung, dem er die Fotografie zuordnet. Er etabliert damit eine Dichotomie zwischen dem Künstlerischen und dem Fotografischen, bestätigt aber die Vorstellung vom künstlerlosen, das heißt ent-subjektivierten Automatismus der fotografischen Wirklichkeitsaufzeichnung.

Zentral für jede Vorstellung von einer dem Automatismus zu verdankenden Treue, mit der Wirklichkeit im fotografischen Verfahren aufgezeichnet wird, ist der Mo-ment des Auslösens. Gerade im Akt des Auslösens manifestiert sich der radikal beson-dere Status fotografischer Bilder. Doch dieser Anspruch ist zwiespältig, wie auch Dubois darlegt, weil mit dem Rekurs auf die technische Bildentstehung nur ein Aspekt der Dar-stellung genannt ist. Mit dem Moment des Auslösens ist ein Teil der fotografischen Bild-genese angesprochen, der sich tatsächlich weitgehend der menschlichen Einflussnahme entzieht. Aber die Fokussierung auf diesen Moment überlagert alle anderen, unverzicht-baren Gestaltungsprozesse, die das Abbildversprechen zum Teil sogar infrage stellen, und verdeckt damit die unabdingbare Konstruiertheit der Darstellung.

„Denn vor und nach diesem Moment der natürlichen Einschreibung der Welt auf die lichtempfindli-che Flälichtempfindli-che gibt es zutiefst kulturelle, codierte, gänzlich von menschlilichtempfindli-chen Entslichtempfindli-cheidungen abhängige Gesten (davor: die Entscheidung für ein Sujet, für einen bestimmten Kameratypus, für den Film, die Belichtungsdauer, den Blickwinkel usw. – all das, was vor dem entscheidenden Moment liegt und schließlich im Druck auf den Auslöser gipfelt; danach: alle diese Entscheidungen wiederholen sich beim Entwickeln und beim Abziehen; dann wird das Foto in die immer codierten und kulturellen Ver-triebsmechanismen eingespeist – Presse, Kunst, Mode, Porno, Wissenschaft, Justiz, Familie ...). Nur zwischen diesen zwei Serien von Codes, allein im Augenblick der Belichtung selbst, kann das Foto als reine Spur eines Aktes (als Botschaft ohne Code) angesehen werden. Nur hier, aber wirklich nur hier greift der Mensch nicht ein und kann nicht eingreifen, da er andernfalls den grundlegenden Charak-ter der Fotografie modifizieren würde. [...] Dieser Augenblick dauert nur einen Sekundenbruchteil und wird sofort wieder von den Codes eingeholt, die ihn dann nicht mehr loslassen werden [...].“ 146 Die Verknüpfung des Wirklichkeitsversprechens fotografischer Bilder mit ihrer Technik erscheint heute allerdings so vertraut und bewahrt ihre Präsenz auch über die Diskurse der Dekonstruktion hinaus, dass sie vielerorts medienontologisch gefasst und das Dokumentarische als die ihr gemäße Form idealisiert wird. Doch die fotografische Technik bringt nicht unmittelbar, qua technischer Medieneigenschaft, dokumentarische Ästhetik hervor, sondern ihre Fähigkeit zur automatischen Reproduktion wird dem foto-grafischen Abbild als besonderes Moment von Wahrheit zugeschrieben. Das Dokumenta-rische als Qualität fotografischer Abbilder erweist sich als kulturelle Zuschreibungspraxis und nur mittelbar als Folge technischer Bildentstehung. Die auf die technische Bildgene-se und den Moment des AuslöBildgene-sens rekurrierende Verbindung von Fotografie und dem Dokumentarischen ist also keinesfalls medienontologisch determiniert.

145 Charles Baudelaire: Der Salon von 1859, zitiert nach Dubois, 1998, S. 33 f.

146 Dubois, 1998, S. 55.

33 3.3 Das spezifische Wirklichkeitsversprechen der Fotografie

Trotz der dominierenden Vorstellung einer automatischen, entsubjektivierten Blicknahme weiß jeder Betrachter einer Fotografie, dass der Fotograf vor Ort gewesen sein muss, um das Bild entstehen zu lassen. Im Bild selbst jedoch ist der Fotograf abwe-send. An der Stelle, die der Fotograf im Moment der fotografischen Blicknahme einge-nommen hat, befindet sich nun der Bildbetrachter. Wie Abigail Solomon-Godeau gezeigt hat, verleiht die „strukturelle Kongruenz des Blickpunkts“ von Fotograf, Kamera und Betrachter „dem Foto die Qualität einer reinen, aber täuschenden Gegenwart“.147 Diese vermittelt sich in einer Form, die bereits vor Erfindung der Fotografie als wirklichkeitsver-bürgend bekannt war: der zentralperspektivischen Raumdarstellung, die nun der Kamera als Apparateigenschaft zugeschrieben wird. Modelliert nach dem klassischen System der Renaissance geht die Vorstellung von der zentralperspektivischen Raumorganisation mit der Fotografie auf die Kamera über, die die Perspektive inkorporiert und mit ihrer sub-jektlosen Mechanik noch glaubhafter macht. Denn wenn sich in der Fotografie die Natur selbst abbildet, tut sie dies offenbar in zentralperspektivischer Form. Folglich muss die Zentralperspektive die richtige und natürliche Form der Realitätsabbildung sein.148 Das zentralperspektivische System der Bildorganisation ist mittlerweile so in das westliche Bewusstsein eingegraben, dass es vollkommen natürlich erscheint. Dennoch etabliert die naturalisierte zentralperspektivische Raumwahrnehmung im Kontext der Fotografie eine Paradoxie. Während die Fotografie nämlich die mit der Renaissance ausgebildete Raum-perspektive übernimmt und sich damit am Vorbild der Kunst orientiert, behauptet sie pa-radoxerweise die Abbildung der Natur selbst.

In der Debatte über die Fotografie ging es seit ihrer Erfindung um das Ideologem der sich selbst abbildenden Natur, den Glauben, man könne im Foto des unmöglichen Realen ansichtig, vielleicht seiner habhaft werden.

„Dokument und Abbild, Nähe und Unmittelbarkeit, Spiegelbild und Fenster, Selbstanzeige und Faktenrealismus, Reproduktion und Wirklichkeitswiedergabe, Registratur und Bestandsaufnahme, Objektivität und Neutralität, Beweismittel und Authentizität, Treue und Ehrlichkeit sind die ständig wiederkehrenden Begriffe jener Theorien, die die visuelle Ähnlichkeit, die Analogiemomente einer Fotografie mit ihren Gegenständen in den Mittelpunkt des Interesses rücken.“ 149

Schon die frühe fotografische Literatur150 betont den Stellenwert der vermeint-lich objektiven Wirkvermeint-lichkeitsschilderung des fotografischen Verfahrens. Von Beginn an sieht sich das Medium also mit Fragen nach der fotografischen Wahrheit und Objektivität konfrontiert. 151

„Die fotografische Literatur aus den folgenden beiden Jahrzehnten [nach Erfindung der Fotografie;

K. F.] betet zwanghaft, ja fast schon rituell die Litanei von der fotografischen Wahrheit nach. Die Welt und ihre Objekte böten sich dem Objektiv der Kamera dar und versprächen ein enzyklopädisches visuelles Register – ein Inventar, das in den Dienst der Wissenschaft, des Handels, der Physiognomie, der Nation und der Kunst gestellt werden sollte.“ 152

147 Solomon-Godeau, 2003, S. 70.

148 Ebenso wie die italienische Renaissancemalerei liefert die Fotografie ein statisches, einheitliches Blickfeld, in dem orthogonale Linien auf einen Fluchtpunkt zulaufen. Im Unterschied hierzu besitzt das natürliche Sehen der menschlichen Augen keinen Fluchtpunkt, ist binokular, befindet sich in ständiger Bewegung und verliert zu den Rändern des Sichtfeldes hin an Schärfe. Vgl. Ebd., S. 70 f.

149 Reinhard Matz: Gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografie (1981), in: Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV, 1980–1995, München 2000, S. 94–105, hier S. 95.

150 Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie, Bd. I (1939–1912), München 2002.

151 Wobei zahlreiche Verwendungsweisen der Fotografie im 19. Jahrhundert einer Gleichsetzung von Fotografie und Objektivität widersprachen. So war vermutlich in der Landschaftsfotografie des 19. Jahrhunderts jede Außenaufnahme eine Montage, da der damals verbreitete orthochromatische Film nicht der Landschaft und einem wolkenverhangenen Himmel zugleich gerecht werden konnte. Vgl. Martha Rosler: Bildsimulationen, Computermanipulation: Einige Überle-gungen (1988, 1995), in: Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV, 1980–1995, München 2000, S. 129–170.

152 Solomon-Godeau, 2003, S. 57.

34 Sowohl die Verwendbarkeit als auch die Glaubwürdigkeit der Fotografie werden also in erster Linie mit ihrem vermeintlichen Zugriff auf die Wirklichkeit begründet. Die rhetori-sche Stärke des Fotografirhetori-schen rhetori-scheint im eindeutigen Charakter des fotografirhetori-schen Be-weises zu liegen, im Rekurs auf seinen Realismus.

Das Thema des Realismus bezieht sich nicht nur auf die Fotografie, sondern auf alle künstlerischen Diskurse. Grundsätzlich lassen sich zwei zentrale Verwendungsweisen des Begriffs unterscheiden. Zum einen wird der Begriff historisch im Kontext bestimmter künstlerischer Schulen und Richtungen begriffen, die sich selbst als realistisch bezeich-nen. Zum anderen wird Realismus in theoretischen Zusammenhängen als eine Form künstlerischer Aneignung von Wirklichkeit begriffen. In der Fototheorie spitzt sich die Realismusdebatte insofern zu, als es Theorien gibt, die aufgrund der technischen Eigen-schaften des Mediums eine besondere Affinität der Fotografie zur Realität behaupten und daher Realismus als Wesen und Ziel der Fotografie überhaupt setzen. Solche Theorien etablieren den Realismus als eine ahistorische Kategorie, die ein ontologisches Verhältnis von Realität und Medium konnotiert, in dem Realismus zur Norm fotografischer Mediali-tät wird.

Doch einem genuinen Verhältnis der Fotografie zum Realismus widersprechen allein schon die vielfältigen fotografischen Ansätze, die sich einer realistischen Wirklich-keitsaneignung durch die Fotografie entziehen.

„Es ist dies das erstaunliche Paradox der Fotografie: Gerade sie, die doch wie nichts anderes belie-bige Zersplitterungen der Welt setzt, wird bemüht, substantielle Gewißheiten zu stiften. Geradezu besessen von der Materialität und unserer Aneignungsfähigkeit der Objekte werden die spezifische Perspektivität einer Fotografie und das sie leitende Interesse verdrängt. Einmal fotografiert, scheint allein der Gegenstand Ursache und Bestimmungsgrund einer Fotografie zu sein [...]. Der ,Dokumenta-rist‘ lebt genau diese Ideologie: Je mehr er sich aus der Produktion seiner Fotografien herauszuhalten scheint, desto exakter, glaubt er, könne sich die Wirklichkeit selbst artikulieren – klar, eindeutig und objektiv.“ 153

Reinhard Matz betont die Gefahr, Fotografien im Sinne eines Realismus wie die von ihr gezeigten Dinge anzusehen. Auf diese Weise verkenne man, dass das Entschei-dende einer Fotografie nicht ihr Wiedererkennungs- oder Realitätseffekt sei,

„denn als Ergebnis von Arbeit, die letztlich immer die Transformation von Rohstoffen in Produkte mittels bestimmter Arbeitsmittel bewirkt, ist eine Fotografie kein unbestimmtes Analogon zu vorge-gebener Wirklichkeit und nicht Teil von deren natürlicher Erscheinung, sondern deren Betrachtung,

„denn als Ergebnis von Arbeit, die letztlich immer die Transformation von Rohstoffen in Produkte mittels bestimmter Arbeitsmittel bewirkt, ist eine Fotografie kein unbestimmtes Analogon zu vorge-gebener Wirklichkeit und nicht Teil von deren natürlicher Erscheinung, sondern deren Betrachtung,

Im Dokument Das Bild als Zeuge (Seite 29-39)