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2. THEORIE

2.6. D ISSEMINATION – V ERBREITUNG WISSENSCHAFTLICHER E RKENNTNISSE

Verschiedene Verfahren, welche zur Senkung der PTBS-Symptomatik entwickelt wurden, konnten in ihrer Effektivität bestätigt werden. Wichtig ist es daher, Möglichkeiten zu finden, dieses Wissen im entsprechenden Kontext zur Anwendung zu bringen.

Allein mit der Auflistung wissenschaftlich bestätigter Verfahren kann eine Veränderung in der psychotherapeutischen Praxis nicht erreicht werden (Reynolds, 2000). Nur eine geplante, systematische und direkte Wissensverbreitung (dissemination) kann eine Umsetzung neuer Therapieansätze in der Praxis bewirken (Schoenwald und Hoagwood, 2001). Dabei sind nicht nur praxisverstärkende Elemente, wie Supervision oder Diskussion über Vor- und Nachteile des Verfahrens, ein wichtiger Bestandteil der Ausbildungs-maßnahmen, sondern auch die Beachtung strukturelle Aspekte, wie Arbeitspensum, Personalqualifikation und Arbeitsprozeduren (Barlow et al., 1999; Cook, Walser, Kane, Ruzek & Woody, 2006; Simpson, 2002; Steib, 2004).

Hemmende Einstellungen und das Fehlen von Wissen und Fähigkeiten seitens der Praktiker, die entsprechenden Aktivitäten ausführen zu können, geht oft auf die

2 Theorie 13 Nichtteilnahme an Trainingseinheiten oder Burnout zurück (Corrigan, McCracken &

Blaser, 2003). Auch die große Anzahl an Studien erschwert es, sich als praktizierender Kliniker neben der Arbeit einen Überblick über neue Verfahren zu verschaffen (Herbert, 2003; Reynolds, 2000).

Auf der Seite der Praxis sind zwei Phänomene zu beobachten, welche eine Umsetzung von Innovationen erschweren. Zum einen ist es das Fehlen eines veränderungsfreundlichen Klimas. Schlechte Gruppenführung und ungenügender kollegialer Zusammenhalt untergraben oftmals die Fähigkeiten des Personals, neue Ansätze umzusetzen (Simpson, 2002; Corrigan et al., 2003). Zum anderen darf nicht vergessen werden, dass sich Praktiker immer unter einem gewissen Verwaltungs- und Ökonomiedruck sehen (Simpson, 2002).

Aus diesen Kritikpunkten heraus gibt es einige Forderungen, die an die Wissenschaft im Rahmen der Dissemination neuer Therapieverfahren gestellt werden.

Eine gegenseitige Befruchtung von Wissenschaftlern und Klinikern kann nur als Bereichung gesehen werden und sollte dementsprechend Förderung finden (Cook, Schnurr

& Foa, 2004). Wissenschaftler sollten sich außerdem eine Vorstellung über die Struktur des therapeutischen Systems und der Unterschiedlichkeit der Patienten verschaffen und die Studien in einen praktischen Bezugsrahmen setzen (Simpson, 2002; Barlow et al., 1999).

Dies kann sich bspw. auf die Auswahl der Patienten und Therapiekonditionen oder die Berücksichtigung der Lebensbedingungen der Klienten beziehen (Parry, 2000; Schoenwald

& Hoagwood, 2001; Cook et al, 2006). Effektivität sollte außerdem nicht nur hinsichtlich statistischer Kriterien, sondern auch im klinischen Sinne betrachtet werden. Dazu müssen Faktoren, wie Kosten, Wirksamkeit und Tragfähigkeit des Verfahrens eine kritische Beurteilung finden (Barlow et al., 1999; Reynolds, 2000; Schoenwald & Hoagwood, 2001).

Die Ausbildung des Personals ist ein unumgänglicher Punkt, um die Übernahme wissenschaftlicher Kenntnisse in die Praxis zu ermöglichen. Dabei sollte sowohl auf Wissens- und Fähigkeitsvermittlung, als auch auf die Einstellungen und Motivation der Kliniker eingegangen werden (Simpson, 2002; Corrigan et al., 2003, Cook et al., 2006).

Im Folgenden soll ein Disseminationsprojekt vorgestellt werden, in dem versucht wurde, eine Therapieform gezielt in dem für sie relevanten Umfeld in die Praxis zu übertragen.

2 Theorie 14

Ein Beispiel aus der Praxis:

Disseminationsprojekt zur Traumatherapie von Flüchtlingen

Im Folgenden wird für die diagnostische Datenerhebung vor der Therapie wird der Begriff Prätest , für die Untersuhung nach der Therapie der Begriff Posttest verwendet.

a. Nakivale Mental Health Projekt

Im April 2003 begann vivo (victim’s voice), eine Nichtregierungsorganisation, welche sich mit den psychosozialen Folgen traumatisierter Menschen befasst, mit der Umsetzung eines Therapieprojektes im Nakivale Refugee Camp, einem Flüchtlingslager im Süden Ugandas.

Ziel war es, Laien sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie von PTBS auszubilden und mit ihrer Hilfe wissenschaftliche Erhebungen durchzuführen.

Das seit 1952 existente Flüchtlingslager, 60 km von Mbarara entfernt, beherbergte im Februar 2006 auf 42 km2 ca. 17.000 Flüchtlinge, in erster Linie Hutu aus Ruanda (ca.

61%), aber auch Kongolesen, Somali, Burundi, Sudanesen und Äthiopier. Jedem anerkannten Flüchtling wird ein Stück Land zugeteilt, auf dem eine Hütte errichtet und verschiedene Nutzpflanzen, wie bspw. Erdnüsse, Mais, Bohnen oder Kasawa, angebaut werden können. Für das Überleben der Flüchtlinge sind diese zusätzlichen Nahrungsmittel essentiell, da die monatliche Lebensmittelhilfe der UNHCR (5 kg Bohnen, 10 kg Maismehl, 5 Liter pflanzliches Öl pro Haushalt) zum Leben nicht ausreichen. Das Lager ist in einzelne Zonen nach Nationalitäten eingeteilt, die es den Landsleuten ermöglichen, unter sich zu bleiben. In Aufnahmezonen können sich neu angekommene Flüchtlinge niederlassen, bis sie offiziell als solche anerkannt, in dem Lager aufgenommen und einer bestimmten Zone zugewiesen werden. Grundschulen und gesundheitliche Versorgung, diese in der Hand der GTZ (Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit), sind ebenfalls vorhanden.

Nach Gesprächen mit bestimmten Personengruppen des Lagers zur Vorstellung des Projektes und Sammlung von Meinungen zu psychischer Gesundheit allgemein, wurde unter den Flüchtlingen offiziell um Mitarbeiter für das Projekt geworben. In Auswahlgesprächen und Tests waren vor allem guter Sprachumgang (Lese- und Hörverständnis) in Englisch und der eigenen Muttersprache von Wichtigkeit sowie ausreichende intellektuelle und soziale Fähigkeiten. Die Aufteilung der 24 ausgewählten

2 Theorie 15 Flüchtlinge geschah in der Art, dass zwölf Therapeuten und zwölf Interviewer ausgebildet wurden, unter ihnen jeweils sechs Ruander und sechs Somalis. Nach dem ersten gemeinsamen Programmpunkt, dem PTBS-Konzept, erfolgte die Ausbildung in einzelnen Gruppen: Die Interviewer erlernten innerhalb von zwei Wochen den Umgang mit den Instrumenten PDS und HSCL-25, sowie dem soziodemographischen Teil (siehe hierzu 3.2.). Die Therapeuten eigneten sich innerhalb von sechs bis acht Wochen das Verfahren der NET an. Rollenspiele und erste Versuche unter Supervision waren dabei in beiden Gruppen Teil des Ausbildungsprogramms.

Eine epidemiologische Studie, welche Informationen über die psychische Gesundheit, speziell PTBS, sowie soziodemographische Fakten erheben sollte, wurde zu Beginn mit Hilfe der Laieninterviewer durchgeführt. Es folgte eine randomisierte Therapiestudie, in der NET einer unterstützenden Beratung mit Traumfokus und einer Wartelisten-Kontrollgruppe gegenübergestellt wurde. Des Weiteren wurde eine auf Kinder ausgerichteten Form der NET auf ihre Effektivität hin untersucht. Die Ergebnisse des Projektes zeigten, dass Laien, in diesem Fall Flüchtlinge, ohne psychologische Ausbildung, in Diagnostik und Therapie der PTBS geschult werden und sowohl wissenschaftlich verwendbare Daten erheben, als auch effektive Therapien geben konnten.

Für detaillierter Ausführungen sei an dieser Stelle auf die Arbeiten von Onyut (2005), Ertl (2005) und Neuner et al. (2006b) verwiesen. Die Ergebnisse ermutigten, das Projekt in Form einer psychologischen Ambulanz fortzusetzen.

b. Psychologische Ambulanz für Flüchtlinge

Von November 2004 bis September 2005 sollten die Laieninterviewer und -therapeuten in ihrer Arbeit von fortfahren, diesmal jedoch ohne regelmäßige Supervision durch Experten.

Die Koordination des monatlichen Gehalts wurde durch eine Uganderin, lebend in Kampala, übernommen. Andere organisatorische Punkte sollten durch die Teams selbst geregelt werden. Dies betraf z.B. den Ablauf der Therapieverfahren. Durch diagnostische Interviews identifizierte PTBS-Fälle sollten therapiert und deren Zustand in einem bestimmten Zeitraum nach der Therapie erhoben werden. Es wurde erwartet, dass sich die Laientherapeuten hinsichtlich fachlicher und persönlicher Schwierigkeiten in der Therapiearbeit gegenseitig behilflich sind. Kontaktmöglichkeiten nach Deutschland gab es via e-mail oder über die ugandische Mitarbeiterin.

2 Theorie 16 Die Anzahl der Mitarbeiter hatte sich im Laufe der Zeit erheblich reduziert. Ein Grund dafür war der Weggang der Flüchtlinge aus dem Lager. So waren von den ursprünglich 24 geschulten Flüchtlingen noch acht im zweiten Teil des Projektes im Einsatz.

Ein Team von drei somalischen Therapeuten war neben vielen somalischen Patienten nach Kisenyi, einem Slum in Kampala, gezogen. Noch aus dem ersten Teil des Projektes war eine große Anzahl an identifizierten PTBS-Fällen bekannt, welche im Laufe dieser elf Monate durch die zwei Therapeutinnen Behandlung finden sollten. Der dritte Laien-therapeut sollte die Aufbewahrung der Unterlagen, vor allem der Prätests, übernehmen.

Im Nakivale Refugee Camp wurde mit einem dreiköpfigen Therapeutenteam das Projekt fortgesetzt. Hier waren zusätzlich zwei Interviewer im Einsatz, die PTBS-Fälle im Lager identifizieren und an die Therapeuten vermitteln sollten. Ihre Aufgabe bestand in der Erhebung der Prä- sowie der Posttests nach der Therapie sowie in einem Abstand von drei und sechs Monaten. Damit sollte eine Langzeituntersuchung des Therapieeffektes ermöglicht werden. Der Leiter dieses Teams war für die Zuweisung der von den Interviewern identifizierten PTBS-Fälle an die Therapeuten und die Verwahrung der Prä- und Posttests zuständig. Eine weitere Aufgabe bestand in der monatlichen Berichterstattung via e-mail an das Forscherteam in Konstanz mit kurzen Angaben zu den therapierten Fällen.

Wenn es die äußeren Umstände erlaubten, sollten pro Monat von jedem Laientherapeuten zwei Patienten therapiert werden. Dabei war die Sitzungsanzahl nicht so streng festgelegt wie im ersten Teil des Projektes. Die Laientherapeuten sollten nach eigenem Empfinden entscheiden, wie viele Therapieeinheiten notwendig sein würden. Dies sollte helfen, ein besseres Verständnis für realistische Arbeitsbedingungen zu erhalten.

Ziel sollte es sein, mithilfe der in Therapie und Diagnostik geschulten Flüchtlinge eine feste psychologische Anlaufstelle sowohl in Kampala als auch im Nakivale Refugee Camp zu etablieren, um Flüchtlingen eine psychologische Versorgung zu ermöglichen. Mit dem Wissen um PTBS und die Therapietechnik sollte den ausgebildeten Flüchtlingen allmählich mehr Freiraum gewährt werden, um sie selbstständiger und unabhängiger werden zu lassen.

Sowohl das Office of the Prime Minister in Uganda als auch die ethischen Ausschüsse der Universität Konstanz und der Mbarara University of Science und Technology haben ihre Zustimmung zu den Studien gegeben. Sie fanden auch Unterstützung im Nakivale Refugee Camp.

2 Theorie 17

2.5. Laien als kompetente Psychologen und Wissenschaftler

Im Zusammenhang mit dem eben beschriebenen Disseminationsprojekts stellt sich die Frage, ob Laien die Rolle kompetenter Wissenschaftler übernehmen können. Auf der einen Seite verfügt zwar jeder Mensch über eine bestimmtes Maß an Intuition, welches Bohannan und Elst (2003) zufolge jeden aufmerksamen Beobachter befähigt, selbst als Nicht-Ethnologen wertvolle ethnologische Daten zu liefern. Auf der anderen Seite sind Experten aber gerade deshalb in ihrem Dasein so unverzichtbar, weil sie über spezifisches Wissen und charakteristische Erfahrungen auf einem wissenschaftlichen Gebiet verfügen.

Foa et al. (2005) zeigen, dass ein Expositionsverfahren von Betreuern mit minimaler Therapieerfahrung im kognitiv-behavioralen Interventionsbereich ebenso effektiv umgesetzt werden kann, wie von Experten. Hier spielt jedoch den Autoren zufolge die Supervision womöglich eine große Rolle, durch welche es den unerfahrenen Therapeuten erst möglich ist, effektiv arbeiten zu können. In diesem Zusammenhang ist zusätzlich zu unterscheiden, auf wen sich die Bezeichnung „Laie“ bezieht – auf einen unerfahrenen Therapeuten oder eine Person, die im psychologischen Fachbereich keinerlei Erfahrungen hat.

Im Rahmen des psychischen Gesundheits-Bereichs von Hilfsprogrammen kann die Ausbildung von Laien jedoch eine wichtige Alternative zur Arbeit von Experten darstellen, da die Bezahlung der Spezialisten durch die meist knappen finanziellen Ressourcen nicht möglich ist. Auch der Umgang mit häufigen Problempunkten interkultureller psychologischer Arbeit, wie Kommunikation, Vertrauen oder Scham (Nicholl &

Thompson, 2004) kann somit erleichtert werden, da an dieser Stelle die lokalen geschulten Laien Experten ihrer Kultur verkörpern.

Es gibt nur sehr wenige Studien, welche die Übernahme bestimmter Aufgaben durch Laien untersuchen. Die konkrete Überprüfung der Validität der Erhebungen trainierten Laien war bisher jedoch nur selten Bestandteil der Berechnungen (Neuner, 2003). So wurden bspw.

in Somalia mit Hilfe von trainierten Laieninterviewern Daten von 4854 Personen für eine epidemiologische Untersuchung erhoben, eine Überprüfung der Übereinstimmung der Laien- und Expertendiagnosen blieb jedoch aus (Odenwald et al., 2005). In einer weiteren umfangreichen epidemiologischen Studie in einem Flüchtlingslager der Westnil-Region wurden ebenfalls trainierte lokale Interviewer für die Datenerhebung eingesetzt. Hier zeigten sich jedoch eine unbefriedigende Übereinstimmung in der Diagnose einer PTBS

2 Theorie 18 durch Experten und Laien (Neuner, 2003; Neuner et al., 2004b). Im Rahmen des Nakivale Mental Health Project wurde die Arbeit der geschulten Laieninterviewer überprüft. Dabei wurde für die Diagnose der PTBS eine zufrieden stellende Übereinstimmung zwischen Experten und Laien festgestellt; für die Diagnose von Depression und Angst konnte dies jedoch nicht bestätigt werden (Ertl, 2005).

Anhand der wenigen vorliegenden Studien kann also nicht eindeutig Stellung zu der Frage bezogen werden, ob psychologische Laien valide Daten erheben können. Dieser Aspekt bedarf daher weiterer Forschung.

2.6. Einschränkungen in der Datenerhebung

Hinsichtlich der wissenschaftlichen Verwendbarkeit von Daten spielt deren Konsistenz eine bedeutende Rolle. Doch gerade im Bereich der Psychologie muss mit Verfälschungen und Ungenauigkeit gerechnet werden, da die untersuchten Konzepte selbst meist nicht eindeutig zu definieren sind und nicht nur zwischen Personen, sondern auch innerhalb eines Individuums in Abhängigkeit der Situation große Schwankungen vorliegen können.

Sowohl der Befragte als auch der Interviewer sind beim Vorgang der Datenerhebung beteiligt und können diesen beeinflussen. Im Folgenden sollen diese beiden Seiten in Bezug auf die Entstehung falscher Informationen betrachtet werden. Erdfelder (2003) unterscheidet allgemein zwischen nicht intendierten Falschaussagen, also Irrtümern, und intendierten, Lügen. Diese Einteilung soll auch in dieser Darstellung berücksichtigt werden.

2.6.1. Antwortverfälschung seitens des Befragten

Erlebnisse und deren Erinnerungen sind immer mit Interpretation verbunden. Somit ist eine Aussage niemals ein Rückschluss auf eine objektive Realität, sondern stellt das subjektive Erleben einer Person dar (Ballof, 2004). Neben der Interpretation des Ereignisses im Wahrnehmungsprozess können auch eine Reihe weiterer Einflussfaktoren genannt werden, welche die Wahrnehmung, Speicherung und Erinnerung prägen, ohne dass hierbei Fahrlässigkeit eine Rolle spielen muss. Allein das Bewusstsein, ein Teilnehmer einer wissenschaftlichen Studie zu sein, kann die Reaktion des Befragten beeinflussen (so genannter Hawthorne-Effekt, Bortz, 2002).

2 Theorie 19 Verfälschungen während des Gedächtnisprozesses

Steller und Volbert (1997) unterscheiden drei Stadien der Aussagenentstehung:

Wahrnehmung des Sachverhaltes, Speicherung im Gedächtnis und verbale Reproduktion (Ballof, 2004). Jede dieser Stadien kann beeinflusst werden.

Sensorische und physikalische Wahrnehmungsbedingungen, soziale Bedingungen, Wahrnehmungsdauer und Häufigkeit der Beobachtung, Komplexität und Bedeutung des Ereignisses sowie Erregung bzw. Stress während des Erlebens beeinflussen die erste Phase (Kette, 1987; Ballof, 2004). Neben diesen situativen sind auch persönliche Faktoren zu nennen. Hierzu zählen soziale Erwartungen, Stereotype, Attributionsverzerrungen, Selektionsprozesse, Aufmerksamkeitszuwendung und individuelle Unterschiede des Beobachters, wie Ausbildung, Alter oder sozioökonomischer Status (Wegener, 1981;

Kette, 1987; Erdfelder, 2003).

Die Phase der Informationsspeicherung ist ebenfalls nicht vor Einflüssen gefeit. Nicht nur einfaches Vergessen, sondern auch zusätzliche Information können zu einer Veränderung der Gedächtnisinhalte führen (Ballof, 2004). Verschiedene Experimente von Loftus und Mitarbeitern konnten zeigen, dass nachfolgende Informationen umso einflussreicher sind, je mehr Zeit seit dem entsprechenden Ereignis vergangen ist (Loftus, 1997, nach Erdfelder, 2003). Neue Information kann sich dabei mit alter Information vermischen oder diese überlagern (Loftus, 1997, nach Undeutsch, 1985). Doch auch unabhängig von externen Informationen können durch logische Assimilation Gedächtnisinhalte verändert werden, indem die Person versucht, Erinnerungslücken zu einer Gesamttheorie auszugestalten (Wegener, 1981).

Die dritte Phase der Aussagenentstehung kann durch Frageformulierungen (wie bspw. die Verwendung von Suggestivfragen, bestimmten oder unbestimmten Artikel), Konformitäts-druck, die Befragungsatmosphäre, mehrmaliges Wiedergeben oder allgemein die Fähigkeit, das Erinnerte in sprachlicher Form zu reproduzieren, beeinflusst werden (Ballof, 2004; Erdfelder, 2003; Kette, 1987; Wegener, 1981). Loftus zeigt an einem viel zitierten Experiment, das die Wortwahl für die Beschreibung des Zusammenstoßens bei einem Verkehrsunfall die Einschätzung der Geschwindigkeit der beteiligten Fahrzeuge beeinflussen kann (Wegener, 1981; Undeutsch, 1985).

Widersprüche im Zusammenhang mit traumatisierten Ereignissen

In Untersuchungen zu wiederholter Berichterstattung erlebter traumatischer Ereignisse wurde mehrfach festgestellt, dass mit großer Inkonsistenz zu rechnen ist. Dies zeigten vor

2 Theorie 20 allem Studien bzgl. sexuellem und körperlichem Missbrauchs in der Kindheit (Aalsma, Zimt, Fortenberry, Blythe & Orr, 2002; Fergusson, Horwood & Woodward, 2000; Ghetti, Goodman, Eisen, Qin & Davis, 2002).

Verschiedene Faktoren werden als Ursache für die Widersprüche in den Berichten gesehen. Ghetti et al. (2002) zählen hierzu das Alter, dessen Wirkung sich sicher durch die verschiedenen Entwicklungsstadien bei Kindern erklären lässt und sich somit auf die Strukturierung der Ereignisse beeinflusst, das Geschlecht, die Frageformulierung und die Art der gefragten Information. Mädchen scheint es Jungen gegenüber allgemein leichter zu fallen, Wissen über sexuellen oder körperlichen Missbrauch mit anderen zu teilen. Somit weisen sie weniger Widersprüche in den Berichten auf (Ghetti et al., 2002). Andere, für Erwachsene zu berücksichtigende Faktoren sind Herlihy, Scragg und Turner (2002) zufolge die Schwere der PTBS-Symptomatik, die Zeit zwischen den Befragungen und ob es sich bei den erfragten Fakten um periphere (unwichtige) oder zentrale (wichtige) Details handelt.

Auch in anderen Populationsgruppen traumatisierter Menschen lässt sich Inkonsistenz in Berichten zu autobiographischen Daten feststellen. So wurde bei Soldaten ein Zusammenhang zwischen den Widersprüchen in der Berichterstattung zu traumatischen Erlebnissen und der PTBS-Symptomschwere zum Zeitpunkt der zweiten Messung festgestellt (McNally, 2003, nach Spinhoven, Bean & Eurelings-Bontekoe, 2006). Bei einer Untersuchung mit allein stehenden minderjährigen Flüchtlingen stellten Spinhoven und Kollegen (2006) einen negativen Zusammenhang zwischen Alter, Level von Angst, Depression und PTBS zu der Inkonsistenz im Bericht traumatischer Ereignisse fest.

Widersprüchlichkeiten in der Erinnerung an autobiographische Daten können also sowohl durch soziodemographische als auch durch psychopathologische Faktoren beeinflusst werden. Die Autoren erwähnen aber auch, dass der Einfluss von Faktoren wie Aufenthaltsgenehmigung oder Literaturfähigkeit nicht ebenfalls untersucht werden müsse.

Der eben beschriebene negative Zusammenhang konnte auch durch Wyshak (1994) bei Flüchtlingen aus Südostasien gefunden werden. Herlihy et al. (2002) zeigen in ihrer Untersuchung mit Flüchtlingen aus dem Kosovo und Bosnien, dass für Personen mit hoher PTBS-Symptomschwere die Anzahl der Widersprüche im positiven Zusammenhang mit dem Zeitabstand zwischen den Befragungen steht.

2 Theorie 21 Dennoch können Zeugenaussagen nicht allgemein als wertlos betrachtet werden. So sind Berichte zu allgemeinen Lebenserfahrungen und Erwartungen weniger anfällig durch externe Einflüsse (Undeutsch, 1985). Schockierende Ereignisse werden meist detaillierter erinnert. Man spricht hierbei von einem „Blitz-“ oder „Tunnelgedächtnis“ (Ballof, 2004).

Ereignisse, an denen eine Person beteiligt war oder die allgemein emotional gewichtet sind, unterliegen einer geringeren Fehlerhaftigkeit bei wiederholtem Abruf (Krinsley et al., 2003, zitiert nach Spinhoven et al., 2006). So zeigen Bericht zu sexuellem Missbrauch, Tod einer nahe stehenden Person oder Kriegskonflikten weniger Inkonsistenz in der Berichterstattung als das Beobachten eines Missbrauchs, das Erleben einer Katastrophe oder von der Familie getrennt zu werden (Spinhoven et al., 2006).

2.6.2. Fehlerquellen auf der Seite des Interviewers Interviewereffekt

Das Grundproblem empirischer Arbeit ist stets, inwieweit durch Beobachtungsprotokolle und Beschreibungen tatsächlich ein mit der Realität übereinstimmendes Bild erzeugt werden kann. Daher ist Bortz (2002) zufolge empirischen Beobachtungen durch ihre prinzipielle Unzuverlässigkeit stets zu misstrauen.

Eine potentielle Störgröße, die nicht ausgeschlossen werden kann, sind Fehler, die durch das Verhalten des Untersuchers selbst verursacht werden. Man spricht hierbei von einem Versuchsleiter-Artefakt oder Interviewereffekt. Durch sein Auftreten sowie dessen Einstellungen und mögliche Vorurteile hat er sowohl bewusst als auch unbewusst einen wesentlichen Einfluss auf die Resultate der Untersuchung, da diese wiederum das Antwortverhalten des Befragten beeinflussen können. Auch mögliche Probleme mit dem Projektleiter oder Verpflichtungen gegenüber dem Auftraggeber können seinen Habitus unbewusst beherrschen. Eine Standardisierung der Untersuchungsbedingungen und des Interviewerverhaltens ist daher von entscheidender Bedeutung, um diese Effekte vorbeugen zu können. Dennoch muss bis zuletzt mit einer reduzierten Genauigkeit der Untersuchungsergebnisse gerechnet werden (Bortz, 2002).

Ethnologische Problempunkte

Aus ethnologischer Perspektive wirft die Feldforschung eine Reihe von Problemen auf, derer sich der Forscher selbst bewusst sein sollte. Dies betrifft nicht nur die oben erwähnten möglichen Schwierigkeiten hinsichtlich Sprache, Sitten und Gebräuchen der anderen Kultur. Wichtig ist es unvoreingenommen und respektvoll der anderen Kultur in

2 Theorie 22 der Untersuchung gegenüber zu treten. Dazu sollte man sich im Vorhinein Wissen über die Kultur aneignen und das eigene Handel sowie die dahinter stehenden Absichten kritisch betrachten. Ein Auftreten als „Erzieher“ ist unbedingt zu vermeiden (Girtler, 2004).

Wichtig bei der Erhebung und Auswertung der Daten ist immer der Kontext in dem sie ursprünglich standen. Werden bestimmte Daten einer Kultur nach den Maßstäben einer anderen bewertet, kann ein falsches Bild entstehen (Bohannan & van der Elst, 2003).

Das vorurteilsfreie und offene Arbeiten in einer fremden Kultur kann große Schwierigkeiten mit sich bringen, da hierfür oft eigene Grundannahmen in Frage gestellt

Das vorurteilsfreie und offene Arbeiten in einer fremden Kultur kann große Schwierigkeiten mit sich bringen, da hierfür oft eigene Grundannahmen in Frage gestellt