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BLICK ZURÜCK: Die bürgerliche Familie Idealisierung einer Lebensform

Schwerpunkt im Kompetenzerwerb

Der „Blick zurück“ ermöglicht den SuS einen Einblick in die historische Entwicklung unterschiedlicher Familien-formen; sie erfahren, wie die „bürgerliche Kleinfamilie“ sich zum dominierenden Rollenmodell entwickelte, wie und warum dieses Modell in die Krise geriet. Die SuS bekommen die Möglichkeit, ihren eigenen Standpunkt inner halb der Diskussion, um die Pluralisierung der Lebensformen zu bestimmen und zu vertreten (Sach-, Handlungs- und Gestaltungskompetenz).

Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung

Schritte im Lernprozess Methodenvorschläge Erweiterung

Einstieg:

M1 Bildbeschreibung und

Inter pretation einer historischen Quelle

Was sagen alte Fotos aus dem Familienalbum?

Leitfragen:

• (a) Was sind – aus historischer Sicht – die zentralen Merkmale und die wichtigsten Aufgaben „der Familie“?

• (b) Worin liegt das Krisenhafte des Modells der „bürgerlichen Kleinfamilie“ heute, und wie argumentieren ihre Verteidiger?

Erarbeitung:

• (a) Merkmale und Aufgaben von Familie aus historischer Sicht (VT, M1–M3, M6)

• (b) Analyse der Materialien zum Thema „Krise der bürgerlichen Kleinfamilie“ (M4, M5, M7–M9)

a) Textauswertung über Karteikarten und Clusterung

b) Gegenüberstellung von Pro-Kontra-Argumenten zur „bürgerlichen Klein-familie“ als Lebensmodell

Familienmodelle in anderen Kulturen

Sicherung und Urteilsbildung:

• Sachurteil (erste Leitfrage)

• Sach- und Werturteil (zweite Leitfrage)

Was bleibt von der

„ bürgerlichen Klein-familie“?

Zeitstrahl: Familien im Wandel

O 186–191

Lösungshinweise und Erwartungshorizonte zu den Arbeitsvorschlägen

AV1 – [M1]

– Beschreibung: Bürgerfamilie im ausgehenden 19. Jahrhundert gratuliert dem Vater zum Geburts-tag (Überschrift). Die Ehefrau, zwei Mädchen und vier Jungen zwischen ca. drei und achtzehn Jahren sind dem Anlass entsprechend festlich gekleidet.

– Interpretation: Die Kleidung der Beteiligten und die Einrichtung der Wohnung (Mobiliar, Tapeten, Bilder etc.) verweisen auf die gesellschaftliche Stellung des

Hausherrn; die Familie scheint nicht unvermögend zu sein. Die Gratulation erfolgt in Form einer „Huldi-gung“ – man ist geneigt, die Haltung des Vaters mit der von Monarchen zu assoziieren. Trotz der sich langsam demokratisierenden Gesellschaft existiert am Ende des 19. Jahrhunderts noch die Vorstellung:

So, wie der Landesvater im Großen seinen „Landes-kindern“ entgegentritt, so nimmt auch der Vater in der Familie als Familienoberhaupt seine Rolle wahr.

– Der Vater erwartet in sitzender, aber nicht entspann-ter Haltung die Übergabe eines Blumengebindes durch die jüngste Tochter, die durch die Mutter

Ich, Du, Wir – Identität und Sozialisation

gelenkt und motiviert wird. Es scheint so, als ob vor der Überreichung der Blumen durch die Kleine auch noch ein Spruch oder Gedicht vorgetragen wird. Der jüngste Sohn scheint ebenfalls ausgewählt, etwas vorzutragen, da er ein Schriftstück in der Hand hält.

– Insgesamt wirkt die Szenerie sorgfältig einstudiert und deutet auf eine klare Rollenverteilung in der Familie hin. Alles ist so arrangiert, dass es dem Fami lienoberhaupt – seinem Rang entsprechend – gefallen soll.

Die SuS werden vermutlich darauf hinweisen, dass ein ähnliches Foto in Kulturen mit ähnlicher familialer Rollen verteilung auch heute noch möglich sein wird.

Der festliche Rahmen ist sicherlich auch in Deutsch-land denkbar; die Form der Inszenierung und „Huldi-gung“ wird wahrscheinlich eher Befremdung oder Belustigung hervorrufen.

AV2 – [M4]

Nimmt man allein die jeweils dominierenden Haus-haltsgrößen in den Blick, so wird deutlich, dass im Ver-lauf von ca. 100 Jahren die Einpersonen-Haushalte als Haushalte mit der geringsten Ausprägung (1900: 7,1 %) zum dominierenden Haushaltstyp (2004: 37,2 %) ge-worden sind. Über eine Internetrecherche können die SuS unschwer ermitteln, dass diese Entwicklung sich seit 2004 verstärkt hat. Die Ursachen könnte man zu-sammenfassen unter den Schlagworten „Strukturwan-del der Gesellschaft“ und „Pluralisierung der Lebens-formen“, wobei Veränderungen in der Gesellschaft und der Familienform sich immer gegenseitig bedingen.

Bei der Prognose einer möglichen Weiterentwicklung können die SuS zumindest quali tativ auf M6 S. 184 SB zurückgreifen.

AV3 – [VT, M2–M4] 0

Vor allem der VT und M3 sowie das Schaubild aus Weber-Kellermann (M6) belegen die Enge bäuerlicher und handwerklicher Existenz; im Vordergrund des Zusammen lebens stehen nicht Emotionalität und Zuwen dung, sondern der gemeinsame Kampf ums Überleben. Die Familien dieser Zeit sind in erster Linie Produktionsgemeinschaften; d. h., jeder musste nach seinen Kräften mitarbeiten. Das erforderte eine klare Rollenverteilung und klare Regeln, die sogar dem Hausvater die niedere Gerichtsbarkeit in Hinsicht auf die Bestrafung der Familien- (also Haushalts-)mitglie-der zuschrieben. Streit, Rollenunklarheiten, reduzierte Arbeitsleistung gefährdeten den Fortbestand der Fami lie als Ganzes. Der Text M3 und die Bilder M2 aus der „Hausväterliteratur“ stellen insofern keine Zu-standsbeschreibung dar, sondern eher einen Appell zu gottgefälliger Lebensführung aller Familienmitglieder, die anzustreben ist.

AV4 – [VT, M2–M4]

Die strikte Rollen- und Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau wie im „ganzen Haus“ ist so nicht mehr vorfindbar. Der Frau wird sogar eine eigene Berufs tätigkeit zugestanden. Allerdings können die SuS noch geschlechtsspezifische Rollenzuschreibun-gen und -attribute erarbeiten, die aus heutiger Sicht z. T. eher unfreiwillig komisch erscheinen:

– Die Frau ist verantwortlich für die Gemütlichkeit des

„Heims“.

– Männer sind unordentlich, Frauen ordentlich.

– Das Aussehen der Frau ist besonders wichtig.

– Eine zentrale Aufgabe der Frau ist es herauszu-finden, was der Mann möchte.

– Die Berufstätigkeit der Frau muss grundsätzlich hinter ihre Rolle als Mutter zurücktreten.

– Der Beruf hat für Männer eine andere Bedeutung als für Frauen.

– …

„Beziehungsratgeber“ 2020 mögliche Vorschläge:

– partnerschaftliche Teilung von Aufgaben (Beruf, Haushalt und Kindererziehung)

– Aushandeln von Regelungen bei Meinungsverschie-denheiten

– gegenseitige Gewährung von Freiraum – Offenheit und Ehrlichkeit

– finanzielle Unabhängigkeit – …

AV5 – [M6–M8]

Nach 2000:

– Zunächst müsste die Frage aufgeworfen und geklärt werden, ob die Kategorisierung in „Bürger, Bauer, Arbei ter“ für die Zeit nach 2000 überhaupt noch Sinn macht.

– Eventuell könnten Bezüge zu Klassen-, Schichten- oder Milieukonzepten (vgl. Kap. 6.1, S. 264–271) her-gestellt werden, die eine Matrix ermöglichen, wel-che den Gesellschaftswandel besser abbildet.

– Die Angleichung der Lebensverhältnisse und Fami-lienstrukturen ist weitgehend unabhängig von der sozia len Lage und Herkunft.

– Die Pluralisierung der Lebensformen gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen.

– Weiterhin ansteigendes Heiratsalter bei zunehmen-der Tendenz zu Ein-Personen-Haushalten und stag-nierender Kinderzahl.

– Tendenziell weiter bestehende graduelle Unterschie-de zwischen Stadt und Land.

– …

Kritisch beleuchtet werden könnten in diesem Zu-sammenhang einige Kategorisierungen Weber-Keller-manns für die Zeit nach 1945 (Rolle der Frau und Mutter: „zunehmend gleichberechtigt und partner-schaftlich berufstätig“), z. B. mit Blick auf M7 und M8.

4.2 

Leben in Familien

AV6 – [M7]

Als Merkmale der modernen bürgerlichen Kleinfamilie (M7) könnten genannt werden:

– Definition „Selbständige Haushaltsgemeinschaft eines verheirateten Paares mit seinen unmündigen Kindern.“ (Z. 21 ff.)

– dominate Form Ende der 1950er-/Anfang der 1960er-Jahre

– kulturelle Selbstverständlichkeit

– persönliche Verantwortung der Eltern für ihre Kinder verbunden mit der Auffassung von Familie als priva-ter Angelegenheit

– ideologische Unterstützung des Familienmodells durch Parteien und Kirchen

– Leitbild der lebenslangen, monogamen Ehe – Sinn: Familiengründung

– geschlechtsspezifische Rollenverteilung – normatives gesellschaftliches Leitbild

Peuckert weist zu Recht darauf hin, dass allgemein der Begriff „Familie“ mit der modernen bürgerlichen Kleinfamilie assoziiert wird, obwohl die unhinterfragte Dominanz dieses Familientypus sich auf ca. 10 bis 20 Jahre beschränkt. Peuckert spricht selbst die demogra-fischen Makroindikatoren an. Die Statistik der Haus-haltsgrößen (M4) zeigt eine stetige Verkleinerung der Haushalte an; die sogenannten Single-Haushalte stel-len heute die am stärksten vertretene Haushaltsform dar, wobei die Ursachen durchaus einer genaueren Betrachtung wert sind (Informationen finden sich im gesamten Unterkapitel). Auch ohne die Scheidungs-zahlen recherchiert zu haben werden die SuS sicher-lich Peuckert zustimmen, wenn er auf die zunehmen-den Zweifel an einer lebenslangen, monogamen Ehe verweist. Eine auf gleichberechtigter Partnerschaft beru hende Familienkonzeption und die Anforderun-gen einer modernen globalisierten Arbeitswelt stehen diesem Familienmodell ebenfalls diametral entgegen.

Die Geburtenziffer, die sich seit Mitte der 1960er-Jahre bis zu Beginn der 1980er-Jahre fast halbiert hatte, bringt diese Entwicklung einerseits zum Ausdruck, verstärkt sie andererseits noch.

AV7 – [M8, M9] 0

– Stäcker und Wolf (M8) beschreiben die „Blütezeit“

des Modells „bürgerliche Kleinfamilie“ in den 1950er-Jahren vor allem als Zeit gesellschaftlichen Rückschritts für Frauen. Waren sie nach Kriegsende 1945 noch aufgrund der Abwesenheit der Väter, Söh-ne, Brüder sowohl in der Arbeitswelt wie im gesell-schaftlichen Leben präsent gewesen, so wurden sie in den 1950er-Jahren immer stärker zurückgedrängt.

Das gesellschaftliche Familienideal wurde die „bür-gerliche Kleinfamilie“ mit klarer geschlechtsspezifi-scher Rollenverteilung, aus Sicht der Autorinnen ein klarer gesellschaftlicher Rückschritt (Prägung der

Begriffe „Rabenmütter“ und „Schlüsselkinder“ im Kontext weiblicher Erwerbstätigkeit). Ein Rollen-wandel in Hinsicht auf Kindererziehung und Fami-lienrecht setzte erst Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre ein.

– Christa Meves dagegen verteidigt die bürgerliche Kleinfamilie als ideales und letztlich gottgewolltes Familienmodell. Sie unterstellt Egoismus als Motiv zunehmender Frauenberufstätigkeit und als dessen Folge seelische Verwahrlosung der Kinder und die Auflösung gesellschaftlicher Strukturen. Da sie die Apokalypse bereits für das Jahr 2000 prognostiziert hat, bietet der Vergleich von M8 und M9 reichhalti-ges Material zu Überprüfung dieser Vorhersage und der Diskussion des Modells „bürgerliche Klein-familie“.

AV8

Es ist wohl sinnvoll, die Aufgabe im Rahmen einer HA bearbeiten zu lassen, da sie ja in gewisser Weise eine Lernzielkontrolle des bis zu diesem Zeitpunkt Erarbei-teten darstellt. Wichtige Elemente des Zeitstrahls soll-ten sein:

– Familienformen und Familienleben vor der Industri-alisierung mit den zentralen Werten Überlebens-sicherung und klarer hierarchischer Ordnung – Herausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie im

19. Jahrhundert mit dem zentralen Wert der Tradi-tionswahrung und der Herausbildung der Privatheit sowie klarer (geschlechtsspezifischer) Rollenver-teilung

– Entwicklung der bürgerlichen Kleinfamilie zum Rol-lenmodell der 1950er-Jahre mit der Tradierung der Rollenverteilung mit gleichzeitiger vorsichtiger Öffnung

– ab den 1960er-Jahren einsetzende und im 21. Jahr-hundert verstärkt wirksame Pluralisierung der Le-bensformen mit dem zentralen Wert der Individuali-sierung, der Relativierung gesellschaftlicher Normen und der Entscheidung für ein individuell festzule-gendes Lebens- und damit auch Familienmodell

Ich, Du, Wir – Identität und Sozialisation

Geschlechterrollen heute