6. Beobachtung der Mediationssitzungen
6.2. Entwicklung eines Kategoriensystems zur Beschreibung
6.2.2. Beschreibung des Kategoriensystems (erste Fassung)
Bei der Konstruktion des Beobachtungsschemas wurden rationales und empirisches Vorgehen miteinander verbunden (vgl. Friedrichs 1990): Nach Erstellung eines ersten groben Kategorienrasters überprüften wir dieses anhand von Text- und Videoprotokollen einer Sitzung des Rollenspiels (vgl. Kap. 4.4.) auf seine Anwendbarkeit. Dieses führte zur Revision und Ergänzung von Kategorien, die wiederum am Beispielfall angewendet wurden. Nach einigen derartigen "rekursiven Schleifen" war eine erste Fassung des Kategoriensystems fertiggestellt, die einem Pretest mit trainierten Ratern unterzogen wurde. Der Pretest diente vor allem dazu, das Kodierverfahren auf seine Handhabbarkeit und Zuverlässigkeit hin zu
17 So wiesen in einem Validierungsexperiment einige Kategorien der BPA eine Auftretenshäufigkeit von weniger als ein Prozent auf (s. Walcott & Hopman 1978).
überprüfen (zu den weiteren Aufgaben von Pretests bei einer Beobachtung vgl. Friedrichs 1990: 286f.).
Das Beobachtungsschema besteht aus fünf Hauptkategorien (vgl. Abb. 4, s.u.). Jeder zu beurteilende Interakt soll in eine dieser Kategorien eingestuft werden , "wobei es stets um den überwiegenden Aspekt aus der Sicht eines (gedachten) Rezipienten der Handlung geht"
(Fisch 1989: 15):
Um den inhaltlichen Schwerpunkt der jeweiligen Äußerung zu erfassen, erfolgt in der ersten Hauptkategorie eine inhaltliche Einordnung der Redebeiträge (Interakttyp): Dabei kann zwischen der Thematisierung sachbezogener, verfahrensbezogener und sozio-emotionaler Aspekte unterschieden werden.18
Als zweite Hauptkategorie soll die Zeitorientierung der Äußerungen eingeschätzt werden;
hier wird eine Differenzierung nach zukunfts-, vergangenheits- und gegenwartsbezogenen Äußerungen vorgenommen.
Bei der dritten Hauptkategorie geht es um den Gegenstandsbezug des Interaktes, d.h. die jeweiligen Personen oder Gruppen, die die Sprecher in den Redebeiträgen thematisieren:
'Selbst', 'Andere', 'Mediator', 'Gemeinsam' sowie Äußerungen, in denen nicht explizit auf eine Person oder Gruppe Bezug genommen wird ('Keine').
Mit der vierten Dimension soll die affektive Komponente des jeweiligen Redebeitrags berücksichtigt werden. Drei Klassifizierungsmöglichkeiten stehen hier zur Verfügung:
'ablehnend1, 'bestätigend' und 'neutral'.
Mit der fünften Hauptkategorie wird der in der Äußerung zum Ausdruck kommende Kommunikationsstil generell beurteilt. Im Gegensatz zu den o.g. Kategorien soll dabei eine Beurteilung bipolar angelegter Unterkategorien vorgenommen werden. Der jeweilige Interakt kann als vorwiegend 'starr' vs. 'flexibel', als primär 'persönlich' vs. 'unpersönlich' und als eher 'gefühlvoll' vs. 'argumentativ' eingestuft werden.
Die Unterscheidung lehnt sich eng an diejenige der Konferenzkodierung (Fisch 1989) an. Simkin (1971:77f.) verwendete eine ähnliche Unterscheidung, um die möglichen Verhaltensweisen eines Mediations zu klassifizieren ('procedural functions', 'communications functions', 'more affirmative and substantive functions').
18
Abb. 4: Erste Version des Kategoriensystems
a) Inhaltliche Einordnung ('Interakttyp') 1 verfahrensbezogen
Verfahrensorganisation und -Steuerung; alle Äußerungen, die sich auf das bisherige oder weitere Vorgehen bzw. den Ablauf des Verfahrens beziehen;
z.B.: Klärung von Verfahrensregeln, Fragen zur Tagesordnung, organisatorische Fragen 2 inhaltlich
problembezogene Aspekte, Aufgabenbewältigung, Sachbeiträge; alle Äußerungen, in denen sachbezogene Aussagen [Fragen, Vermutungen, Feststellungen, Bewertungen, etc.] über den Konfliktgegenstand gemacht werden; nicht unter diese Kategorie fallen Aussagen über Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren, auch wenn diese als Konfliktursache benannt werden;
z.B.: Problemlösungsvorschläge, Formulierung von Aufträgen, Entwickeln von Optionen 3 sozio-emotional
Beziehungsaspekte, Klärung von Kommunikationsstörungen; alle nicht-sachbezogenen Äußerungen, die sich auf die Interaktion zwischen den Beteiligten beziehen, sowie Äußerungen vorwiegend emotionalen Charakters ohne Sachbezug;
z.B.: Kritik an Personen, Ansprechen von Schwierigkeiten auf der Beziehungsebene, Mitteilung von Gefühlszuständen
b) Zeitorientierung ('Zeitorientierung') 1 zukunftsorientiert
Äußerungen, die sich auf Ereignisse, Vorgänge, Zustände, etc. in der Zukunft beziehen
z.B.: Befürchtungen zukünftiger Schwierigkeiten oder Ereignisse, Vorschläge in bezug auf gewünschte spätere Zustände, Entwickeln von Zukunftsvisionen
2 vergangenheitsorientiert
Äußerungen, die sich auf Vorfälle, Zustände, Erlebnisse, etc. in der Vergangenheit beziehen
z.B.: Bewertung zeitlich zurückliegender Vorfälle oder Verhaltensweisen, Erklärung früherer Geschehnisse, Fragen nach Ereignissen in der Vergangenheit
3 gegenwartsorientiert
Äußerungen, die sich auf aktuell gegebene Geschehnisse, Vorgänge, Erlebnisse, etc. beziehen;
Äußerungen, die keinen eindeutig zuordenbaren Zeitbezug aufweisen;
z.B.: Beschreibung momentaner Erlebnisse oder Gefühle, Erläuterung gegenwärtig vorhandener Möglichkeiten, Darstellung aktuell gegebener Sachverhalte; Hinweise auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten, allgemeingültige Erkenntnisse
c) Gegenstandsbezug ('Referenz') 1 keine
Äußerungen, in denen nicht explizit auf eine konfliktbeteiligte Person oder Gruppe Bezug genommen wird
2 Selbst
Äußerungen, in denen explizit Einstellungen, Charakteristika oder Verhaltensweisen der eigenen Person bzw. Gruppe beschrieben werden
3 Andere
Äußerungen, in denen explizit Einstellungen, Charakteristika oder Verhaltensweisen anderer konfliktbeteiligter Personen bzw. Gruppen beschrieben werden; nicht unter diese Kategorie fallen Aussagen über den Mediator
4 Mediator
Äußerungen, in denen explizit auf Einstellungen, Charakteristika oder Verhaltensweisen des Mediators eingegangen wird
5 Gemeinsam
Äußerungen, in denen explizit auf gemeinsame bzw. unterschiedliche Einstellungen, Charakteristika oder Verhaltensweisen der eigenen Person/Gruppe mit anderen Personen/Gruppen Bezug genommen wird d) Affektive Komponente ('Affekt')
1 ablehnend
zurückweisend, negativ, kritisierend; negative Bewertung einer Person oder des Verhaltens eines anderen Verhandlungsteilnehmers; Ablehnung von oder Kritik an Vorschlägen, Positionen, Sichtweisen einer anderen Person oder Verhandlungsgruppe
2 bestätigend
zustimmend, positiv, akzeptierend; positive Bewertung einer Person oder des Verhaltens eines Verhandlungsteilnehmers; zustimmende Haltung zu Vorschlägen, Positionen, Sichtweisen einer Verhandlungsgruppe
3 neutral
offen, neutral, nicht explizit wertend; Informationen, Erklärungen, Erläuterungen von Sachverhalten, Hintergründen, Fakten
Als Material für die Durchführung des Interaktionsratings standen die Videobänder der Rollenspielsitzungen und die dazugehörigen Transkriptionen zur Verfügung. Für den Pretest wurde die dritte Mediationssitzung ausgewählt; die Rater wurden also mit einem relativ komplexen Text konfrontiert: Während die Rollenspielteilnehmer den bisherigen Diskussionsverlauf kannten (die ersten beiden Sitzungen), trifft dies für die Rater nicht zu.
Zum einen führt dies zu einer eher konservativen Schätzung der Rater-Übereinstimmung, zum anderen entspricht es der späteren Situation von Beurteilem des realen Mediations Verfahrens. Auch letztere werden die Konfliktvorgeschichte nur teilweise bzw.
lediglich aus sekundären Quellen erfahren.
Am Pretest nahmen 14 studentische Probanden (Hauptstudium Psychologie) teil, die vor Durchführung des Ratings einer etwa einstündigen Schulung unterzogen wurden. Dabei erläuterte der Versuchsleiter das Kategoriensystem (s.o.) sowie den dazu entwickelten Ratingbogen und verdeutlichte die einzelnen Kategorien mit Hilfe von Beispielen.
19 Der Pretest wurde von Peter Ohler im Auftrag des WZB durchgefuhrt und ausgewertet.