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Teil I................................................................................................................... 5

2 Konzeptualisierung von „Lebensqualität“ in der onkologischen

2.1 Begriff „Lebensqualität“

Der Begriff der Lebensqualität (LQ) taucht in der medizinisch-onkologischen Forschung erst spät auf. Als Schlüsselwort für medizinische Datenbanken ist er 1975 (Aaronson 1990) zum ersten Mal vermerkt.

Der Begriff der Lebensqualität wurde zuerst im Rahmen von Politik und empirischer Sozialforschung verwendet.3 LQ gilt „[...] als Maß für die Güte der Lebenssituation und Ver-sorgung einer definierten Population [...]“ (Bullinger 1997, S.1). Heute ist der Begriff vielge-brauchter Slogan in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen: als Diskussionsge-genstand und Versprechen der Politik, als Mittel der Werbung, besonders im Rahmen der pharmakologischen Werbung für Generika und „Lifestyle“ Medikamente, als For-schungsgegenstand verschiedener Fachgebiete. In der Politik wurde und wird der Beg-riff zur Analyse gesellschaftlicher Bedingungen verwendet und um Zielvorstellungen zu beschreiben, die auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen abzie-len. Hauptaugenmerk wird dabei auf den sozialen, ökonomischen und ökologischen Wandel und seine Auswirkungen auf die eigene Gesellschaft und auf Gesellschaften im internationalen Vergleich gerichtet. In den siebziger Jahren, zehn Jahre nach den ersten Untersuchungen in den USA, wurde innerhalb der empirischen Sozialforschung in West-Deutschland der Zusammenhang zwischen objektiven Lebensbedingungen (Sozialstruktur) und subjektivem Wohlbefinden (wahrgenommene Lebensqualität) er-mittelt und der Versuch unternommen, zu bestimmen, durch welche Faktoren die indi-viduelle LQ beeinflusst wird. Diese Untersuchungen wurden erstmalig durchgeführt, um die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsentwicklung der BRD zu dokumentieren (Glatzer & Zapf 1984).

LQ in der Medizin wird anders definiert: „Es handelt sich hier um die vom Patienten selbst erlebte Befindlichkeit und Funktionsfähigkeit, die Fähigkeit, Rollen im täglichen Leben zu übernehmen und die Alltagstätigkeiten zur Zufriedenheit auszuführen. Zu-sammenfassend definiert, bezeichnet Lebensqualität das Gesamte der körperlichen,

3 Ein Überblick über die Begriffs- und Wortgeschichte findet sich bei Pukrop (1997, Kapitel 1).

Nach seinen Aussagen beginnt die eigentliche Verwendung des Begriffs in den späten Fünfzi-ger Jahren: Die vorher überwiegend geführte philosophische Diskussion wurde abgelöst durch politische, soziologische, psychologische und medizinische Konzepte. Der Begriff LQ wurde dem ökonomisch-quantitativen Wachstum als Zielgröße gleichgestellt. In USA wurde der Begriff zuerst im Wahlkampf von Eisenhower verwendet. Als früheste Quelle für die Übertragung ins Deutsche gilt eine Rede Willi Brandts 1972. Nach Pukrop erlebte das Konstrukt LQ den größten Boom in Medizin bzw. Klinischer Psychologie. In der Sozialpsychologie wurden in den 80er Jahren eine ähnliche Forschung unter dem Begriff des Subjektiven Wohlbefindens verfolgt.

psychischen, sozialen und funktionalen Aspekte von menschlichem Erleben und Ver-halten, wie sie von der Person selbst geäußert werden.“ (Bullinger, 1997 S. 1)

Folgende, paradox erscheinende Entwicklung in der Medizin bildete den Ausgangs-punkt für die Erforschung der LQ: medizin-technischer Fortschritt führt einerseits zur Verlängerung der Lebenszeit bei Patienten, andererseits rückt das durch ebendiese Therapieerfolge bedingte Leiden in den Mittelpunkt des Interesses. Ausnahmslos alle Autoren begründen die Notwendigkeit der Berücksichtigung von gesundheitsbezogener LQ in der Onkologie damit, dass die früher in kürzeren Zeiträumen tödlich verlaufenden Krebserkrankungen durch die effektiveren Therapien in chronische Verläufe umge-wandelt wurden. Die Fortschritte in Bezug auf verlängerte Überlebenszeiten wur-den/werden erkauft durch einschneidende Nebenwirkungen der Therapien und werfen die Frage auf, welche Einschränkungen (noch) akzeptabel sind um von „lebenswertem Leben“ sprechen zu können. Die Ermittlung von LQ in Abhängigkeit von Krankheit und Therapie soll dazu beitragen, beide Faktoren gegeneinander abzuwägen um zu ver-hindern, dass das Ausmaß der Belastung durch die Therapie die unvermeidbaren Be-lastungen durch die Krebserkrankung selber übersteigt.

In der medizinischen Forschung wird die reduktionistische Verwendung des Begriffes der LQ dadurch kenntlich gemacht, dass von gesundheitsbezogener LQ (Health rela-ted – HRQL) gesprochen wird, also von den Veränderungen, die unmittelbar mit Krankheit und Therapie zusammenhängen.

Der Begriff der gesundheitsbezogenen LQ in der Medizin ist unscharf und umfasst ein breites Themengebiet. Neben der Untersuchung von Beschwerden, Symptomen, Krankheitsfolgen im physischen und psychosozialen Bereich, Anpassungsleistungen, Probleme der Rehabilitation, werden auch Fragen der Arzt-Patient-Beziehung, psycho-soziale und medizinisch-supportive Angebote, Zufriedenheit mit der Behandlung, bis hin zur architektonischen Gestaltung des Raumes Krankenhaus (oder Reha-Einrichtung) sowie der Ernährung im Krankenhaus unter diesen Begriff gefasst.

Es bedarf deshalb einer grundsätzlichen Spezifizierung der Verwendung des Begriffes in Abhängigkeit von den formulierten Fragestellungen und damit einer Einengung auf die jeweils interessierenden Themen.

Es gibt weder eine allgemeine Theorie noch eine allgemeingültige Definition des Kom-plexes von gesundheitsbezogener Lebensqualität (HRLQ).4

4 Siehe Pukrop (1997, S. 12): Der Autor diskutiert die evaluativen, komparativen und quantitati-ven Komponenten, die implizit in einer Definition von LQ enthalten sind. Er wendet sich aus-drücklich gegen eine nur deskriptive Auffassung des Qualitätsbegriffes. Nur unter der verglei-chenden Annahme von höherer/niederer LQ wird LQ überhaupt messbar.

Am Beginn der LQ-Forschung stand die Beurteilung des behandelnden Arztes über die beobachtbaren Nebenwirkungen seiner Behandlung und deren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen seines Patienten und die Antwort auf die an den Patienten gerich-tete Frage, „Wie geht es Ihnen?“, d.h. die Frage nach der individuellen Beurteilung des behandelten Patienten.

Zwei Traditionen lassen sich bei der Betrachtung von LQ in der Onkologie unterschei-den:

Innerhalb der ersten Tradition wird im Rahmen des naturwissenschaftlichen For-schungsparadigmas LQ aufgelöst in Variablen, die hypothesengeleitet geprüft werden können. Die Forschung im onkologischen Kontext hat sich überwiegend um die Kon-struktbildung und die Entwicklung von methodischen Standards bemüht. Die Entwick-lung von Verfahren, die psychometrischen Gütekriterien genügen, stand im Mittelpunkt der Bemühungen. LQ wurde zum expliziten Zielkriterium von Studien und ergänzte additiv den Wirksamkeitsnachweis von Therapien. Der quantitativen Bewertung durch das „harte“ Kriterium der Überlebenszeit wurde die qualitative Bewertung durch den Patienten zur Seite gestellt, um so eine Analyse des Nutzens zu ermöglichen.5 Diese Verfahren werden vor allem eingesetzt, um Therapievergleiche zu ermöglichen und um Hilfestellungen in Entscheidungssituationen zu leisten, in denen medizinisch

gleichwer-tige Therapien zur Verfügung stehen.

In den letzten Jahren werden die auf diese Weise gewonnenen Daten in Beziehung gesetzt zu den Kosten der Behandlung. LQ wird so auch zu einem Faktor bei der öko-nomischen Bewertung von Therapien.

Innerhalb der zweiten Tradition, die dem hermeneutischen Vorgehen in den Geistes- und Sozialwissenschaften entspricht, stehen das konkrete Erleben des erkrankten Pa-tienten und sein Bewerten des Krankheitsgeschehens in seinem biographischen Kon-text im Vordergrund. Zusätzlich kann der Forscher die Äußerungen des Patienten in-nerhalb seines Theorierahmens interpretieren und mit Deutungsmustern versehen. In dieser Tradition erfolgt die Datenerhebung einzelfallorientiert mit qualitativen Erhe-bungsmethoden. Aus der Einzelfallanalyse werden verallgemeinerbare Schlüsse abge-leitet, die vor allem der Entwicklung von Unterstützungsangeboten dienen sollen. Au-ßerdem wird bereits die Datenerhebung als „minimale Intervention“6 7 betrachtet, die den Patienten zur Reflexion über sein Erleben anregt, sein Denken und Fühlen verän-dert und seine Freiräume im Umgang mit der Krankheit möglicherweise erweitert.

5 Zur Unterscheidung von Wirksamkeit und Nutzen in der Medizin siehe Porzsolt & Rist, 1997

6 Siehe auch Bernhard, Gusset & Hürny (1995): Quality-of-life assessment in cancer clinical trials: an intervention by itself?

7 Auch Jones et al. (1987) stellen Überlegungen an, die in die gleiche Richtung gehen.

Entsprechend der jeweiligen Tradition ergeben sich ganz unterschiedliche Probleme, sowohl inhaltlicher als auch methodischer Art. Bei der Betrachtung der Beiträge zur LQ in der Onkologie hat sich das Gewicht eindeutig in Richtung der Arbeiten mit natur-wissenschaftlichem Anspruch verschoben. Viele der naturwissenschaftlich orientierten Autoren betrachten den Einsatz qualitativer Forschung als Vorstufe zur Generierung von wichtigen Themen, die sich in Fragebogeninstrumente umsetzen lassen und dann einer hypothesengeleiteten Überprüfung zugänglich sind.

Im Folgenden werden wichtige Schritte der Entwicklung von LQ-Forschung im Kontext des naturwissenschaftlichen Paradigmas kurz skizziert.