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5. Diskussion: Zahnärztliche Reihenuntersuchungen

5.3 Aufgedeckte Problemlagen

Bei den letzten Erhebungen (Reihenuntersuchun-gen 07/08 und 08/09, Pieperstudie 2009) zeigte sich, dass sich die Zahngesundheit der 6-7Jährigen in Sachsen-Anhalt zwar weiterhin verbessert hat, aber immer noch deutlich schlechter ist als im Bundes-durchschnitt (Abb. Z14a,Tab. Z10).

Ein Vergleich der Schuljahre 07/08 und 08/09 zeigt allerdings, dass sich in Sachsen-Anhalt der Zustand des Milchgebisses bei 4-9-jährigen Kindern anschei-nend weiterhin von Jahr zu Jahr verbessert (Abb.

Z24-Z27). Im Bundesdurchschnitt ist hingegen schon seit dem Jahr 2000 eine Stagnation der Milchzahn-gesundheit eingetreten, in einigen Bundesländern verschlechtert sie sich inzwischen sogar wieder (Pie-per, 2005, RKI, 2009). Angesichts des großen Rück-standes in Sachsen-Anhalt wird es jedoch – auch bei angenommener weiterer Stagnation der Milchzahn-gesundheit auf Bundesebene – wahrscheinlich noch lange dauern, bis die Milchzahngesundheit in Sach-sen-Anhalt das Bundesniveau erreicht hat.

Die Verbesserung der Milchzahngesundheit bei Kin-dern scheint generell schwieriger zu erreichen zu sein als die Verbesserung der Dauergebissgesundheit bei ältern Kindern und Jugendlichen (Pieper, 2005, RKI, 2009). Als mögliche Gründe gelten: die Dauerum-spülung des Milchgebisses bei Kleinkindern beim Gebrauch von Nuckelflaschen, das reichhaltige An-gebot von praktisch verpackten, stark zuckerhaltigen Essens- und Getränkeportionen für Kinder, die Un-terschätzung der Bedeutung der Milchzahngesund-heit durch viele Eltern („die fallen doch eh raus“) und die dadurch bedingt häufige Vernachlässigung von Zahnarztbesuchen im Vorschulalter und der zu geringe Einsatz lokaler Fluoridierungen bei Vorschul-kindern (empfohlen: Zähneputzen mit fluoridierter Zahnpasta ab dem 1. Zahn).

Die Fluoridierung hat bei richtiger Dosierung einen entscheidenden protektiven Einfluss bei der Ent-wicklung von Karies, speziell der Milchzahnkaries.

Allerdings ist eine richtige Abstimmung der vielen möglichen lokalen und systemischen Fluoridierungs-möglichkeiten notwendig, sonst kann es auch zu ei-ner Überfluoridierung und eiei-ner daraus resultieren-den Dentalfluorose (lebenslang sichtbare Flecken auf bleibenden Zähnen) kommen. Neben Fluoridierungs-maßnahmen sind regelmäßige Zahnpflegemaßnah-men in KITAs und Grundschulen der aussichtsreichste Weg, die Milchkaries zu bekämpfen (Heese, 2007).

Der Gesundheitszustand des Milchgebisses legt die Basis für den Gesundheitszustand des Dauergebis-ses (vgl. z.B. Dürr, 2002). Wie wichtig Anstrengungen zum Erhalt bzw. zur Verbesserung der Milchzahnge-sundheit bei Kindern sind, zeigt das Beispiel einiger skandinavischer Länder, wo es zu einem Wiederan-stieg der Milchzahnkaries und - daraus folgend und zeitversetzt - auch zu einem Wiederanstieg der Kari-es bei 12-Jährigen gekommen ist.

Soziale Ungleichverteilung der

Zahngesundheit von Heranwachsenden:

Ein negativer und besorgniserregender Aspekt der vorliegenden Auswertungsergebnisse ist die hier nachgewiesene starke Ungleichverteilung der Zahn-gesundheit bei Kindern und Jugendlichen in Sach-sen-Anhalt.

Polarisierung des Kariesbefalls bei Heranwachsenden:

Neben dem erfreulichen Befund, dass sich die Zahngesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland in den letzten 20 Jahren kontinuierlich und deutlich verbessert hat, tritt jedoch auch ein ne-gativer Aspekt dieser Entwicklung hervor: Mehrere Studien berichten, dass in Deutschland eine zuneh-mende „Polarisation“ des Kariesbefalls bei Heran-wachsenden zu beobachten ist, d.h. eine zunehmen-de Aufteilung der Kinder und Jugendlichen in eine große Gruppe mit sehr geringem Kariesbefall und eine kleine Gruppe mit sehr starkem Kariesbefall (z.B.

Pieper, 2005, Micheelis und Schiffner, 2006). So ver-einten bei der 4. Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMGS IV) 10% der Untersuchten 61% der kariösen Zähne auf sich (Micheelis und Schiffner, 2006).

Um diese Beobachtung auch für Sachsen-Anhalt zu überprüfen, wurden die Untersuchten in zwei Grup-pen geteilt (0-3 kariöse Zähne bzw. >4 kariöse Zähne) und in jeder Gruppe die Gesamtzahl kariöser Zähne ermittelt. Im Ergebnis zeigte sich, dass bei Kindern

<10 Jahre bzw. Jugendlichen >10 Jahre nur 25% bzw.

16% der Untersuchten 78% bzw. 64% aller kariösen Zähne auf sich vereinten (Abb.Z31). Auch in Sachsen-Anhalt ist also eine starke Polarisierung des Karies-befalls festzustellen. Dabei ist der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit sehr starkem Kariesbefall ab-hängig vom „Bildungsniveau“ der besuchten Schule und damit letztendlich von der sozialen Lage der Her-anwachsenden (siehe unten).

100%

90%

80% 74,7%

70%

60%

50%

40%

30%

22,5%

20%

10%

0%

mit 0-3 geschädigten Zähnen mit >= 4 geschädigten Zähnen (N = 133.567) (N = 45.124)

Kinder <10 Jahre (Milchgebiss) 25,3%

84,4%

15,6%

77,5%

36,4%

63,6%

Abb. Z31: Polarisierung des Kariesbefalls bei Kindern und Jugendlichen, Sachsen-Anhalt, Schuljahre 07/08+08/09

Anteil an allen untersuchten Kindern bzw. Jugendlichen

Anteil der in dieser Gruppe gefundenen d/D-, m/M- und f/F-Zähne an allen d/D-, m/M- und f/F-Zähnen

Ungleichverteilung der Zahngesundheit in verschiedenen Schularten:

Die stärkste Ungleichverteilung zeigte sich in den verschiedenen Schularten. Bei 6-18-Jährigen trat eine klare Abstufung der Zahngesundheit proportional zum „Bildungsniveau“ der besuchten Schulart hervor:

Bei jeweils Gleichaltrigen war die Zahngesundheit bei Grundschüler/innen besser als bei Förderschüler/

innen, bei Sekundarschüler/innen besser als bei För-derschüler/innen und bei Gymnasialschüler/innen wiederum besser als bei Sekundarschüler/innen. Die Unterschiede waren in allen Jahresaltersstufen er-heblich und statistisch signifikant (Abb.Z15-Z17). Auf eine deutlich schlechtere Zahngesundheit von Viert- und Sechstklässlern in Förderschulen im Vergleich zu Regelschulen in Sachsen-Anhalt wurde schon früher hingewiesen (Gemba, 2003).

mit 0-3 geschädigten Zähnen mit >= 4 geschädigten Zähnen

(N = 47.912) (N = 8.873)

Jugendliche >10 Jahre (Dauergebiss)

Die in Abb.Z31 gezeigte Polarisierung des Kariesbe-falls findet nicht in allen Schularten gleichmäßig statt, sondern sie ist direkt gekoppelt mit dem „Bil-dungsniveau“ der besuchten Schulart: Der Anteil von Jugendlichen mit starkem Kariesbefall (dmf-t-/

DMF-T >4) war in Sekundarschulen 3-mal höher als in Gymnasien, in Förderschulen 2-mal höher als in Sekundarschulen und in Förderschulen 6-mal höher als in Gymnasien. In Förderschulen hatte etwa jeder dritte Jugendliche >10 Jahre einen DMF-T-Wert >4 (Abb. Z32).

Abb. Z32: Polarisierung des Kariesbefalls bei Jugendlichen >10 Jahre nach Art der besuchten Schule, Sachsen-Anhalt, Schuljahre 07/08+08/09

Gymnasien Sekundarschulen Förderschulen

untersucht 16.078 23.783 12.274

Es ist allgemein anerkannt, dass gesundheitliche Un-terschiede bei Heranwachsenden in Abhängigkeit von der Art der besuchten Bildungseinrichtung we-niger auf den direkten Einfluss der Einrichtung selbst (z.B. Bildungsinhalte) zurückzuführen sind, als viel-mehr auf Unterschiede bezüglich des überwiegen-den sozialen Hintergrundes der Schülerschaft: Die Empfehlung bzw. Wahl der Schulart (hier: Förderschu-le/Grundschule bzw. Förderschule/Sekundarschule/

Gymnasium) ist generell - und in Deutschland even-tuell in besonderem Maße (vgl. OECD, 2007) - vom Sozialstatus der Familie des Kindes abhängig. Des-halb ist der deutliche Gradient der Zahngesundheit zwischen den untersuchten Schularten, mit der di-rekt proportionalen Abhängigkeit vom „Bildungsni-veau“ der besuchten Einrichtung, ein starker Hinweis darauf, dass in Sachsen-Anhalt – wie auch in gesamt-deutschen und internationalen Studien - eine starke soziale Ungleichverteilung der Zahngesundheit von Kindern und Jugendlichen vorliegt, mit einer Konzen-tration schlechter Zahngesundheit bei Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien.

Geringere Inanspruchnahme der zahnärztlichen Versorgung bei Sekundar- und Förderschüler/innen:

Eine mögliche Ursache (unter anderen) für die schlechtere Zahngesundheit in Sekundar- und För-derschulen im Vergleich zu Gymnasien könnte die geringere Inanspruchnahme der zahnärztlichen Ver-sorgung sein. Um dies zu überprüfen, wurden die Versiegelungsquote und die kieferorthopädische Be-handlungsquote in den drei Schularten verglichen.

Versiegelungen:In allen Altersstufen hatten Sekun-darschüler/innen eine signifikant niedrigere Versie-gelungsquote als Gymnasialschüler/innen, Förder-schüler/innen wiederum eine signifikant geringere Versiegelungsquote als Sekundarschüler/innen (Abb.

Z33).

Abb. Z33: Anteil der untersuchten Schüler/innen mit mindestens einer Versiegelung nach Art der besuchten Schule, Sachsen-Anhalt, Schuljahre 07/08+08/09

Bezug Alter in Jahren

Förderschulen Sekundarschulen Gymnasien Signifikanz

des Unter-schieds untersucht % mit

Versiegelung untersucht % mit

Versiegelung untersucht % mit Versiegelung

Dauergebiss

11 1.972 43,7% 8.489 63,3% 7.803 70,3% **

12 1.989 47,8% 7.198 62,7% 5.342 72,2% **

13 1.947 50,8% 2.814 60,1% 805 74,5% **

14 1.862 46,9% 1.939 63,4% 933 76,2% **

15 1.812 50,8% 1.831 66,3% 1.077 74,3% **

16 1.325 49,4% 1.114 63,5% 511 76,3% **

11-16 10.907 48,2% 23.385 63,2% 16.471 74,0%

** Unterschied zwischen Schularten statistisch hoch signifikant (Chi2, p<0,001)

Kieferorthopädische Behandlungen: In allen Alters-stufen folgte die kieferorthopädische Behandlungs-quote (Anteil von Schüler/innen, bei denen während der Reihenuntersuchung eine kieferorthopädische Anomalie festgestellt wurde und die sich zu diesem Zeitpunkt schon in kieferorthopädischer Behand-lung befanden) demselben Gradienten: Sie war in Sekundarschulen niedriger als in Gymnasien, in För-derschulen wiederum geringer als in Sekundarschu-len (Abb.Z34). Dabei war der Unterschied zwischen Förder- und Sekundarschulen geringer als zwischen diesen beiden Schularten und Gymnasien. Ganz of-fensichtlich „leisten sich“ Gymnasialschüler/innen deutlich häufiger eine kieferorthopädische Behand-lung als Sekundar- und Förderschüler/innen.

Die mittlere kieferorthopädische Behandlungsquote der 12-16-Jährigen in allen drei Schularten (ca. 30%) kann in diesem Zusammenhang nicht zur Beurtei-lung einer möglichen kieferorthopädischen Unter- oder Überversorgung herangezogen werden, da die Art/Schwere der von den Jugendzahnärzt/innen dia-gnostizierten kieferorthopädischen Anomalien nicht erfasst wurde.

0%

5%

10%

15%

20%

25%

30%

35%

40%

45%

NF = 1.712 NS = 5.736 NG = 4.361

NF = 1.689 NS = 2.224 NG = 774

NF = 1.621 NS = 1.779 NG = 929

NF = 1.598 NS = 1.802 NG = 1.035

NF = 1.183 NS = 1.109 NG = 503

12 13 14 15 16

Anteil in Behandlung Befindlicher unter allen Jugendlichen mit kieferorth. Anomalie

Alter in Jahren/ Anzahl Untersuchter in Förderschulen (F), Sekundarschulen (S), Gymnasien (G) Abb. Z34: Kieferorthopädische Behandlungsquote1 von Jugendlichen nach Schulart und

nach Alter, Sachsen-Anhalt, Schuljahre 07/08+08/09

Förderschule Sekundarschule Gymnasium

1 Anteil von Schüler/innen, bei denen während der Reihenuntersuchung eine kieferorthopädische Anomalie festgestellt wurde und die sich zu diesem Zeitpunkt schon in kieferorthopädischer Behandlung befanden

Aus dem Ergebnis beider Untersuchungen (Versiege-lungsquote: Abb.Z33, kieferorthopädische Behand-lungsquote: Abb.Z34) lässt sich folgern, dass Förder- und Sekundarschüler/innen in Sachsen-Anhalt die zahnmedizinische Versorgung und das Individualpro-phylaxeangebot in den Zahnarztpraxen anscheinend weniger in Anspruch nehmen als Gymnasialschüler/

innen. Dies könnte ein Grund (unter anderen) für die deutlich schlechtere Zahngesundheit der Schüler-schaft dieser Schularten sein.

Ungleichverteilung der Zahngesundheit in öffentlichen und „freien“ Einrichtungen:

Erstmalig in Sachsen-Anhalt wurde im vorliegenden Bericht untersucht, ob gesundheitliche Parameter von Heranwachsenden (hier: Zahngesundheit) auch abhängig davon sind, ob die besuchte Einrichtung sich in öffentlicher oder in freier Trägerschaft befin-det. Hintergrund der Fragestellung war, dass neben der Wahl der Schulart vermutlich auch die Wahl des Einrichtungsträgers stark vom Sozialstatus der Fa-milie des Kindes abhängt: Einrichtungen in freier Trägerschaft, die oftmals monatliche Elternbeiträge („Schulgelder“) erheben und wo oft lange Schulwege erforderlich sind, werden wahrscheinlich wesentlich häufiger von Kindern/Jugendlichen aus sozial star-ken als aus sozial schwächeren Familien besucht.

Tatsächlich zeigte sich ein klarer Unterschied der Zahngesundheit in öffentlichen und „freien“ Einrich-tungen, und zwar in allen untersuchten Einrichtungs-arten (KITAs, Grundschulen, weiterführende Schulen) und in fast allen Jahresaltersstufen: Jeweils war die Zahngesundheit in „freien“ Einrichtungen besser als in den entsprechenden öffentlichen Einrichtungen (Abb. Z18-Z20, Tab. Z14-Z16).

5.4 Vergleich mit einem anderen