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3 Ambulantisierung der Pflege

3.2 Entwicklung von Anreizstrukturen

3.2.3 Anreizstrukturen

In welchem Umfang Pflegebedürftige in welchen Versorgungsstrukturen gepflegt werden, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Nachfrageentscheidungen der Pflegebedürftigen und Angebotsentscheidungen der Pflegeeinrichtungen. Formelle Pflege wird dabei nur in Anspruch genommen, wenn eine entsprechende Nachfrage auf vorhandene Angebots-strukturen trifft. Um die (zukünftige) Bedeutung der Ambulantisierung abschätzen zu können, gilt es, die Veränderung der Anreize für Nachfrager und Anbieter zu analysieren.

Pflegebedürftige und ihre Angehörigen stehen dabei grundsätzlich vor der Wahl, in wel-chem Umfang die Pflege informell oder formell erbracht werden soll. Neben einer Vielzahl anderer Faktoren, wie dem Ausmaß der Pflegebedürftigkeit, der Stärke des vorhandenen informellen Netzes, kultur- und milieuabhängiger Wertestrukturen, spielen bei dieser Entscheidung regelmäßig auch haushaltsökonomische Überlegungen eine Rolle. Famili-ale Pflege führt zum einen dazu, dass das Pflegegeld in voller Höhe bezogen werden kann. Zum anderen muss aber möglicherweise die Erwerbstätigkeit reduziert werden, was zu Einkommenseinbußen führt. So haben ein Viertel der Hauptpflegepersonen ins-gesamt (Rothgang & Müller, 2018, S. 116) und fast die Hälfte derjenigen, die zu Beginn der Pflege erwerbstätig waren (Schneekloth et al., 2017, S. 60), ihre Erwerbstätigkeit reduziert oder sogar aufgegeben. Dabei ist die Bereitschaft zur Reduktion der eigenen Erwerbstätigkeit umso geringer ausgeprägt, je höher das Erwerbseinkommen ist (Roth-gang & Unger, 2013). Heimpflege auf der anderen Seite ermöglicht pflegenden Angehöri-gen zwar das Fortführen der eiAngehöri-genen Erwerbstätigkeit, führt aber nicht nur zum Verlust des Pflegegelds, sondern auch dazu, dass Eigenanteile in erheblicher Höhe gezahlt wer-den müssen. Neben dem einrichtungseinheitlichen Eigenanteil (EEE) sind dabei auch die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung (U & V) sowie die gesondert in Rechnung gestell-ten Investitionskosgestell-ten (IK) zu berücksichtigen, die die in Privathaushalgestell-ten anfallenden Miet- und Unterhaltskosten in der Regel deutlich übersteigen. Werden die Entgelte für IK sowie U & V nur zur Hälfte (als pflegebedingt) berücksichtigt, liegt die durchschnittliche 1.702–2.287 €

Mehrauf-wand für stationäre Pflege im Vergleich zur informellen Pflege

monatliche finanzielle Belastung bei Heimpflege – im Vergleich zur informellen Pflege – bei 1.702 Euro (PG 2) bis 2.287 Euro (PG 5) (Tabelle 3.3).

Pflege-WGs und betreutes Wohnen bieten für Pflegebedürftige und deren Familien inzwischen eine finanziell attraktive Alternative, da seit Inkrafttreten der Reformgesetze (siehe Kapitel 1.1) Leistungen der Pflegeversicherung in großem Umfang kombiniert wer-den können, die im Pflegeheim nicht bezogen werwer-den können. Das betrifft insbesondere Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Tages- und Nachtpflege sowie den Wohngruppen-zuschlag (Tabelle 3.4).

Tabelle 3.3: Finanzielle (Mehr-)Belastung der Pflegebedürftigen bei Heimpflege im Vergleich zur häuslichen informellen Pflege im Jahr 2017

Pflegegrad (1) (2) (3) (4) (5)

= (1) + 0,5 x ((2)+(3)) + (4)

EEE U & V IK Pflegegeld „Belastung“

2 628 1.115 401 316 1.702

3 628 1.115 401 545 1.931

4 628 1.115 401 728 2.114

5 628 1.115 401 901 2.287

Quelle: Tabelle 2.4; § 36 SGB XI

Zudem werden die Kosten für häusliche Krankenpflege von der Krankenversicherung übernommen, während das Pendant dazu im stationären Setting, die medizinische Behandlungspflege, in der stationären Versorgung – mit Ausnahme von eng umschrie-benen Härtefällen – als im Pflegesatz enthalten gilt (§ 82 SGB XI; § 37 Abs. 2 SGB V). Da die Pflegeversicherungsleistungen im Pflegeheim aber in aller Regel deutlich unterhalb des Pflegesatzes liegen, müssen diese Kosten de facto von den Pflegebedürftigen getragen werden. Damit bieten ambulantisierte Versorgungsformen einerseits mehr Unterstützungsleistungen als ein informelles Pflegearrangement ohne Nutzung von Pflegeeinrichtungen, so dass die Erwerbstätigkeit der Angehörigen in deutlich höherem Maße aufrechterhalten werden kann. Zum anderen ist eine ambulantisierte Versorgungs-form nicht mit den gleichen finanziellen Belastungen verbunden wie ein

Pflegeheim-Tabelle 3.4: Genereller Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegesetting

Genereller Anspruch … im Pflegeheim in einer

Pflege-WG in betreutem Wohnen

vollstationäre Pflege ja nein nein

Wohngruppenzuschlag nein ja ja

Betreuung ja ja ja

häusliche Krankenpflege nur in

Ausnahmefällen ja ja

Wohnumfeldverbesserung

und Hilfsmittel nein ja ja

Neben den Kosten für die Pflege sind von den Pflegebedürftigen in betreutem Wohnen noch die Kosten für die Unterbringung und den Service zu tragen. Die durchschnittlichen Kaltmieten liegen im Jahr 2018 bei 9,57 Euro pro Quadratmeter und durchschnittlich 3,20 Euro pro Quadratmeter für Nebenkosten (Strom, Wasser, Heizung). Dazu kommt in der Regel noch eine Betreuungspauschale. Diese beträgt durchschnittlich 130 Euro (Kremer- Preiß et al., 2019, S. 41). Der durchschnittliche Preis für eine durchschnittliche Zweizimmerwohnung (53,5 Quadratmeter) in betreutem Wohnen beträgt demnach 816 Euro. Zusätzlich sind die Ausgaben für Verpflegung zu beachten. Je Einpersonen-haushalt werden vom Statistischen Bundesamt monatliche Ausgaben für Nahrungsmit-tel, Getränke und Tabakwahren in Höhe von 204 Euro ausgewiesen (Statistisches Bundesamt, 2018f, S. 26). Mit den 816 Euro für Wohn- und Betreuungskosten summie-ren sich somit die Gesamtkosten auf etwa 1.020 Euro in betreutem Wohnen. Die Entgelte für Unterkunft, Verpflegung und Investitionskosten, die im Pflegeheim zu tragen sind, belaufen sich auf 1.115 Euro monatlich (Kapitel 2.2.2). Der Unterschied der Zahlbeträge für Wohnen, Service und Verpflegung ist zwischen Pflegeheimen und betreutem Wohnen somit nicht sehr groß. Für eine Entscheidung zwischen Heim und betreutem Wohnen ist dieser Bereich eher unerheblich.

pflegeunabhängige Kos-ten ähnlich in betreutem Wohnen und im Pflege-heim

Abbildung 3.1: Maximale Leistungssummen der SPV und der GKV für exemplarische ambulante und stationäre Versorgungssettings im Jahr 2018

0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 3.500 4.000 4.500 5.000 5.500

Wohnumfeld und Hilfsmittel

mögliche monatliche Leistungssummen in Euro

Pflegegrad 1Pflegegrad 2Pflegegrad 3Pflegegrad 4Pflegegrad 5

häusliche

Quelle: eigene Darstellung nach BMG (2019c), Hochrechnungen der BARMER-Daten 2018 bezüglich der häuslichen Krankenpflege nach (§ 37 SGB V) und der Leistungen für Hilfsmittel und wohnum-feldverbessernde Maßnahmen

Abbildung 3.1 zeigt, welche maximalen Leistungssummen aus der Krankenversicherung bezüglich der häuslichen Krankenpflege und aus der Pflegeversicherung in verschiedenen Versorgungssettings theoretisch möglich sind. Unterschieden werden die Pflege-WGs und die häusliche Pflege jeweils einmal mit und einmal ohne Tages- oder Nachtpflege von der vollstationären Dauerpflege. Der Leistungsanspruch in betreutem Wohnen ist dabei ebenso groß wie in der häuslichen Pflege.

Erkennbar ist, dass in den Pflegegraden 2 bis 5 durch Kumulation der verschiedenen Leistungen bei häuslicher Pflege insgesamt deutlich höhere Leistungssummen möglich sind als bei vollstationärer Pflege. Obwohl in der vollstationären Versorgung eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung gegeben ist, sind die maximalen Leistungssummen für diese Versorgungsform in jedem der Pflegegrade 2 bis 5 am geringsten. Inklusive der Betreu-ungsleistungen und der durchschnittlichen monatlichen Krankenkassenleistungen für häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V liegt die maximale Leistungssumme im Pflege-heim bei Pflegegrad 2 bei 899 Euro. Mit Pflegegrad 3, 4 und 5 erhöhen sie sich auf 1.391 Euro, 1.905 Euro und 2.152 Euro. Die maximalen pflegebezogenen Leistungs-summen erreichen dagegen bei Pflege-WGs schon bei Pflegegrad 2 insgesamt 2.337 Euro, also einen höheren Betrag, als er im Pflegeheim in Pflegegrad 5 erreicht werden kann.

Über alle Pflegegrade hinweg liegt das maximal mögliche Leistungsvolumen bei betreu-tem Wohnen rund doppelt so hoch wie in der vollstationären Versorgung und bei Pflege- WGs noch einmal höher.

Für Leistungsanbieter sind betreutes Wohnen und Pflege-WGs – in Kombination insbe-sondere mit Tages- und Nachtpflege sowie häuslicher Krankenpflege – ebenfalls sehr attraktiv, weil dadurch insgesamt höhere Erlöse realisiert werden können, gleichzeitig aber keine Vollversorgung garantiert werden muss und zudem viele ordnungsrechtliche Regelungen wegfallen. Für sie besteht daher ein ökonomischer Anreiz, eine Versorgungs-struktur zu schaffen, bei der durch die Kombination verschiedener Leistungen (Wohnen, Pflegesachleistung, Wohngruppenzuschlag, Tages- oder Nachtpflege, Umbaumaß-nahmen sowie häusliche Krankenpflege) insgesamt deutlich höhere Leistungsbeträge aus der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung entnommen werden können als durch das Angebot einer vollstationären Versorgung im Pflegeheim. Diese Umstruk-maximale

Leistungs-summen ambulant mehr als doppelt so hoch wie stationär

Ambulantisierung = Win- win-Situation für Anbieter und Nachfrager zulasten der Beitrags-zahler

turierung kann durch Umwidmung vorhandener Pflegeheime oder durch Neubauent-scheidungen geschehen, wodurch dann Angebote geschaffen werden, die zwar als ambulante Versorgungsangebote firmieren, ansonsten aber eine große Ähnlichkeit mit der Versorgung im Pflegeheim aufweisen. Werden die in dieser Versorgungsform höhe-ren Erlöse zum Teil durch niedrigere Preise an die Pflegebedürftigen weitergegeben, entsteht für Anbieter und Nachfrager eine Win-win-Situation – allerdings zulasten der Beitragszahler.