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Anrechnung außerhochschulischer Kompetenzen und Studierendenauswahl

Im Dokument Profil und Passung (Seite 119-122)

Karl-Heinz Minks

Wenn wir in den vergangenen Jahren über „Anrechnung“ beruflich erworbener Kompetenzen auf ein Hochschulstudium gesprochen haben, dann schwang in den Köpfen vieler Diskussions-teilnehmer immer das Thema „Zugang“ mit. Dabei wurde oft übersehen, dass beides – Zugang und Anrechnung – bildungssystematisch zwei verschiedene Baustellen sind, die allerdings Teile eines organischen Ganzen sind oder zumindest sein sollten. Viele Missverständnisse zeigen sich im Sprachgebrauch, wenn häufig anstatt von Anrechnung von Anerkennung die Rede ist. „Aner-kennung“ von Qualifikationen rechnen wir eher dem Bereich des Studienzugangs zu: also die erkennung des gymnasialen Abschlusszeugnisses oder anderer zugangsrelevanter Zertifikate: An-rechnung hat dagegen keinen unmittelbaren Bezug zur Studienberechtigung, kann aber eine mehr oder weniger große Rolle bei der Profilbildung und der hochschuleigenen Auswahl von Studien-bewerbern spielen: Bei Anrechnung handelt es sich um die Vermutung oder den Nachweis, dass studienrelevante Kompetenzen bereits vor dem Studium bzw. außerhalb des Studiums erworben wurden, weshalb entsprechende, äquivalente Studienmodule erlassen werden können.

In unserer deutschen Bildungstradition hat sich Anrechnung – obgleich sie hier und da auch in der Vergangenheit praktiziert wurde – anders als in Nachbarländern erst einige Jahre nach dem Beginn des Bolognaprozesses zu einem auffälligen bildungspolitischen Thema entwickeln kön-nen. Im Grunde genommen wird Anrechnung gerade erst jetzt von der Bildungsöffentlichkeit als möglicherweise wichtiges Thema registriert. Die europäischen Hochschulen haben sich erst 2005 in einer gemeinsamen Erklärung der EUA zur Anrechnung bekannt.1

Studienzugangsregelungen hatten in der deutschen Tradition – nicht erst seit der Einführung des Numerus Clausus in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts – meist einen restriktiven Charak-ter. Auch bildungssoziologisch betrachtet war der Zugang zur Hochschule eine Erscheinungs-form gesellschaftlicher Exklusion, die nicht erst an der Schnittstelle zwischen Abitur und Studi-um ansetzte. Mit dem Alleinstellungsanspruch der „allgemeinbildenden“ gymnasialen „Reife“ als Zugangsvoraussetzung zur Universität ging im weiteren bildungsgeschichtlichen Verlauf die Seg-mentierung von beruflicher und allgemeiner Bildung einher; diese hat entscheidend mit zu den Ergebnissen geführt, die heute allenthalben beklagt werden: zu wenige Studierende, zu geringe Durchlässigkeit etc. Auch der Titel dieser Tagung „Profil und Passung“ könnte die Vorstellung näh-ren, dass hierfür das Bild von Schlüssel und Schloss entliehen wurde – also um einen Ausschluss derer, die nicht den passenden Schlüssel zum Hörsaal haben. Der Schlüssel war traditionell das Abitur und was hinter der Tür des Hörsaals stattfand, stand im Kontext mit Zugang oder Auswahl i. d. R. nicht zur Disposition.

Einer der Schlüsselbegriffe, der sich seit den 1980er Jahren durchgesetzt hat, ist der der „Stu-dierfähigkeit“. Die mit der Öffnung der höheren Schulen und den Reformen der gymnasialen Ober-stufe sowie der Einführung der FOS und der Fachhochschulen einhergegangene Heterogenisie-rung der Studienberechtigten hat damals zu der verbreiteten Auffassung geführt, dass das Abitur

1 Glasgow-Erklärung der EUA (2005): „Universitäten verpflichten sich, ihre Anstrengungen hinsichtlich der Einführung innovativer Lehrmethoden zu verdoppeln, Curricula im Dialog mit Arbeitgebern neu auszurichten und sich der Herausforderung von akademischer und berufsorientierter Bildung, lebenslangem Lernen und der Anerkennung früherer Lernerfahrungen zu stellen.“

nicht mehr der Garant für eine allgemeine Studierfähigkeit sei. Eine unumstrittene und operati-onalisierbare Definition dessen, was Studierfähigkeit sei, gibt es bis heute nicht; nicht selten ver-birgt sich dahinter die Vorstellung, dass bestimmte materiale Inputs, wie z. B. ein Leistungskurs in Mathematik oder in einem anderen Fach zwingend erforderlich seien, um Studierfähigkeit zu begründen. Die logische Folge dieser Sichtweise wäre, nur noch von einer schulfachgebundenen Studierfähigkeit zu sprechen. Wie gestern schon betont wurde, sind es aus der Sicht der Studie-renden aber weniger die materialen fachlichen Voraussetzungen, sondern eher die übergreifen-den Kompetenzmerkmale, wie z. B. Arbeitstechniken, die ihnen die größten Probleme bereiten.

Die zunehmende Heterogenität der Studienbewerberinnen und Studienbewerber bezieht sich aber nicht nur auf das materiale Wissen, sondern auch auf soziale und Milieumerkmale – und zu-nehmend eben auch auf einen gewachsenen Anteil in verschiedener Weise beruflich gebildeter Studierender, die mit einer Reihe von Kompetenzmerkmalen ausgestattet sind, die bei Zulassung, Auswahl und Anrechnung bisher kaum oder gar nicht in den Blick genommen wurden.

In den Anrechnungsprojekten der ANKOM-Initiative war es eine der Hauptaufgaben, studien-relevante und -äquivalente Lernergebnisse aus der beruflichen Fort- und Weiterbildung zu identi-fizieren, zu bewerten und in ECTS-Punkte zu überführen. Dabei war es beinahe zu erwarten, dass im Zuge dieser Arbeit folgendes Phänomen auftrat: einer Berufsgruppe konnte ein erhebliches Maß an Kompetenzen nachgewiesen werden, die auf ein bestimmtes Studium anrechenbar sind – allein, es fehlte eine Studienberechtigung. Für diese Gruppe konnte nachgewiesen werden, dass sie in relevanten Bereichen bereits mehr als normale Abiturienten Kompetenzen auf Studienni-veau hat; unter dem Gesichtspunkt der Studierfähigkeit sollte dieser Sachverhalt überzeugend sein und eine Studienzulassung legitimieren.

Eines der häufigen Argumente gegen die Entwicklung von Anrechnungsverfahren ist die Be-hauptung, das Interesse an Studium und Anrechnung beträfe doch nur eine sehr kleine Gruppe unter den Berufstätigen, die über keine traditionelle Studienberechtigung verfügen. Das ist etwa so, als wolle man behaupten, der Floh in der Zigarrenkiste habe kein Interesse am Springen.

Empirisch sieht es gegenwärtig um die Gruppe der nicht-traditionellen Studierenden in der Tat nicht gut aus. Bei gut einem Prozent liegt ihr Anteil an allen Studierenden, bei einem minima-len Anstieg in den letzten Jahren (Wolter, 2007). Wie groß die Studienpotenziale unter Berufstä-tigen ohne traditionelle Studienberechtigung sind, lässt sich bisher nicht sicher sagen. In einzel-nen Berufsfeldern, etwa im Sozial- und Gesundheitswesen, weiß man, dass es eieinzel-nen erheblichen Druck zur akademischen Höherqualifizierung gibt. In anderen Bereichen gibt es bislang keine ver-lässlichen Größenordnungen, zumal die formalen Möglichkeiten zu studieren für diesen Kreis erst in allerjüngster Zeit flächendeckend verbessert wurden.

Faktisch stehen Berufstätigen ohne traditionelle Hochschulzugangsberechtigung trotz gesetz-licher Öffnungen nach wie vor erhebliche Hindernisse einer Studienaufnahme im Weg – nicht zu-letzt, weil die Hochschulen in Deutschland noch immer fast ausschließlich Standardcurricula für Vollzeitstudierende im Präsenzstudium anbieten.

Bei „Anrechnung“ geht es jedoch auch um traditionelle Studienberechtigte mit beruflichem Bildungshintergrund. Hierunter fallen die jährlich ca. 75.000 Studienanfängerinnen und Studien-anfänger mit Studienberechtigung und beruflichem Bildungshintergrund – dabei auch Abitu-rientinnen und Abiturienten der Gymnasien, die sich (zunächst) für eine berufliche Ausbildung entscheiden. Hinzu kommt die nicht bekannte, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit stark anstei-gende Zahl derer, die künftig auf dem Weg der akademischen Weiterbildung zu Studienabschlüs-sen kommen wollen.

Angesichts dieser Potenziale möglicher Interessentinnen und Interessenten an Anrechnung ist es erlaubt zu fragen, ob es überhaupt möglich und notwendig ist, wenn mehr Berufserfah-rene mit Anrechnungsoption studieren und unter welchen Umständen dies geschehen kann. Es ging ja lange auch so.

DieMöglichkeit der Anrechnung ergibt sich im Wesentlichen aus der Veränderung der Anfor-derungsprofile an beruflich Gebildete aufgrund des Wandels von der Industrie- zur Kompetenz-gesellschaft. Mit der Neuordnung vieler Ausbildungsberufe wurden seit den 1970er Jahren die Anteile von systematischem, theoriebasiertem Wissen erheblich erhöht. Damit haben sich die Überlappungsbereiche zwischen Studienanforderungen und Anforderungen in der beruflichen Bildung herausgebildet, die es sinnvoll und erforderlich machen, dass die Hochschule in der be-ruflichen Bildung und im Beruf erworbene Kompetenzen als möglicherweise studienrelevant zur Kenntnis nimmt.

DieNotwendigkeit der Anrechnung ergibt sich aus den sicher prognostizierbaren und zum Teil schon eingetretenen Entwicklungen im Beschäftigungssystem. Zum ersten erzeugt die Dominanz von systematischem Wissen in modernen Qualifikationsprofilen die Notwendigkeit des ständi-gen Auffrischens und der Erneuerung von Wissen und Kompetenzen. Zum zweiten erfordert der absehbare Mangel an hoch qualifizierten Fachkräften die Notwendigkeit, unter beruflich Gebil-deten Studieninteresse zu wecken.

Darüber hinaus wird innovatives Wissen künftig verstärkt auch aus den Altersgruppen her-vorgehen müssen, die in einigen Branchen in den 1990er Jahren schon zum alten Eisen gezählt wurden: die über 35jährigen, die bereits über ein hohes berufliches Kompetenzniveau verfügen.

Größere Veränderungen im Bildungssystem, wie nunmehr die Tendenz zur Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung, setzen sich also in der Regel dann durch, wenn der Funktionsverlust überkommener Strukturen offensichtlich und für die Individuen spürbar zu Tage getreten ist.

Eine Prognose aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung über Angebot und Nachfrage an Fachkräften demonstriert die Dramatik der zu erwartenden Entwicklung (Bonin, Helmrich & Arens, 2007; Abb. 1). Die Entwicklung bei Fachkräften mit abgeschlossener Berufsausbildung zeigt, dass etwa im Jahr 2035 eine Deckung zwischen Angebot und Nachfrage bestehen wird. Ein in der Sum-me ausgeglichenes Verhältnis impliziert aber bereits extreSum-me ProbleSum-me, weil es sich nur um eine rein zahlenmäßige Deckung von Angebot und Nachfrage handelt, nicht aber in Bezug auf den Bedarf in einzelnen Ausbildungsbereichen. Eine Schließung der Schere bedeutet faktisch einen zunehmenden Mismatch zwischen qualitativem Angebot und qualitativer Nachfrage.

Im tertiären Bereich (Meister, Techniker, Fachschule und Hochschule) wird dieser Zustand nach der vorliegenden Prognose schon sehr viel früher – nämlich etwa 2020 – eintreten. In den ost-deutschen Ländern beginnen die Schwierigkeiten aufgrund besonderer demographischer Ent-wicklungen bereits. Wir hören heute schon von existierendem Fachkräftemangel in technischen Berufen. Im Verhältnis zu dem, was für die Zukunft zu erwarten ist, gibt es gegenwärtig allenfalls eine Deckungslücke, aber noch keinen strukturellen Mangel.

Abb. 01 Erwerbstätigkeit und -bedarf nach Qualifikationsstufen 2003 - 2035

Quelle: Bonin, Helmrich & Arens (2007)

Mehr Durchlässigkeit auch im Hinblick auf spätere Abschnitte der individuellen Bildungs- und Be-rufsbiographien wird ein entscheidender Hebel sein, um die angedeuteten Herausforderungen zu bewältigen.

Im Dokument Profil und Passung (Seite 119-122)