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Ann¨ aherungen an das Begriffsumfeld

Zusammenarbeit und Kooperationsf¨ahigkeit geht -Modellierenweil es um das Entwerfen einer Probleml¨osung geht, um ein Probehandeln, das in der Regel an einem Modell erfolgt, welches als externe Repr¨asentation des Problems dient. Ergebnis des Probehandelns, bzw.

des Entwurfs, ist ein Modell der Probleml¨osung.

Leider war es nicht m¨oglich, an eine bestehende Theorie der Kooperation anzukn¨upfen, da es nur wenige ausgearbeitete Kooperationstheorien gibt, die zudem jeweils nur Teile der f¨ur mein Vorhaben relevanten Ph¨anomene in den Blick nehmen. Der Begriff der Ko-operationist wissenschaftlich kaum gekl¨art obwohl er im allt¨aglichen Sprachgebrauch ganz selbstverst¨andlich verwendet wird. Auch in Wissenschaftsfeldern wie dem Computer Sup-ported Cooperative Work (CSCW) wird vom kooperativen Lernen und Arbeiten gespro-chen. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch ein erheblichesTheoriedefiziterkennbar. We-der gibt es eine anerkannte allgemeine Theorie We-der Kooperation, noch eine Wissenschaft, die sich gezielt mit Kooperation befaßt. In vielen Fach-Lexika taucht der Begriff nicht auf oder wird nur kurz erkl¨art; dies gilt insbesondere f¨ur die Psychologie (s.a. (Kumbruck 1998)).1Meist wird Kooperation nur diffus und allgemein umschrieben und als Sammelbe-grifff¨ur die unterschiedlichsten Formen der Zusammenarbeit verwendet (Kumbruck 1998;

Bornschein-Grass 1995; Bannon und Schmidt 1989).

Wie Kumbruck (1998) anmerkt, stammen die theoretischen Grundlagen, die zur Er-kl¨arung von

”Kooperation“ meist verwendet werden, aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Daher liege den Erkl¨arungsmodellen keine koh¨arente Grundlage bzw. kein integrierendes Konzept kooperativen Handelns zugrunde. Fragmentarisch sei der Begriff jedoch in anderen Begriffen verborgen, bzw. werde ¨ublicherweise in Abgrenzung zu die-sen erkl¨art. Ankn¨upfungspunkte und ein begriffliches Vokabular finden sich in zahlreichen Theorien und (Sub)Disziplinen, wenn auch nicht immer unter dem Begriff

”Kooperation“

und mit je eigener Perspektive und eigenem Erkenntnisinteresse. Insofern kann es auch nicht nureine Theorie der Kooperation geben, sondern nur Theorien, die entweder kon-textspezifisch sind (als Formen oder Typen von Kooperation) oder sich auf bestimmte Aspekte konzentrieren.

In den folgenden Abschnitten gebe ich einen ¨Uberblick ¨uber verschiedene Definitio-nen und Verwendungsweisen von

”Kooperation“ sowie nahestehenden Begriffen, welche Ankn¨upfungspunkte bieten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf solchen Theorieschulen und Begriffen, auf die im weiteren Verlauf zur¨uckgegriffen wird. Im letzten Abschnitt des Ka-pitels beschreibe ich den Typus von Kooperation, den ich als Kooperatives Modellieren bezeichne und der sich von den g¨angigen Kooperationsbegriffen unterscheidet.

Die meisten Begriffe werden in mehreren Disziplinen verwendet und jeweils verschie-den definiert. Nach Endruweit und Trommsdorff (1989, S. 343-349) stellt die Abgrenzung von Interaktion und Kommunikation ein besonderes Definitionsproblem der Sozialwis-senschaften dar. W¨ahrend Kooperation bisher eher Alltagsbegriff war, istInteraktion ein analytischer Wissenschaftsbegriff, der verwandte Ph¨anomene beschreibt. Der Interaktions-begriff ist daher deutlicher ausgearbeitet und es existieren verschiedene Interaktionstheo-rien. Daher beginne ich mit Interaktion als dem umfassenderen Begriff und gehe dann auf Kommunikation und Kooperation ein.

4.1.1 Interaktion

Mit dem Interaktionsbegriff werden Ph¨anomene der Intersubjektivit¨at und Sozialit¨at des Menschen diskutiert, mit denen sich die Sozialphilosophie seit Kant befaßt. Sozialwissen-schaftliche Theorien der Interaktion lassen sich danach unterscheiden, ob sie eine Zuschauer-oder Teilnehmerperspektive w¨ahlen (Brumlik 1997). Auch Theorien der Kommunikation lassen sich recht gut diesen Perspektiven zuordnen. Behavioristische Theorien (Zuschau-erperspektive) begreifen Interaktion als strategisch geplant oder als reiz-reaktionsgelenkte Austauschprozesse (vgl. z.B. (Endruweit und Trommsdorff 1989, S. 310)). Aus der Teil-nehmerperspektive dagegen wird Interaktion als wechselseitige Teilnahme am Erleben an-derer Menschen begriffen. F¨ur das Gelingen einer solchen Begegnung ist die F¨ahigkeit zurPerspektiven¨ubernahmenotwendig, d.h. die F¨ahigkeit, sich in den Interaktionspartner hineinzuf¨uhlen und dessen Reaktionen zu antizipieren.

Definitionen sozialer Interaktion aus der Psychologie tendieren dazu, diese ganz neu-tral als

”beobachtbaren Aspekt sozialer Wechselwirkung“ zu beschreiben (z.B. (Clauss 1995, S.215, S.255)), als wechselseitiges Aufeinandereinwirken von Individuen, mit dem Verhalten und Handlungen aufeinander abgestimmt werden. F¨ur die Soziologie findet In-teraktion dann statt, wenn Handelnde sich intentional aufeinander beziehen und sich an den Erwartungen, Einstellungen und Bewertungen der Situation durch den jeweils anderen orientieren (Hillmann 1994, S. 381). Hierzu m¨ussen sie ein Bewußtsein von der Subjek-tivit¨at des anderen haben. Die soziologische Sichtweise hebt die Voraussetzungen dieser Intersubjektivit¨at(gemeinsame Sprache, Kultur, Werte...) hervor.

Nach Graumann (1999) fokussieren verschiedene Theorien sozialer Interaktion auf (1) soziale Systeme (Primat der Gesellschaft vor dem Einzelnen), (2) das Individuum (Kosten-Nutzen Rechnungen, Kontrolle der Umwelt) oder (3) Wechselwirkungen und deren Pro-dukte. Die einflußreichste soziologische Theorie sozialer Wechselwirkung ist die von Mead gegr¨undete Schule dessymbolischen Interaktionismus, die sich am handlungskoordinieren-den Zeichengebrauch orientiert. Sie geht davon aus, daßsoziale Interaktion ein interpreta-tiver Prozess ist, in dem Bedeutung gebildet und ver¨andert, sowie Situationen interaktiv definiert werden. Ein zentraler Grundsatz des symbolischen Interaktionismus ist, daß Men-schen sich gegen¨uber Bedeutungen und nicht gegen¨uber Reizen verhalten (s.a. (Wilmot 1975)). Allen Ans¨atzen, die sich auf diesen Grundsatz beziehen, ist das Interesse an sozia-lem Handeln als sinnhaftem, auf das Verhalten anderer Menschen bezogenen und daran orientiertem Handeln gemeinsam. Die Arbeiten von Garfinkle zur Identifikation und Be-dingungsanalyse der Interaktionsmuster des allt¨aglichen Soziallebens sowie

Ethnometho-dologie2 und strukturalistische Ans¨atze stehen in dieser Tradition. Sie unterscheiden sich u.a. darin von der Kleingruppenforschung in Psychologie und Soziologie, daß sie anstel-le von Laborstudien ethnographische Beobachtungen in reaanstel-len Situationen unternehmen (”naturalistische Beobachtung“), dieRolle des Kontextsbetonen, vom Primat des Alltags-wissens ausgehen und statt Beobachtungstechniken mit vorgegebenen Kategoriesystemen und Strichlisten einenoffenen, suchenden, flexiblen und reflexiven Beobachtungsstilw¨ahlen (Kendon 1990b, S.24).

Diese Grundgedanken wurden von Teilen der Kommunikationswissenschaften ¨ uber-nommen und weiterentwickelt: W¨ahrend Mead, der symbolische Interaktionismus sowie strukturalistische Ans¨atze (Scheflen, Kendon, Goffman, Sacks, Birdwhistell) vor allem die vorstrukturierende, normative Rolle des Kontextes (z.B. kulturelle Rituale oder von den Teilnehmern zusammen ausgef¨uhrte

”Programme“) sowie Interaktionsmuster von Interak-tionssystemen und Situationstypen untersuchten, betonen neuere Theorietraditionen die aktive Rolle des Subjekts, das Adaptieren, Generieren, Aushandeln und Fallenlassen nor-mativer Vorgaben (vgl. (Geulen 1982; Jones und LeBaron 2002, S.41)). Eine Kernfrage ist hierbei, wie Menschen es zustandebringen, sich gegenseitig zu verst¨andigen,Sinn her-zustellen und zu vermittelnund ihre Handlungen aufeinander abzustimmen – eine Frage, die auch meiner eigenen Forschungsarbeit zugrunde liegt.

Interaktion erfordertIntersubjektivit¨at. Die Interaktionspartner m¨ussen sich aufeinan-der beziehen, den anaufeinan-deren als Subjekt mit einer eigenen Perspektive wahrnehmen und sich an dessen Sichtweise orientieren. Dies ist nur m¨oglich, wenn bereits einesoziale Struktur als Verst¨andigungsgrundlagevorliegt, die z.B. gemeinsame Werte, normative Muster, Symbole und Kommunikationstechniken vorgibt (Hillmann 1994, S. 381) (vgl. (Mantovani 1996)).

Voraussetzung gelingender Interaktion ist zuallererst eine Verst¨andigung ¨uber die Situa-tionsdefinition (Geulen 1982), welche Rollen, berechtigte Erwartungen sowie Spielregeln vorgibt - z.B. bedeutet Kampf in Spiel, Wettkampf und Krieg etwas je anderes. F¨ur diesen Verst¨andigungsprozeß ist wiederum die F¨ahigkeit der Perspektiven¨ubernahme n¨otig, den anderen als Subjekt wahrzunehmen, dessen Perspektive erkennbar ist, indem sein Ver-halten, die gemeinsame Situation sowie die Stellung der Beteiligten in dieser Situation ber¨ucksichtigt werden (Geulen 1982).

Clark und Brennan (1991) nennen den Prozeß des st¨andigen ¨Uberpr¨ufens und Ver-handelns der gemeinsamen Basis sowie die Bem¨uhung, das bereits Gesagte als von al-len verstanden zu markieren,

”Grounding“. Was

”Common Ground“ ist, wird ¨uber das Grounding st¨andig neu verhandelt. Grounding findet in sekunden-schneller nonverbaler und halbverbaler Kommunikation statt, in der das Verhalten des Kommunikationspartners R¨uckmeldung ¨uber Verstehen oder Nicht-Verstehen gibt (Nicken, best¨atigendes Murmeln, Kopfsch¨utteln, irritierte Blicke) und der Sprecher seine ¨Außerungen meistens noch mitten im Satz korrigiert und verbessert und Mißverst¨andnisse kl¨art (

”Reparieren“) (vgl. (Bave-las et al. 1997)). Die Verbform betont den Prozeß des aktiven Herstellens von

”Common

2Eine Grundfrage der Ethnomethodologie ist, wie soziale Ordnung entsteht und wie die Mitglieder ihr einen Sinn verleihen (Flick 2000). Sie besch¨aftigt sich mit der Untersuchung der Alltagsrationalit¨at, dem Erwerb sozialen und kulturellen Wissens, den Umst¨anden der Anwendung von Wissen sowie der Bewertung von Verhalten. Ihre F¨uhrer waren A.V. Cicourel, Harold Garfinkel und H. Sacks. Inspiriert wurden sie durch die Ph¨anomenologie von Alfred Sch¨utz sowie die Sprachphilosophie John Austins und Wittgensteins. (Mullins 1980)

Ground“.3 Diese st¨andige ¨Uberwachung und Adaption kann als Kooperationw¨ahrend des Produzierens von

”Messages“ interpretiert werden (Mantovani 1996, S.102).

4.1.2 Kommunikation

Disziplinen wie die Soziologie, Psychologie, Informationstheorie und Kommunikations-wissenschaften definieren Kommunikation v¨ollig unterschiedlich als (Hillmann 1994, S.

426-428): (a) F¨ahigkeit des Individuums bzw. einer Gruppe, Gef¨uhle und Ideen anderen mitzuteilenund enge Verbindungen aufzubauen. Kommunikation als Vermittlung von Be-deutung zwischen Menschen ist intentional und impliziert Reziprozit¨at, das Antizipieren von Reaktionen des H¨orers (Endruweit und Trommsdorff 1989, S. 343-349). (b) jedes er-kennbare, bewußte oder unbewußte Verhalten, mit dem ein Mensch andere zu beeinflussen versucht und Information ¨ubermittelt. (c) die nachrichtlicheUbertragung sozial signifikan-¨ ter Nachrichten und Ergebnis eines Informationsflusses zwischen lebenden Organismen, Menschen und/oder technischen informationsverarbeitenden Systemen, der eine Kodie-rung, ¨Ubertragung und Dekodierung erfordert (Clauss 1995, S. 241).

4.1.2.1 Geschichte des Begriffs

Anleihen macht der Diskurs ¨uber Kommunikation in verschiedenen Disziplinen. Craig (2000) unterscheidet sieben einflußreiche Traditionen der Kommunikationstheorie: Rheto-rik, Semiotik, Ph¨anomenologie, Kybernetik, Sozialpsychologie, Soziokulturelle Kommuni-kationstheorie und Kritische Theorie.

Obwohl das Wort Kommunikation aus dem Lateinischen stammt, ist seine wissen-schaftliche Karriere j¨unger als die des Kooperationsbegriffes. In der Philosophie wurden Aspekte von Kommunikation unter anderen Begriffen und Fragestellungen diskutiert, wie z.B. alsProblem des Fremdverstehensoder der Philosophie desIch und DuMartin Bubers.

Das Wort Kommunikationstheorie wurde zuerst 1940 von Shannon und Weaver be-nutzt, um ihre Theorie der mathematischen Analyse der Signal¨ubertragung zu bezeichnen (Craig 2000). Vorher wurde der Begriff nur im Zusammenhang mit zivilem oder milit¨ari-schem Transport verwendet. Mit der Kommunikationstheorie hielt das Vokabular der In-formationsvermittlung Einzug in die Sozialwissenschaften.

Nach Craig (2000) und LeBaron et al. (2002) lassen sich vor allem Transmissions- bzw.

Sender-Empf¨anger-Modelle und konstitutive Modelle von Kommunikation unterscheiden.

Letztere entstanden um die Mitte des 20ten Jahrhunderts herum und gewinnen in den letzten Jahrzehnten vor allem in den empirisch-qualitativ arbeitenden Kommunikations-wissenschaften an Einfluß. DasTransmissionsmodellsieht Kommunikation als einen Pro-zeß, in dem Bedeutung in symbolische Botschaften verpackt ¨uber einen Kanal (Medium) zwischen Sender und Empf¨anger transportiert wird (vgl. (Fr¨ohlich und Koszyk 1971; Hase-loff 1973)). Dabei werden Zeichen, Signale und Symbole ausgetauscht, die den Empf¨anger beeinflussen sollen (Stimulus-Reaktion). Der Kommunikationsprozeß wird dabei als seqen-zieller Erzeugungs-, Transmissions-, Dekodierungs- und Interpretationsprozeß betrachtet.

Das Modell entspricht dem der Signal¨ubertragung, ironisch wird es gerne als

” P¨ackchenmo-dell“ bezeichnet. In der historischen R¨uckschau zeigt sich allerdings, daß der Einfluß von

3

Common Ground“ ist kein Boden – die Metapher ist mißverst¨andlich – sondern ein sich st¨andig bewegender Morast, da er nicht objektiv ¨uberpr¨ufbar ist und nie vollst¨andig expliziert werden kann.

Informationstheorie und Kybernetik ¨uberhaupt erst dazu f¨uhrte, bestimmte Fragen und Aspekte im Zusammenhang mit Kommunikation zu betrachten und so zur Entstehung des konstitutiven Modells f¨uhrte.4 Dies ist eine Weiterentwicklung des transaktionalen Modells, wie es Wilmot (1975) beschreibt.

Diese verschiedenen Modelle existieren nach wie vor nebeneinander. Betriebswirtschaft und Organisationspsychologie tendieren dazu, Kommunikation in voneinander losgel¨oste, mit verschiedenen Modellen beschriebene Teilbereiche aufzuspalten, wie in der Koordina-tion dienende InformaKoordina-tionsfl¨usse und in Mittel zur Herstellung sozialer Zusammenh¨ange und Erzielen sozialer Anerkennung (B¨ohle, Bolte und Carus 2001, S.35). Dies f¨uhrt leicht dazu, daß dieaufgabenbezogene informelle Kommunikation ignoriertwird. W¨ahrend aufga-benbezogene, vorgeplante Kommunikation mit Hilfe des Transmissionsmodells beschrieben und analysiert wird, wird die Funktion informeller Kommunikation eher mit soziokulturel-len Theorien beschrieben. Dieses Ph¨anomen l¨aßt sich auch in der CSCW oft finden, ohne daß die gleichzeitige Verwendung inkompatibler Modelle reflektiert w¨urde.

4.1.2.2 Das transaktionale Modell

Das transaktionale Modell definiert Kommunikation alstransaktionalen, symbolischen Pro-zeß, mit dem wir menschlichen Kontakt aufbauen, Information austauschen, Einstellungen und Verhalten Anderer beeinflussen und unsere Umwelt kontrollieren (Book et al. 1980, S.8-20). Kommunikativer Austausch hat weder Anfang noch Ende, er ist kontinuierlich.

Kommunikation alsTransaktionbetont die Wechselseitigkeit der Beziehungen. Die Betei-ligten entwickeln gemeinsam Regeln f¨ur Struktur und Inhalt ihrer Interaktion.Effekte sind beidseitigund simultan. Der Zusatzsymbolischbeschr¨ankt Kommunikation auf sprachliche und nonverbale Code-Systeme.

4Kendon (1990b) beschreibt die Entstehung strukturalistischer Interaktionsforschung aus einer Kombi-nation von Ideen aus interpersoneller Psychiatrie, naturgeschichtlichem Ansatz, Anthropologie, Informa-tionstheorie, Kybernetik und strukturalistischer Linguistik. Aus derinterpersonellen Psychiatriestammte der Wunsch nach einem detaillierten Verst¨andnis des konkreten Interaktionsprozesses und die Suche nach einer Methode, welche es erlaubt, offen f¨ur Details und Nuancen zu sein. Dernaturgeschichtliche Ansatz verlangte eine detaillierte Beschreibung der beobachtbaren Interaktion. Da die nat¨urliche Ordnung der Interaktion zu untersuchen war, mußte die Beobachtung sich an dem orientieren, was tats¨achlich geschieht, und nicht an vordefinierten Kategoriesystemen, die vorab festlegen, was gemessen und gez¨ahlt wird. Un-tersucht werden m¨ussen daher konkrete Exemplare von Interaktion. Kendon betont, daß es nicht die reine Verf¨ugbarkeit der Filmtechnik war, die dieContext Analysis“ erm¨oglichte, sondern eine bestimmte theo-retischen Orientierung die Wahl einer solchen Technik motivierte. Die strukturalistische Linguistik bot Methoden und Konzepte zur Aufnahme und Repr¨asentation (Transkriptionstechnik) von Daten.

ur heutige Leser ¨uberraschend ist die Rolle von Informationstheorie und Kybernetik. Daß sich die Infor-mationstheorieauf alle m¨oglichen Ph¨anomene anwenden ließ, legte nahe, daß ALLE Aspekte von Verhalten ur die Kommunikationsforschung von Interesse sind und demnach nicht nur gesprochene ¨Außerungen zur Kommunikation z¨ahlen. Nachrichten haben meist mehr als eine Funktion, wirken metakommunikativ und ihre Funktion kann nur im Kontext verstanden werden. DieKybernetiklieferte Modelle selbstregulierender Systeme und des Feedbacks. Diese Ideen legten es nahe, in den Teilnehmern einer Interaktion nicht nur Reagierende zu sehen, sondern Akteure mit eigenen Zielen, die sich in einem st¨andigen Feedbackprozeß aneinander orientieren. Interaktion wurde nicht mehr als eine sequentielle Kette von Handlungen gesehen, sondern als ineinander verschr¨ankte, gleichzeitig produzierte Handlungen. Der Blick richtet sich also auf die fortlaufende verhaltensm¨assige Beziehung ZWISCHEN den Akteuren, anstatt diese immer jeweils nachein-ander zu betrachten. Weiterhin f¨uhrte diese Perspektive zur Erkenntnis, daß die Erhaltung eines stabilen Zustands der Interaktion ein ebenso interessantes Ph¨anomen ist wie Ver¨anderungen - die regulatorischen Aspekte der Kommunikation traten damit in den Blickpunkt.

Wilmot (1975) beschreibt dyadische Kommunikation5 unter der Perspektive des trans-aktionalen Modells. Kommunikation entsteht, sobald eine Person dem Verhalten anderer Menschen Bedeutung zuschreibt. Erst, wenn ein wechselseitiger Einfluß entsteht – die Wahrnehmung wahrgenommen zu werden– wird die Dyade zur funktionierenden Einheit und ein kommunikatives System entsteht. Kommunikation erzeugt man daher nicht wie ein Produkt, sondern man nimmt an ihr teil. Das eigene Verhalten ist immer zugleich Antwort auf fr¨uheres und Stimulus f¨ur zuk¨unftiges Verhalten des anderen. Charakteristi-sche Qualit¨aten dyadiCharakteristi-scher Systeme sind Unteilbarkeit, Synergie (Emergenz von Verhal-ten), Zirkularit¨at sowie Equifinalit¨at. Kommunikative Systeme k¨onnen auch disfunktionale Kommunikationsmuster annehmen, wie z.B. selbst-verst¨arkende Spiralen.

4.1.2.3 Das konstitutive Modell: Kommunikation als soziale Praxis

Nach dem konstitutiven Modell werden alle Elemente der Kommunikation w¨ahrend des Kommunikationsprozesses reflexiv erzeugt. Dies wird auch als

”emergentes“ oder

” per-formatives“ Modell bezeichnet (Jones und LeBaron 2002), weil es davon ausgeht, daß Menschen nicht nur vorgegebene kulturelle Rituale und Programme nachvollziehen, son-dernBedeutungen und Regeln neu verhandeln und konstruieren. Hierin unterscheiden sich moderne Gespr¨achsforschungsans¨atze der Mikro-Analyse vom

”strukturellen“ Kommuni-kationsmodell Goffmans und Scheflens (symbolischer Interaktionismus). Es gibt etliche Gemeinsamkeiten, z.B. die Einigkeit dar¨uber, daß einzelne Handlungen (verbale ¨ Außerun-gen, Gesten, Blicke, Bewegungen....) keine intrinsische Bedeutung haben, sondern nur im Kontext ihrer Entstehung verstanden werden k¨onnen (Kendon 1990b, S.15).

Kommunikation wird im konstitutiven Modell verstanden als ein fortlaufender Prozeß, in dem unsere Identit¨aten, soziale Beziehungen, gemeinsame Bedeutungswelt, der kultu-relle Kontext, die Bedeutung von ¨Außerungen und unsere Ideen und Gef¨uhle symbolisch geformt, ausgehandelt und interaktiv hergestellt werden. Die Abgrenzungen zwischen Sen-der, Nachricht und Empf¨anger sind nicht eindeutig bestimmbar, die Bedeutung ist eine gemeinsame und oft unvollst¨andige, emergente und sogar nachtr¨agliche Konstruktion und Kreation(LeBaron, Mandelbaum und Glenn 2002). Bedeutung wird im Kontext des Ver-stehens verhandelt, indem wir mit unseren Folgehandlungen eine Bedeutung vorschlagen (Hutchins 1995, S.236-239). Kontext und Kommunikation erg¨anzen und definieren sich wechselseitig.6

Der genaue Ablauf von Kommunikationsprozessen wird von einer Vielzahl von Dis-ziplinen untersucht: Konversationsanalyse, Gespr¨achsforschung, Ethnomethodologie und -graphie, etc. Gemeinsam ist diesen die detaillierte Beschreibung beobachtbarer Interakti-on, die Untersuchung konkreter

”Exemplare“ von Interaktionin allt¨aglichen Settings, ein

5von dyo (griechisch) zwei

6

LSI research shows that human interaction is partly or largely constitutive of the component parts that the transmission model presupposes. Even social conditions thought to be

stable‘ are contingent and constantly shifting as interlocutors co-constuct their social worlds (Jacoby & Ochs, 1995) - including gender (Sheldon, 1996), ethnic identity (He, 1995), and individual competence (C. Goodwin, 1995). (...) LSI research has shown how context may be invoked, oriented to, and constituted through social interaction at the same time that context may influence the organization of communication (eg(...)). The LSI perspective that communication and context are mutually elaborative contrasts with more representative, static or

external to message‘(Hopper, 1992b) approaches.“ (LeBaron, Mandelbaum und Glenn 2002)

Fokus auf die Wechselwirkung der Interaktionspartner, die Ber¨ucksichtigung des Kontex-tes, die Verwendung qualitativer Analysemethoden und offener Beobachtung (ohne vorde-finierte Kategoriensysteme), sowie eininduktives, abduktives und beschreibendes Vorgehen.

Dabei werden, von den konkreten Daten ausgehend, Theorien entwickelt, die iterativ an weiterem Material gepr¨uft werden.7

Viele Studien zeigen den großen Anteil nonverbaler Kommunikation am Gelingen von Kommunikation. Mittels verbaler und nonverbaler Mikroprozesse uberwachen und koor-¨ dinieren Sprecher und Zuh¨orer ihr gemeinsames Verst¨andnis (Grounding). ¨Uber Mimik, Gestik, K¨orperhaltung, Ger¨ausche sowie kurze gesprochene Einsch¨ube stellt der Zuh¨orer einen sog.

”Back-Channel“ zur Verf¨ugung, der es dem Sprechenden erm¨oglicht, Fehler und Mißverst¨andnisse zu korrigieren oder von gelungenem Verst¨andnis auszugehen und fortzufahren (Bavelas et al. 1997). Bereits auf dieser Ebene finden Verst¨andigungs- und Verhandlungsprozesse statt.

Bisher wenig Beachtung fand die aufgabenbezogene Kommunikation, bei der die T¨atig-keit nicht nur im Sprechen liegt (auch als

”empraktisches Sprechen“ bezeichnet). Das Wissen ¨uber Turn-Taking Verhalten entstammt vornehmlich der Analyse von Telefon-gespr¨achen. Daher weiß man z.B. wenig ¨uber das Blickverhalten in aufgabenbezogener, artefakt-fokussierter Kommunikation.8Anders verh¨alt es sich im relativ neuen Forschungs-gebiet der

”Workplace Studies“,9 einem Spezialgebiet der Ethnomethodologie, das aufga-benbezogene Kooperation in Arbeitssituationen untersucht. Verfahren der Videoanalyse (sog. Mikro- oder Interaktionsanalyse (Jordan und Henderson 1995)) werden mit ethno-methodologischen Methoden kombiniert. Sie zeichnen sich durch ihren naturalistischen Ansatz (Beobachtung in nat¨urlichen Situationen) sowie die integrierte Behandlung aller Formen des Verhaltens und ihres Kontextes aus. Dabei wird auch das Zusammenspiel von verbalem und nonverbalem Verhalten und die Rolle des materiellen Umfelds (bzw. der Technik) untersucht. An diesen Analysemethoden orientiert sich auch das Vorgehen in den empirischen Anteilen dieser Arbeit (Kapitel 6). Dabei spielt nonverbale Kommunika-tion eine wichtige Rolle.

4.1.3 Die Rolle nonverbaler Kommunikation Kommunikation kann ¨uber alle Sinne (

”Kan¨ale“) erfolgen. Der Anteil an nonverbal ver-mittelter Information ist sehr viel gr¨oßer als der sprachliche Anteil und wird auf bis zu 80 Prozent gesch¨atzt. Die K¨orpersprache ist zum Teil angeboren (L¨acheln, Weinen) und zum Teil kulturell gepr¨agt. Sogar die Neigung zum Gestikulieren ist angeboren, denn auch Blin-de gestikulieren. Jedoch m¨ussen wir die Interpretation nonverbaler Kommunikation wie auch unser eigenes nonverbales Ausdrucksverm¨ogen als Teil der Sozialisation erlernen und ein¨uben (Argyle 1979). Ein anschauliches Beispiel ist derUmgang mit Raum (Proxemik).

In verschiedenen Kulturen wird k¨orperliche N¨ahe unterschiedlich bewertet, die bevorzugte

7(Kendon 1990b; Jones und LeBaron 2002; Jordan und Henderson 1995; LeBaron, Mandelbaum und Glenn 2002). Das Vorgehen ist also nicht hypothesengeleitet. Da die Beschreibung bereits wesentliche Schritte der Analyse enth¨alt, verschwimmt der Unterschied zwischen guter Beschreibung und guter Analyse (LeBaron, Mandelbaum und Glenn 2002).

8Curtis LeBaron (pers¨onliche E-Mail, Mai 2002)

9z.B. (Bowers und Martin 1999; Engestr¨om und Middleton 1998; Heath und Luff 2000; Hutchins und Klausen 1998; Robertson 1997; Suchman 1994)

Distanz zu Fremden ist verschieden, die Raumaufteilung z.B. von Innenr¨aumen und deren Abschottung nach außen folgt anderen Regeln (Putscher 1978, S.29-30).

Als Komponenten nonverbaler Kommunikation werden unterschieden:10 (a) K¨orper-haltung und -bewegung, (b) K¨orperkontakt, (c) ¨außere Erscheinung (Kleidung, Gehabe, Wohnungseinrichtung), (d) Verhalten im Raum (Proxemik), (e) Verhalten in der Zeit, z.B.

P¨unktlichkeit, (f) Mimik, Tonfall, Lautst¨arke und Betonung der Sprache (Paralinguistik).

F¨ur k¨orperliche, Sprache begleitende oder ersetzende nonverbale Signale hat sich das folgende Kategoriensystem etabliert (Book et al. 1980; Wallbott 1999):Emblemesind er-lernte, stilisierte und kulturell festgelegte, ohne sprachliche ¨Außerung verst¨andliche sym-bolische Gesten.Illustratoren erg¨anzen verbale Botschaften, beschreiben r¨aumliche Bezie-hungen oder Maße, zeigen oder betonen Aussagen. Sie ¨ahneln oft dem Referenzgegenstand.

Regulatoren sind nonverbale Zeichen, mit denen wir unser Interaktionsverhalten kontrol-lieren.Affektdarbietungenzeigen unsere Emotionen.

4.1.3.1 Verbale und non-verbale Kommunikation: eine gemeinsame Perfor-mance

Das Studium nonverbalen Verhaltens und insbesondere der Gestik entwickelte sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem eigenen Forschungsgebiet. Deutlich wurde z.B., wie eng Sprache mit Gestik koordiniertist und daß h¨aufig beide aneinander angepaßt werden (Kendon 1996; Kendon 1991). Leider werden verbale und nonverbale Kommunikation noch oft getrennt voneinander untersucht und diskutiert, als ob dies voneinander unabh¨angige Ph¨anomene seien, so die Kritik von Jones und LeBaron (2002) an der vorherrschenden Vorgehensweise in Forschung und Lehrb¨uchern. Sie weisen darauf hin, daß es sich immer um eine

”gemeinsame Performance“, und

”co-occurring and interrelated phenomena“ han-delt:11

”When people talk, they also locate their bodies, assume various postures, direct their eyes, perhaps move their hands, altogether behaving in ways that constitute an interactive event“.

Viele Darstellungen ordnen nonverbale Kommunikation der verbalen unter, in dem Sinne, daß sie diese erg¨anzt und moduliert. Hutchins und Palen (1993, S.23) widersprechen dem und zeigen anhand einer Videoanalyse der Interaktion von Pilot, erstem und zweitem Offizier im Cockpit w¨ahrend einer Flug¨ubung, wie Raum, Gestik und Sprache zu einer multimodalen, mehrschichtigen Repr¨asentation verbundenwerden.

”we show how space, gesture, and speech are all combined in the construction of complex multilayered representations in which no single layer is complete or coherent by itself.“ (...)

”Does gesture support speech? Clearly it does, but no more so than speech supports gesture. [...We saw] the creation of a complex representational object that is composed through the superimposition of several kinds of structure in the visual and auditory sense modalities. Granting primacy to any one of the layers of the object destroys the whole.“ (Hutchins und Palen 1993, S.38-39)

10(Daumenlang und Heinrich 1997; Wallbott 1999; Argyle 1979), (Clauss 1995, S.324)

11Ray Birdwhistel wird der Ausspruch zugeschrieben: “Studying nonverbal communication [by itself] is like studying non-cardiac physiology.“

4.1.3.2 Gestik als Sprachsystem: Beredte H¨ande

Es setzt sich die Ansicht durch, daß Gestik als Sprachsystem interpretiert werden kann und Sprache ihren Ursprung in Gestik hat.12 Linguisten fragen zunehmend, inwieweit Zei-chen und Gesten auf einem Kontinuum kommunikativer Bewegungen einzuordnen sind.

F¨ur die Steuerung und Entschl¨usselung nonverbaler Kommunikation scheint ein stammes-geschichtlich ¨alterer Teil des menschlichen Hirns (das sog.

”nonverbale Gehirn“) zust¨andig zu sein (Givens 2001). Wir reagieren deswegen extrem schnell auf Handgesten, weil es darin hierauf spezialisierte Bereiche gibt.

Gesten werden (analog zu gesprochener Sprache) h¨aufig zu Phrasen bzw. S¨atzen or-ganisiert (Kendon 1996). Betrachtet man Videoaufnahmen kommunikativer Situationen genauer und achtet auf die Gesten, so f¨allt es nicht schwer, vonberedten H¨anden zu spre-chen. Gestik und Sprache rekurrieren offenbar auf identische mentale Repr¨asentationen eines Sachverhalts. Zeigegesten und mimetische (darstellende) Gesten sind neurologisch ebenso komplex wie Sprache und stellen vermutlich die Anf¨ange von Sprache dar (Givens 2001). Man vermutet, daß die fr¨uhen Ur-Menschen mimetische F¨ahigkeiten entwickelten, um sich bei der Werkzeugherstellung zu verst¨andigen, zu koordinieren und ihr Wissen weiterzugeben (Wilson 1999, S.48,50). Hierzu mußten sie auch neue Symbole erfinden.

Ein modernes Beispiel findet sich bei LeBaron und Streeck (2000), die die symbolische Verwendung von Gesten untersuchen. Sie zeigen exemplarisch, wie aus Gesten, die Bezug auf materiell-physische Handlungen nehmen, allm¨ahlich konventionelle und gemeinsam verwendete symbolische Formen werden:

”the performance of schematic motor actions that are abstracted from actions in the material world - in a word, gestures“ LeBaron und Streeck (2000). Gesten haben daher immer einen Verweis-Charakter auf die materielle Welt.

Auch Wilson (1999) weist auf diesen Zusammenhang hin, wenn er die Ausdrucksf¨ahig-keit der Hand in manueller Praxisbeschreibt. Praxis bezeichnet hier eine heterogene Klasse von intentional geplanten und ge¨ubten Bewegungen, die eine pr¨azise Kontrolle externer Objekte erm¨oglichen. Durch ihre Intentionalit¨at und Pr¨azision werden die Bewegungen ste-reotypisch und ikonisch, werden zum Symbol f¨ur die damit ausgef¨uhrte Handlung (S.204).

Beispiele solcher Praxen sind z.B. das Pianospiel, das Jonglieren oder die Handgesten einer Flamencot¨anzerin. Die Bewegungen sind bedeutungsvoll, aber weder Gesten noch Zeichen. Sie sind sehr pers¨onlicher Natur, ben¨otigen Training und Erfahrung, sind eng mit der kognitiven und emotionalen Entwicklung verbunden, sind kreativ und kommunikativ.

Wilson (1999, S.59) vermutet, daß es die vielf¨altige Nutzung der Hand des handwerklich t¨atigen Menschen war, die das menschliche Gehirn im Laufe der Evolution auf die Ent-wicklung von Sprache vorbereitete. Die Sprachf¨ahigkeit bestehe wesentlich darin, Worte ganz ¨ahnlich wie Objekte zu manipulieren, sie zu ordnen, zu gruppieren oder mit Werkzeu-gen zu manipulieren. Die F¨ahigkeit der gezielten manuellen Objektmanipulation und die F¨ahigkeit, Sprache zu erzeugen (also Worte zu manipulieren) entwickeln sich bei Kindern fast parallel. Meilensteine der sprachlichen Entwicklung werden immer von Meilensteinen der motorischen Entwicklung begleitet. Dies l¨aßt vermuten, daß das Gehirn erstens die-selben prozeduralen Regeln auf beides anwendet und zweitens die gleichen anatomischen Strukturen verwendet (Wilson 1999, S.165,190ff.) (mit Verweis auf Vygotsky). Auch

Leroi-12(Corballis 1999; Givens 2001; Kendon 1991; Kendon 1996; Wilson 1999)

Gourhan (1995) vertritt die Ansicht, daß Sprache und Werkzeuggebrauch immer auf glei-chem Niveau liegen. Die Syntax von Ketten von Werkzeugoperationen habe ein Vorbild f¨ur sprachliche Syntax gegeben und das Gehirn darauf trainiert.13

4.1.4 Kooperation

Ahnlich wie die der Begriffe Interaktion und Kommunikation ist die wissenschaftliche Kar-¨ riere des Kooperationsbegriffs relativ kurz, obwohl es sich um den wohl ¨altesten wissen-schaftlichen Begriff handelt, der (nach dem Historischen W¨orterbuch der Philosophie (Rit-ter und Gr¨under 1976, S. 1091)) schon im Mittelalter in der Theologie verwendet wurde.

Kooperation bedeutete

”Mitwirkung“, entweder als Beteiligung am s¨undhaften Vergehen eines anderen oder als Zusammenwirken von menschlichem Willen und g¨ottlichem Heils-akt. Doch erst mit der Entstehung der ¨Okonomie als Wissenschaft erhielt Kooperation eine neue Bedeutung.

4.1.4.1 Das ¨okonomische Modell

1817 f¨uhrte R. Owen den Kooperationsbegriff als Gegensatz zum Konkurrenzprinzip des

¨okonomischen Liberalismus in sozialpolitische Zusammenh¨ange ein. Adam Smith brachte ihn in Zusammenhang mit Arbeitsteilung und Gemeinwohl. Stuart Mill beschrieb 1848 die grundlegende Bedeutung von Kooperation (als gemeinsames Handeln einer Anzahl) f¨ur die Steigerung der Produktivit¨at und die rationale Gestaltung der Arbeitsorganisation (nach (Ritter und Gr¨under 1976)). Marx kn¨upfte an diese Definitionen an und definierte Kooperation als planm¨aßiges Neben- und Miteinanderarbeitenin verschiedenen, aber zu-sammenh¨angenden Produktionsprozessen. Ziel von Kooperation ist dabei die effektivere Organisation von Arbeit, die durch die Konzentration der Produktionsmittel erst m¨oglich und von außen gesteuert wird. Die meisten Lexika nehmen allein auf Marx Bezug.14

Der Kooperationsbegriff wurde zun¨achst also von der ¨Okonomie gepr¨agt und meist mit Arbeitsteilung als dem geordneten, m¨oglichst produktiven, zielbewußten und erfolg-reichen Zusammenwirken von einzelnen Personen oder sozialen Gebilden verbunden (Hill-mann 1994). Kooperation steht dabei in engem Zusammenhang zur funktionalen Institu-tionalisierung sozialer Rollen. Je nachdem, von welcher Form der ¨Okonomie ausgegangen wird, kann es sich um eine durch Regeln und Rollenverteilungen gesteuerte Kooperation handeln (von außen koordiniert) oder eineselbstgesteuerte, genossenschaftlich orientierte

13

But a new physics would eventually have to come into this brain, a new way of registering and representing the behavior of objects moving and changing under the control of the hand. It isprecisely such a representational system – a syntax of cause and effect, of stories and of experiments, each having a beginning, a middle, and an end – that one finds at the deepest levels of the organization of human language.“ (Wilson 1999, S.60)

14

Die Form der Arbeit vieler, die in demselben Produktionsprozeß oder in verschiedenen, aber zusam-menh¨angenden Produktionsprozessen planm¨assig neben- und miteinander arbeiten, heißt Kooperation.“

(Marx 1984, S. 344)

Die Kooperation der Lohnarbeiter ist ferner bloße Wirkung des Kapitals, das sie anwendet. Der Zusammenhang ihrer Funktionen und ihre Einheit als produktiver Gesamtk¨orper liegen außer ihnen, im Kapital, das sie zusammenbringt und zusammenh¨alt. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen daher ideell als Plan, (...) gegen¨uber, als Macht eines fremden Willens (...).“ (Marx 1984, S.

351)Als unabh¨angige Personen sind die Arbeiter Vereinzelte (...). Ihre Kooperation beginnt erst im Ar-beitsprozeß, aber im Arbeitsprozeß haben sie bereits aufgeh¨ort, sich selbst zu geh¨oren.“ (Marx 1984, S.

352) (Erstver¨offentlichung 1867)

(Hillmann 1994; DGB 1979). Der große Brockhaus (DGB 1979) betont die gemeinsame Willensbildung der Beteiligten, die Zielfindung ist hier Teil des Kooperationsprozesses.

Der Sozialpsychologe Deutsch definierte Kooperation in diesem Sinne als eine Situation, in der die Bewegung irgendeines Mitglieds zum Ziel hin die Ann¨aherung anderer Mitglie-der zum Ziel f¨orMitglie-dert. Fast alle sozialwissenschaftlichen Theorien betonen, daß es sich um eingemeinsames Ziel handelt, auch wenn dieses von außen vorgegeben sein kann.

“Im tayloristischen Modell hat Kooperation die Funktion der Kontrolle und Koordination. Mitarbeiter m¨ussen kontrolliert werden, damit nicht

”jeder vor sich hin wurstelt“ etc. Der Effekt der Kooperation liegt darin, daß durch die Addition der Einzelleistungen eine konsistente Gesamtleistung entsteht. Das Ziel der Kooperation ist mit der Koordination der Einzelleistungen erreicht.“

(B¨ohle, Bolte und Carus 2001, S.95)

Kooperation schließt Konflikt und Widerspr¨uchenicht aus. Trotz Gegnerschaft schlie-ßen sich Gruppierungen zu Koalitionen zusammen, um nur gemeinsam erreichbare Ziele zu verfolgen (

”antagonistische Kooperation“).

”Gef¨ugeartige Kooperation“ bezeichnet die funktionenspezifische, durch ¨außere Umst¨ande und Regeln vorgeschriebene Zusammenar-beit von ArZusammenar-beitenden in der Industrie,

”Teamartige Kooperation“ die Zusammenarbeit von sich untereinander abstimmenden und gegenseitig unterst¨utzenden Gruppen bei der Bew¨altigung umfangreicher Aufgaben (Hillmann 1994, S.447,448).

4.1.4.2 Andere Konnotationen: Dialog, Altruismus, Freundschaft

Angesichts dieser durchgehend n¨uchternen Definitionen erstaunt es, daß Kooperation in unserem Alltagsverst¨andnis noch ganz andere Konnotationen besitzt. Im normalen Sprach-gebrauch verbinden wir mit Kooperation auchDialogbereitschaft, Verst¨andnis, Austausch und gegenseitige Hilfe, die nicht als Kosten-Nutzen-Rechnung gegeneinander aufgerechnet wird.

Argyle (1991) bezieht sich auf solche Konnotationen in seinem Buch zur Sozialpsycho-logie

”Kooperation: die Basis des Sozialen“ . Kooperation sei mehr als nur das Arbeiten f¨ur ein gemeinsames Endprodukt. Das ¨okonomische Modell der Kooperation erkl¨are Hilfelei-stung und Altruismus nicht und versage v¨ollig f¨ur enge zwischenmenschliche Beziehungen.

Argyle verfolgt den Gedanken, daß Kooperation zentral f¨ur soziales Verhalten ist und weitet die Untersuchung auf Gebiete jenseits von Arbeit aus: Freundschaft, Familie, Lie-be, Tennisspielen, gemeinsames Musizieren... Das Erleben miteinander synchronisierter Interaktion ist intrinsisch und emotional belohnend - man kennt dies vom Tanzen oder Musizieren. Gemeinsame Aktivit¨aten sind daher oft in sich selbst Ziel, ohne ein nutzbares Produkt oder Belohnung. Kooperation erh¨oht zudem die gegenseitige Wertsch¨atzung, hilft bei der Streßbew¨altigung und gibt sozialen R¨uckhalt. Kooperatives Verhalten scheint im Menschen angelegt zu sein. Argyle (1991, S.4) schl¨agt daher einen erweiterten Kooperati-onsbegriff vor:

”Cooperation: acting together, in a coordinated way at work, leisure, or in social relationships, in the pursuit of shared goals, the enjoyment of the joint activity or simply furthering the relationship.“

Im Mainstream der Psychologie ist Kooperation jedoch nach wie vor kein Thema. Theo-rien in der Tradition Freuds, Eriksons, Piagets und der Kognitiven Psychologie vertreten