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Algerien: Abschied von den Mumien

Poste und die Rue Didouche Mourad hinauf. Der Respekt, den Bouteflika als moudjahed der Nationalen Befreiungs-front (Front de Libération Nationale, FLN) im antikolonialen Aufstand ge-gen Frankreich (1954 bis 1962) beses-sen hat, ist längst aufgezehrt. Mit dem Ruf nach Entmachtung der alten Be-freiungskämpfer ist definitiv ein Bruch in der postkolonialen Geschichte Alge-riens eingetreten.

Der Aufstieg der Islamisten

Viele Algerier behaupten heute von sich, sie könnten keine Revolution machen. Dabei hatte der „Arabische Frühling“ seine Ouvertüre in Algeri-en, als bereits im Oktober 1988 Schüle-rinnen und Schüler und junge Arbeits-lose gegen die überteuerten Preise für Grundnahrungsmittel und Schulbe-darf rebellierten. Diese sogenannten

„Brot-Unruhen“ griffen auf andere Städte über, das Militär verhängte den Ausnahmezustand und schlug den Aufstand brutal nieder.

Daraufhin verkündete der damalige Präsident Chadli Bendjedid den gra-duellen Übergang vom FLN-Einpar-teiensystem zu einem demokratischen Mehrparteiensystem. In dem sollten auch bis dahin im Untergrund wirken-de islamische Strömungen zugelas-sen werden. Die Reform wurde in ei-nem Plebiszit einhellig angenommen, in einem weiteren Referendum wurde 1989 eine neue Verfassung verabschie-det, die Pressefreiheit garantierte und den bisher gepflegten „islamischen Sozialismus“ kassierte. Über 50 Partei-en und 150 PressepublikationPartei-en wur-den zugelassen. Algerien „ergrünte“, auch im übertragenen Sinne, denn die Brot-Unruhen waren nicht zuletzt von religiös-politischen Ideen angetrie-ben.1 Doch auch wegen des politischen Islams zerschlugen sich die

Hoffnun-1 Myriam Aït-Aoudia, L’expérience démocra-tique en Algérie (1988-1992), Paris 2016.

gen auf ein demokratisches Algerien bereits nach nur drei Jahren, als die schnell wachsende Konkurrenzpartei Islamische Heilsfront (FIS) den Macht-erhalt der FLN gefährdete.

Der Islam war bereits 1976 zur Staatsreligion erklärt worden, um dem gerade auch im Befreiungskrieg wich-tigen Glauben der algerischen Bevöl-kerung Rechnung zu tragen. Verbun-den war dies mit erheblichen Anstren-gungen, das Bildungssystem zu „ara-bisieren“, das sprachlich wie institu-tionell noch französisch ausgerichtet war. Den Skandal, dass die Elite auch nach der Unabhängigkeit von Frank-reich weiterhin säkular und frank-ophon besetzt wurde, während ara-bisch-islamisch Gebildete in zweitran-gigen Positionen hängen blieben, nutz-ten islamischer Prediger für ihre Agi-tation. Am zehnten Oktober 1988 or-ganisierten sie eine Demonstration mit 20 000 Teilnehmerinnen und Teil-nehmern. Das anschließende Schar- mützel mit der Armee, die – wie vor-mals die französischen Eliteeinhei-ten – die Altstadt Algiers besetzte und durchkämmte, forderte rund 500 To-desopfer. Viele tausende Weißgewan-dete und Bärtige (die Erkennungszei-chen der Strenggläubigen) wurden in-haftiert und in die Sahara deportiert.

Daraufhin konstituierte sich unter der Führung der charismatischen Predi-ger Abbassi Madani und Ali Belhadj die FIS als Partei. Schnell ließ sie bei den Kommunal- und Regionalwahlen die Staatspartei FLN weit hinter sich und errang über die Hälfte der Manda-te. Vor allem bei den städtischen Mas-sen war die FIS populär – nicht zuletzt dank der karitativen Einrichtungen, die die Islamisten unterhielten.

War der Islam bisher eine Volksre-ligion, die von lokalen Marabuts und gelehrten Ulema gekennzeichnet war, dominierten nun salafistische Strö-mungen. Diese kritisierten scharf den westlichen Lebensstil der Eliten, wie-sen westlich (oder realsozialistisch) ge-prägte Vorstellungen einer Mehrheits-

oder Volksdemokratie zurück und for-derten einen strikt islamischen Staat.

Das beinhaltete eine puritanische Aversion gegen die wenigen in den Städten vorhandenen Kinos, Nacht-clubs und Boutiquen. Emanzipierte Frauen waren die Hauptverlierer: Das Straßenbild in Algerien hat sich seither durch die (Voll-)Verschleierung von Frauen und Mädchen radikal verän-dert und unter jungen Männern ist ei-ne toxische Maskulinität verbreitet.

Als sich die Islamische Heilsfront in den Kommunen des Hinterlands fest-zusetzen begann und im ersten Durch-gang der Parlamentswahlen 1991 ei-nen Erdrutschsieg erringen konnte, annullierte Präsident Bendjedid kur-zerhand das Ergebnis und untersag-te den zweiuntersag-ten Wahlgang. Damit be-siegelte er sein politisches Schicksal:

Er wurde vom Militär abgesetzt, das daraufhin die Zügel fest in den Griff nahm. Die darauffolgende langjähri-ge Gewalteskalation führte zum re-gelrechten Krieg zwischen Armee und Islamisten – ein Krieg, der die Zivil-bevölkerung in Geiselhaft nahm und Zigtausenden das Leben kostete.2

Im Grunde hatten die „alten Kämp-fer“ der Unabhängigkeitsbewegung längst jeden Kredit verspielt. Doch die Mordlust der islamistischen Guerilla und den offiziell stets verdrängten al-gerischen Bürgerkrieg zwischen sä-kularen und religiösen Kräften konnte bei aller Komplizenschaft letztendlich nur das alte Regime beenden. Diese traumatische Erfahrung lastet auf dem Land und mäßigte außer in der berbe-rischen Kabylei die Protestenergien, als Ende 2010 in den Nachbarländern Tunesien und Marokko der „Arabische Frühling“ begann.

Heute sind jedoch keine islamisti-schen Parolen zu hören, Männer und Frauen (ohne Kopfbedeckung) schrei-ten Seite an Seite, Belästigungen wur-den bislang keine verzeichnet. Es

2 Benjamin Stora, La guerre invisible. Algérie, années 90, Paris 2001.

mag sein, dass die Bärtigen auf ihre Chance warten, aber alle Augen ruhen nun auf der Jugend. Diese postete den aus der 68er-Bewegung bekannten Spruch „Das ist nur ein Anfang“ und hielt im Nationaltheater eine sponta-ne Debatte über die Zukunft Algeriens ab. Solch antiautoritäre Entschlossen-heit durchkreuzt die Absicht des Re- gimes, die Transition zum Nachfolger des greisen Bouteflikas einfach nach ihrem Drehbuch durchzuziehen.3

Der Aufstand der Jugend

Das Aufbegehren der Jugend kommt nicht von ungefähr: Die unter 30jäh-rigen stellen die Hälfte der 42 Millio-nen Algerier, mehr als ein Viertel von ihnen ist arbeitslos und auch wer ein Diplom hat, findet einen guten Job nur mit „pistons“ – also durch Zugänge ins Klientelsystem der Nomenklatur. Gan-ze Hundertschaften von harragas („die ihre Papiere verbrennen“), haben des-halb in Schlepperbooten die gefähr-liche Überfahrt nach Europa gewagt.

Seit dem 22. Februar sind allerdings keine Fluchtversuche algerischer Boat People mehr gemeldet worden.

Politische Versammlungen sind zwar seit 2001 verboten, doch nun skan-dieren die Jungen furchtlos „khlass“

(Schluss jetzt!). Sie distanzieren sich nicht nur vom Regime, das einen „Na-tionalrat“ unter Leitung des angesehe-nen Außenpolitikers und UN-Sonder-gesandten Lakhdar Brahimi gebildet und ein Technokraten-Kabinett ein-gesetzt hat. Sie meiden ebenso die zer-splitterten Kleinstparteien, die sich zu oft kooptieren ließen, die FLN-Mas-senorganisationen und staatsnahe Ge-werkschaften. Auf die Schnelle konnte bisher keine Oppositionsplattform ent-stehen, um die selbstorganisierten Ba-siskomitees zu bündeln und dem

Über-3 Die legendäre Widerstandskämpferin Djemila Bouhired veröffentliche einen Appell an die algerische Jugend, sich nicht vom Regime täu-schen zu lassen, https://algeria-watch.org.

gangsdrehbuch der Macht ein eigenes Skript entgegenzustellen. „Kein Früh-ling in Algerien“ befürchtet deswegen der vom Regime bedrohte Schriftstel-ler Boualem Sansal.4

Vor allem fehlt jedoch in Algerien, was Venezuelas Opposition mit Juan Guaidó gegen Nicolás Maduro aufbie-ten kann: ein politischer Hoffnungs-träger. Der franko-algerische Aktivist Rachid Nekkaz wird zwar von man-chen als solcher gehandelt, doch dass der Sorbonne-Absolvent, erfolgrei-che Start-up-Unternehmer und abge-lehnte Präsidentschaftsbewerber au-ßer 1,5 Millionen Facebook-Followern auch die algerischen Massen begeis-tern könnte, ist kaum anzunehmen.

Und auch steht kaum zu hoffen, dass die Generäle die Helden des Rückzugs geben werden, schließlich beherr-schen sie einen beachtlichen Teil der verstaatlichten Industrie und gelten als Schutzschild gegen islamistischen Terror. Sollten sie sich jedoch ein wei-teres Mal gegen das Volk stellen, käme es unweigerlich zum Bürgerkrieg.

Und Europa?

Jede friedliche Lösung, so unwahr-scheinlich sie in dieser vorrevolutionä-ren Lage auch erscheinen mag, müsste eine „zweite Republik“ begründen.

Doch gerade eine populäre, zivile und demokratische Regierung stünde vor unlösbar scheinenden Problemen: In 55 Jahren Unabhängigkeit ist die Ren-tenökonomie, die auf der Ausfuhr von Erdöl und Erdgas beruht und deren Revenuen an die Bevölkerung umver-teilt wurden, nicht auf eine sich selbst tragende, von der Petrobranche unab-hängige Entwicklung umgestellt wor-den. Dieser „Ressourcenfluch“ und der Preisverfall des Rohöls stellt eine Hypothek dar, die Demographie eine andere. Denn trotz eines starken

Ge-4 Vgl. Jürg Altwegg, Kein Frühling in Algeri-en, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 11.3.2019.

burtenrückgangs (von 7,68 Kindern pro Frau 1965 auf 2,78 2016) ist Alge-riens Bevölkerungswachstum weiter überdurchschnittlich hoch, sodass die Erträge der algerischen Landwirt-schaft kaum mehr zur Ernährung der Bevölkerung ausreichen. Darüber hi-naus spannt die Binnenmigration trotz eines beachtlichen Wohnungsbaus die Lage in den städtischen Zentren weiter an. Damit wächst die soziale Ungleich-heit, der Armutsanteil liegt heute bei 23 Prozent. Im Entwicklungsindex HDI nimmt Algerien deswegen nur Platz 83 (von 188), im Transformationsindex (BTI) Platz 70 von 129 ein.5

Als ehemalige Kolonie Frankreichs hat Algerien eine lange Geschichte der Emigration nach Europa und bringt so-mit das algerische Drama auch zu uns.

So hofft Frankreich inständig auf eine friedliche Lösung, um Unruhen im ei-genen Land zu vermeiden, wo algeri-sche Migranten ebenfalls massenhaft auf die Straßen gehen. Diese Proteste waren nicht zuletzt gegen das ehema-lige „Mutterland“ Frankreich und spe- ziell gegen Präsident Emmanuel Macron gerichtet. Denn dieser hat-te sich nicht sogleich entschieden ge-gen Bouteflikas Neukandidatur aus-gesprochen – ein Fehltritt in einer oh-nehin schwierigen Gratwanderung, da jedes Wort der ehemaligen kolonialen Unterdrücker auf die Goldwaage ge-legt wird.

In Deutschland ist das Problem- bewusstsein für algerische Fragen nur schwach entwickelt. Das Interesse an der Eindämmung der afrikanischen Migration und der Kampf gegen den Terror in der Sahara überschattet al-les. Das Regime wird diesbezüglich auf seine Schutzfunktion verweisen und versuchen, dem Ausland seine Stabi-lität zu demonstrieren. Das könnte in den Versuch münden, die Stimme der erstarkten Zivilgesellschaft zu unter-drücken oder mundtot zu machen.

5 Vgl. dazu den Eintrag zu Algerien von Elisa-beth Brandt auf www.liportal.de.

Es wird doch noch spannend in Israel.

Lange Zeit sah es so aus, als ob die rech-teste Regierungskoalition in der Ge-schichte des Landes bei der Wahl zur 21. Knesset am 9. April ihre Mehrheit mit Leichtigkeit verteidigen könnte.

Doch je näher dieser Urnengang rückt, desto unsicherer wird es, ob Benjamin Netanjahu Premierminister bleibt.

Vor allem aus zwei Richtungen gerät Netanjahu derzeit unter Druck. Zum ei-nen hat der oberste Rechtsberater1 der Regierung Anklage gegen ihn wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue erhoben. Netanjahu soll Vergünsti-gungen in Form von Schmuck, Zigar-ren und Champagner im Wert von rund 250 000 Euro angenommen und oben-drein unerlaubterweise Einfluss auf zwei Massenmedien ausgeübt haben.

Zum anderen gründete der ehema-lige Generalstabschef Benjamin „Ben-ny“ Gantz die Liste Kachol Lawan (zu Deutsch: Blau-Weiß; die Farben der is-raelischen Fahne), die sich erfolgreich als Mitte-rechts-Alternative zu Netan-jahus Likud aufstellt. Laut Umfragen kann Kachol Lawan am Wahltag mit über einem Viertel der abgegebenen Stimmen rechnen und damit auf An-hieb als größte Fraktion in die Knesset einziehen. Infolgedessen könnte die amtierende rechte Koalition ihre knap-pe Mehrheit von 67 der insgesamt 120 Mandate verlieren.

Die Frage nach „Bibis“ politischer Zukunft steht damit im Zentrum des Wahlkampfs. Etwa die Hälfte der Be-völkerung steht laut Umfragen weiter-hin weiter-hinter dem Premierminister. Die ju-ristischen Verdächtigungen gegen ihn

1 Die Funktion entspricht in etwa dem deut-schen Generalbundesanwalt.

tut sie als Bagatelle ab oder denunziert sie gar als mediale Verschwörung.

Zudem befindet sich Netanjahu der-zeit auf dem Höhepunkt seiner Macht.

So kann er unter anderem auf eine er-folgreiche Wirtschaftsbilanz verwei-sen: Die makroökonomischen Daten des einstigen Schwellenlands sind glänzend. Israel ist eine führende, glo-bal agierende Hightech-Nation. Die Staatsverschuldung liegt bei nur 60 Pro- zent des BIP, die Inflation unterhalb von zwei und die Arbeitslosigkeit bei gera-de einmal vier Prozent. Seit gera-dem Engera-de der Zweiten Intifada im Februar 2005 wächst die israelische Wirtschaft stetig, das Bruttosozialprodukt liegt derzeit nominal gleichauf mit jenem Frank-reichs. Der Schekel wird heute als eine der weltweit stabilsten Währungen ge-handelt.

Auch außenpolitisch kann Netan-jahu aus Sicht seiner Anhänger Erfol-ge vorweisen: Der israelisch-palästi-nensische Konflikt ist wegen des Sy-rienkrieges international in den Hin-tergrund gerückt. Daher wurde dieser nur am Rande thematisiert, als etwa der indische Premierminister Narendra Modi – dessen Land einst die Bewe-gung der Blockfreien Staaten anführ-te, für die die Befreiung Palästinas ein zentrales Anliegen darstellte – im Juli 2017 Israel besuchte. Gleiches gilt für die Golfmonarchien, die das Selbstbe-stimmungsrecht der Palästinenser zu-gunsten einer gemeinsamen Front mit Israel gegen den Iran hintanstellen.

Netanjahu ging zudem Allianzen mit Rechtspopulisten wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ein.

Zwar riskierte er damit, liberale Bünd-nispartner im Westen zu verprellen. Im Gegenzug erhielt er jedoch politische

Tsafrir Cohen