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Ableitung von Indikatoren zur Erfassung der Einflussfaktoren

Im folgenden Abschnitt erfolgt die Ableitung von Indikatoren. Mit Hilfe der Indikatoren wird eine Messbarkeit mittels einfacher Abschätzung in frühen Phasen gewährleistet. Sie dienen der Beschreibung der Einflussfaktoren und geben Hinweise auf die jeweilige Ausprägung. Für die Auswahl möglicher Indikatoren zur Erfassung der entsprechenden Einflussfaktoren wird auf eine ganzheitliche Beschreibung des Faktors geachtet. Weiterhin muss eine Messbarkeit bzw. mögliche Ermittlung durch die zur Verfügung gestellten Informationen in Produktent-wicklung möglich sein.

Indikatoren der Produktkomplexität

Wie bereits in Kapitel 2.1 beschrieben, finden sich in der Literatur so wie in der Praxis, zahl-reiche Betrachtungsmöglichkeiten für den Begriff Komplexität. Für die Beschreibung sind die drei Dimensionen Vielfalt, Konnektivität und zeitliche Veränderung weit verbreitet [Bro12b], [Zeu98], [Sch05b]. Aufgrund des besonderen Stellenwerts der zeitlichen Veränderung inner-halb des Serienanlaufs wird dieser Punkt unter dem Aspekt „späte Änderungen“ separat be-trachtet. Als Indikatoren zur Beschreibung der Produktkomplexität werden die Vielzahl und Vielfalt der Komponenten sowie deren Kopplungsgrad verwendet.

Die Vielzahl an Komponenten übt unmittelbaren Einfluss auf die Produktkomplexität im Seri-enanlauf aus [Sch06]. Die Anzahl bestimmt maßgeblich die Aufwände innerhalb der Entwick-lung und in der Montage zum Gesamtprodukt. Mit steigender Anzahl an Komponenten lässt sich aufgrund der erhöhten Anzahl der Beteiligten auch auf einen höheren Koordinations-aufwand innerhalb der Serienanlaufphase schließen [Cha04]. Neben der Vielzahl steigert die Vielfalt der Komponenten die Notwendigkeit zusätzliche Produktions- und Logistikprozesse zur Verfügung zu stellen. Weiterhin führt eine hohe Vielfalt zu geringeren Lerneffekten im Serienanlauf, da sich unter Umständen die Betriebsmittel und Montageprozesse stark unter-scheiden können. Die Vielfalt ergibt sich aus der Bereitstellung unterschiedlicher Funktionen und Formen zur Erfüllung kundenrelevanter Produktmerkmale.

Die Ausgestaltung der Produktstruktur beeinflusst je nach Art den Kopplungsgrad des Pro-duktes und bestimmt damit maßgeblich über die Fertigungs- und Beschaffungsart sowie den Montageablauf [Pah07], [Sch05b]. Damit steht der Kopplungsgrad in direkter Abhängigkeit zum Produktionsprozess. Eine hohe Kopplung, realisiert durch eine integrale

Produktgestal-tung, erhöht die Anforderungen an die Montageprozesse und führt zu einer Reduzierung der Prozessflexibilität. Dies wirkt sich negativ auf Störanfälligkeit im Serienanlauf aus.

Indikatoren der Prozesskomplexität

Die Prozesskomplexität kann in Anlehnung an die Produktkomplexität ebenfalls auf die Viel-zahl an Montageschritten, die Prozessvielfalt und den Verkettungsgrad zurückgeführt wer-den [Gus89]. Eine hohe Anzahl an Montageschritten erfordert auch einen erhöhten Koordi-nationsaufwand hinsichtlich der Montagereihenfolge. Selbst kleine Störungen können bei einem hohen Verkettungsgrad kombiniert mit einer hohen Prozessvielfalt zu Produktions-stillständen führen. Der Verkettungsgrad wird durch die Fertigungsart (z.B. Werkstatt- oder Fließfertigung) und die zugrunde gelegte Produktstruktur festgelegt [Lot06]. Bei komplexen Produktionssystemen mit zahlreichen Störeinflüssen im Serienanlauf führt ein hoher Verket-tungsgrad somit zu Auswirkungen im ganzen System [Win07]. Eine sequentielle Fertigung stellt aufgrund der hohen Abhängigkeit einen hohen Verkettungsgrad dar. Eine Störung im Prozess (z.B. Fehlteil, mangelnde Mitarbeiterqualifikation, fehlerhafte Montage) führt zu einer unmittelbaren Verzögerung aller noch nachgelagerten Prozessschritte. Eine parallel gestaltete Montage ermöglicht es, verschiedene Module oder Baugruppen unabhängig von anderen Komponenten vorzumontieren und gegebenenfalls zu prüfen.

Die Prozessvielfalt beschreibt die Breite der notwendigen Prozessschritte, um die neu einzu-führenden Produkte fertigen zu können. Bedingt durch die erhöhte Produktvielfalt und Randbedingungen der Auftragsabwicklung im Unternehmen erhöht sich ebenfalls die Pro-zessvielfalt. Dies führt zu einer geringen Losgröße und steigenden Rüstvorgängen innerhalb der Produktion. Dadurch wird gerade im Serienanlauf die Lernkurve der Mitarbeiter negativ beeinflusst [Sch06]. Verschiedene Prozesse setzen eine erhöhte Qualifikation voraus und machen zudem aufwändige Schulungsmaßnahmen für die Produktionsmitarbeiter notwen-dig. Immer wiederkehrende identische Tätigkeiten erleichtern bereits zum Produktionsstart die schnelle und fehlerfreie Umsetzung auch komplexer Fertigungsschritte.

Einen zusätzlichen Aspekt stellt der Automatisierungsgrad in der Fertigung dar. Je größer dieser innerhalb der Produktionsprozesse ausgeprägt ist, desto höher ist der Planungsauf-wand innerhalb der Prozessgestaltung [Gus89]. Der Serienanlauf einer hochautomatisierten Montage stellt besondere Anforderungen an die Prozessbeteiligten. Der notwendige Lern-prozess wird von der Produktion stärker in die Entwicklung der Anlagen und Anlagenerpro-bung getragen. Die Störanfälligkeit automatisierter Prozesse ist zu Beginn des Produktions-hochlaufes stark ausgeprägt. Auftretende Änderungen führen zu aufwendigen Anpassungen der Prozesse. Dagegen können Störungen manueller Prozesse leichter durch erfahrene Mit-arbeiter kompensiert werden.

Indikatoren des Supply Chain Netzwerks

Einflüsse aus dem Lieferantennetzwerk auf die Leistungsfähigkeit im Serienanlauf werden durch eine verstärkte Auslagerung von Entwicklungs- und Fertigungsleistungen geprägt [Fit05]. Der Grund hierfür liegt in der Produktion von Serienprodukten innerhalb komplexer Wertschöpfungsnetzwerke, die eine Konzentration auf die Kernkompetenzen fördern [Den07].

Der Grad der Entwicklungs- und Fertigungstiefe stellen somit wichtige Indikatoren dar. Diese geben an, wie hoch der Anteil der Eigenleistung hinsichtlich der Entwicklungs- und Ferti-gungstätigkeiten ist. Ein geringer Grad führt zwangsweise zu einem erhöhten Koordinations- und Planungsaufwand und erfordert eine ganzheitliche Integration in die Anlauftätigkeiten [Gon07]. Ohne eine ganzheitliche Integration kann es zu Lieferzeitverzögerungen und hohen Nachbearbeitungskosten kommen, da Probleme erst spät erkannt werden [Wan98]. Weiter-hin findet langfristig eine Verlagerung des Know-hows in Richtung des Wertschöpfungspart-ners statt. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit einer konsequenten frühzeitigen Integration in die Anlaufplanung [Fit05]. Der Grad der Entwicklungstiefe kann mit Hilfe einer einfachen Verhältniszahl von fremdentwickelten Komponenten zur Gesamtanzahl an notwendigen Komponenten abgeschätzt werden. Identisch verhält es sich mit dem Grad der Fertigungs-tiefe.

Neben der Produkt- und Prozesskomplexität führt eine hohe Anzahl an Lieferanten ebenfalls zu einer Verstärkung der organisatorischen Komplexität. Je größer die Anzahl der extern ein-gebundenen Wertschöpfungspartner ist, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit des Auf-tretens von Organisations-, Kommunikations- und Schnittstellenproblemen eingeschätzt [Her08a]. Zusätzlich führen eine späte Integration und Informationsasymmetrien zu potenti-ellen späten Änderungen im Verlauf des Serienanlaufs.

Schon früh im Produktentwicklungsprozess werden Entscheidungen getroffen, die sich un-mittelbar auf den späteren Logistikprozess auswirken. Um eine gezielte Koordination und einen effizienten Ressourceneinsatz zu gewährleisten, sollte auch innerhalb der Serienan-laufphase nach Lieferantenart differenziert werden [Den07]. Eine mögliche Differenzierung basiert auf der Hierarchisierung der Lieferantenstruktur [Ott07]. Dabei kann zwischen Sys-tem- und Modullieferant, Komponentenlieferant und Materiallieferant unterschieden wer-den [Wil09]. Je komplexer das Beschaffungsobjekt und deren Innovationsgrad, desto größer sind die Risiken, dass Probleme in der Versorgung während des Serienanlaufs auftreten kön-nen [Den07]. Dies bedeutet, dass gerade System- und Modullieferanten von der Dynamik später Änderungen im Serienanlauf betroffen sind, da die Komplexität des Beschaffungsob-jektes in der Regel wesentlich höher ist als beim Komponentenlieferanten. Der Integrations-zeitpunkt in den Entwicklungsprozess spielt dabei eine bedeutende Rolle. Eine bedarfsge-rechte Koordination kann somit nur durch die Differenzierung der Schnittstelle zum Lieferan-ten erfolgen. Zusammenfassend kann festgehalLieferan-ten werden, dass sich der Einflussfaktor der Supply Chain auf den Serienanlauf durch die Indikatoren Grad der Entwicklungs- und Ferti-gungstiefe sowie Anzahl und Art an Lieferanten abbilden lässt.

Indikatoren des Neuheits-/Innovationsgrads

Langfristig lässt sich der Unternehmenserfolg nur durch neue Produkte sicherstellen. Dies ist vor allem beim Flugzeugbau stark ausgeprägt. Aus Sicht des Anlaufmanagements repräsen-tiert der Neuheitsgrad einen entscheidenden Komplexitätstreiber und bestimmt weitestge-hend den Umfang der durch den Lernprozess zu bewältigten Probleme im Serienanlauf [Gus89]. Dabei kann zunächst zwischen einer Produkt- oder Prozessinnovation als Ursache eines neuen Serienanlaufs unterschieden werden [Jür07]. Die Produktinnovation lässt sich durch den Neuheitsgrad der Produktkomponenten definieren. Dieser wird durch die

Ver-wendung neuer Komponenten und den damit verbundenen Technologien und Materialien bestimmt [Cou92]. Ein geringer Anteil an Gleichteilen vom Vorgänger- zum Nachfolgepro-dukt und damit ein großer Neuheitsgrad führt zu einer Steigerung der Aufwände in der Neu-konstruktion und zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Planwertüberschreitung im Seri-enanlauf [Wan98]. Weiterhin kann davon ausgegangen werden, dass die fehlende Erfahrung im Umgang mit den neuen Komponenten und deren spezifischen Anforderungen zu einer gewissen Unsicherheit im Verhalten während des Serienanlaufs führen [Ris02].

Mit einer hohen Prozessinnovation kann ein großes Ausmaß an Neuartigkeit innerhalb der Fertigungsprozesse verbunden werden. Dazu zählt der Einsatz neuer Fertigungstechnolo-gien, Betriebsmittel und der Anteil an neuen Prozessen. Genau wie der Neuheitsgrad der Produktkomponenten, führt der Neuheitsgrad der Prozesse im Serienanlauf aufgrund feh-lender Erfahrungen zu möglichen Verzögerungen und Problemen [Tyr91]. Je größer die Ver-änderung zum Vorgängerprodukt, desto größer ist die Planungsunsicherheit und die mögli-che Anlaufdauer. Um Vorteile der neu eingeführten Prozessinnovationen nutzen zu können, setzt dies zunächst im Serienanlauf eine erhöhte Qualifikation, Flexibilität und Schulungs-aufwand der Mitarbeiter voraus.

Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass trotz eines hohen Gleichteileanteils durch Über-nahmekomponenten, dass neueinzuführende Produkt Unterschiede zum Vorgängerprodukt aufweist. Dies lässt sich mit der Produktstruktur und der damit verbundenen Ausgestaltung der Schnittstellen erklären. Diese bestimmen maßgeblich die Kooperation im Wertschöp-fungsnetzwerk und die Prozessgestaltung innerhalb der Produktion. Ein hoher Neuheitsgrad der Schnittstellen führt ebenfalls zu einer notwendigen Anpassung von Betriebsmitteln, Montagereihenfolgen und Organisationsstrukturen. Der Neugestaltung der Schnittstellen kann daher ein Einfluss auf die Routine im Umgang mit dem Produkt zugeschrieben werden.

Je größer der Anteil an neuen Schnittstellen im Produkt ist, desto weniger kann auf die vor-handene Erfahrung zur Lösung der Probleme im Serienanlauf zurückgegriffen werden. Die Ermittlung des Neuheitsgrads lässt sich durch die Erfassung des Neuheitsgrads der Produkt-komponenten, der Fertigungsprozesse und der Schnittstellen beschreiben.

Indikatoren der späten Änderungen

Wie bereits diskutiert, resultiert die Komplexität nicht nur aus der Produkt- und Prozessge-staltung, sondern auch zusätzlich aus der zeitlichen Veränderung während des Serienanlaufs.

Diese zeitliche Komponente beschreibt das dynamische Verhalten der beteiligten System-elemente.

Ein Großteil der späten Änderungen im Serienanlauf basiert auf der Unterschätzung von technischen Risiken oder den fehlenden Erfahrungen im Umgang mit neuen Technologien.

Diese entstehen durch die Nichterfüllung impliziter und expliziter Anforderungen an das Produkt oder den Produktionsprozess. Je größer der Aufwand in den vorgelagerten Phasen ausfällt, desto geringer sind die Folgeaufwände zur Durchführung der Änderung und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der Änderungen [Pah07], [Ehr09], [Ren12]. Da häufig Än-derungen erst im Zusammenspiel der verschiedenen Disziplinen innerhalb des Serienanlaufs auftreten, verursacht dies hohe Folgekosten und zusätzliche Zeitaufwände durch Iterationen

innerhalb der Entwicklung [Gem95]. Ursachen für späte Änderungsbedarfe im Serienanlauf sind zum Beispiel mangelnder Reifegrad des Produkts, Nichterfüllen der geforderten Anfor-derungen, Fehler in der Dokumentation oder fehlerhafte Produktfunktionalität. Konstruktive Änderungen führen, wie bereits in Abschnitt 4.1 aufgezeigt, auch unmittelbar zu Anpassun-gen der Betriebsmittel, Fertigungs- und Materialbereitstellungsprozesse. Mit sinkender Ent-wicklungs- und Fertigungstiefe führen späte Änderungen zusätzlich zu Unsicherheiten hin-sichtlich der Liefertreue durch den Zulieferer. Diese haben wiederum nur ein kurzes Zeitfens-ter, um die notwendigen Änderungen umzusetzen.

Basierend auf dem empirischen Wirkmodell (vgl. Bild 4.2), wird als Indikator zur Erfassung der späten Änderungen die Komplexität und der Neuheitsgrad herangezogen, da diese einen entscheidenden Einfluss auf das Auftreten und das Ausmaß an Folgeänderungen von späten Änderungen innerhalb des Serienanlaufs haben [Fit05], [Wan98], [Hil97], [Jar04]. Je komple-xer das Produkt bzw. der Produktionsprozess gestaltet ist und je größer der Neuheitsgrad von Produkt und/oder Prozess, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten später Änderungen im Serienanlauf. Die Produktstruktur hat maßgeblichen Einfluss auf den Umfang der rungsauswirkung. Durch eine Integralbauweise werden die Auswirkungen von späten Ände-rungen durch die gegenseitigen Abhängigkeiten verstärkt. ÄndeÄnde-rungen an einer Komponen-te führen durch SchnittsKomponen-tellenbeziehungen zu Folgeänderungen bei anderen KomponenKomponen-ten.

Im Umkehrschluss führt eine inkrementelle Innovation mit einem geringen Neuheitsgrad und einem hohen Gleichteileanteil zum Vorgängerprodukt zu einer geringen Wahrschein-lichkeit an späten technischen Änderungen im Entwicklungsprozess. Genauso verhält es sich mit der Prozesskomplexität und dem Prozessneuheitsgrad. Die Erfahrungen aus der Produk-tion des Vorgängerprodukts können einfacher genutzt werden und es besteht eine geringere Planungsunsicherheit Dies ist bei langen Produktlebenszyklen im Flugzeugbau nur bedingt umsetzbar.

Aus der paarweisen Betrachtung von Komplexität und Neuheitsgrad ergeben sich somit die beiden Indikatoren Produktänderungen und Prozessänderungen. Da eine Wechselwirkung zwischen Änderungen am Produkt und Prozess besteht, ist eine einzelne Betrachtung eines Indikators nicht ausreichend. Zur Erklärung des Einflussfaktors „späte Änderungen“ werden in der weiteren Betrachtung stets beide Indikatoren berücksichtigt.