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Überwindung von »Han«

Teil 2: Versöhnung trotz Erinnerung?

2.2 Versöhnung im menschlichen Nahbereich

2.2.3 Überwindung von »Han«

2.2Versöhnung im menschlichen Nahbereich 89 dererseits. In allen diesen Tagungen musste erst einmal eine lange Zeit des Schweigens vor und während der Begegnungen bzw. der Gesprächsgruppen überwunden werden. Erst dann kamen sie zu den Geschichten ihrer Vorfahren.

Häufig sagten die Ersten, die anfingen zu sprechen, dass es überhaupt das erste Mal sei, dass sie über die belastende Vergangenheit sprechen.232 Bei Begegnun-gen zwischen Nachkommen der »Täter-« und »OpferBegegnun-generation« zeigte sich, dass eine große Erleichterung – aber erst nach einem schwierigen inneren Kampf – auf beiden Seiten aufkam.233

2.2Versöhnung im menschlichen Nahbereich 90 psychotherapeutischen Institution errungen.

Die zwei parallelen Säulen der südkoreanischen Gesellschaft – zum einen die konfuzianische Tradition und zum anderen die schamanistische – unterscheiden sich mehr oder weniger deutlich, wenn man ihre Rolle in Bezug auf »Heilung«

und Überwindung der »Last« aufgreift. Das evangelische Christentum ruht stark auf der schamanistischen Säule. In südkoreanischen evangelischen Gemeinden ist das laute Beten oder Zungenreden keine Seltenheit. Auch der Eifer zum Got-tesdienst und zum Gebet sind längst Erscheinungen, die sich nicht mehr von der Kirche in Südkorea trennen lassen. Die christliche Gemeinde, die durch ihren Ein-satz für die Armen und Unterdrückten und theologisch durch die Minjung-Theo-logie eine enorme ›Blütezeit‹ während der 1960er bis hin zu den 1970er Jahren erlebte, war in jener Zeit auch der ›sichere Ort‹ für Menschen, die unter den ne-gativen Auswirkungen von »Han« litten. Mehr und mehr nahm aber die Bedeu-tung der Pastoren in ihrer Rolle als ›Gesprächspartner‹ für die sehr persönlichen Kummergeschichten ab, da sich viele Gemeinden seit den 1980er Jahren stärker der Aufgabe stellen mussten, als ›Institution‹ zu überleben. Wie aus dem Fallbei-spiel (»Überwindung von »Han«, im Teil 1 dieser Arbeit) hervorgeht, kann es oft in den ›Institutionen‹ keinen Platz für die Menschen ›draußen vor dem Tor‹ ge-ben – wie leidende und aus der Gesellschaft ausgestoßene Menschen in der Min-jung-Theologie oft bezeichnet werden.

Das laute Beten, Weinen oder auch Zungenreden war Ausdruck nur der einen Seite, die zur Lösung von »Han« betragen könnte. Diese Handlungen gerieten in Gefahr, zum ›Monolog‹ zu werden, obwohl die Gewissheit bestehen sollte, dass wenigstens Gott ihre Stimme hören würde. Diese Menschen brauchten zuneh-mend ein ›Gegenüber‹, das ihre Stimmen nicht nur hörte, sondern aktiv mit ih-nen ins Gespräch kommen konnte. So entwickelte sich aus dem Bereich der praktischen Theologie mit der Seelsorge ein unabhängiges Gebiet, dessen Feld die Psychotherapeuten zum Teil für sich besetzten. Die Überwindung von Han und die Versöhnung mit der individuellen Schuldgeschichte muss also differen-ziert betrachtet werden, je nach ihrem kirchlichen, schamanistischen oder psy-chotherapeutischen oder politischen Rahmen.

»Han« hat, was aus dem Fallbeispiel über das Massaker am 3. April 1948 auf der

2.2Versöhnung im menschlichen Nahbereich 91 Insel Jeju deutlich hervorgeht, nicht nur Trauer zur Folge, sondern auch Wut. Im negativen Sinne entwickeln sich diese Emotionen im »Han« als ständige Suche nach einem Sündenbock, oder als selbstzerstörerische Macht, die den Leidenden selbst zu einer unendlichen Suche nach der eigenen Schuld anstachelt. Um über-haupt über die Probleme des eigenen Han reden zu können, bzw. um Handlun-gen durchführen zu können, die »Han« zumindest teilweise lösen können, müss-ten eigentlich gesellschaftliche Maßnahmen vorausgegangen sein. Doch das selbstzerstörerische Element von Han ist damit verknüpft, dass es letztlich das Individuum selbst ist, das »Han«, also den Knoten, im Herzen trägt. Um dem

›Gegenüber‹ vergeben zu können – sei es das System oder auch ein Mensch bzw. eine Gruppe – bedarf es also der Wege, die »Han« lösen können, um so die positive Energie des Lebens zurückzugewinnen.

Hier soll ein Schritt erwähnt werden, der in diesem Kapitel bisher noch keine Er-wähnung fand, nämlich das »sich selbst Vergeben«. Julia Kristeva beschreibt die Selbstvergebung als den vielleicht wichtigsten Schritt in der Vergebung selbst – denn nur so wird dem Menschen die Möglichkeit für einen neuen Anfang eröff-net.234 Julia Kristeva verortet die Vergebung strikt in der Privatsphäre, in der die Selbstvergebung – die also die darauf folgenden Prozesse erst ermöglicht – als menschliche Leistung gilt. Aus christlicher Perspektive ist jedoch zu sagen, dass durch die Rechtfertigung aufgrund des Glaubens die Vergebung als von Gott ge-gebener Zuspruch besteht. Also scheint im Bezug auf die [Selbst]Vergebung die christliche Botschaft umfassender und radikaler zu sein als eine säkular-psycho-therapeutische »Selbstvergebung«. Gesine Schwan behandelt die Schwierigkeit der Selbstvergebung als einen Aspekt von Folgeschäden einer beschwiegenen Schuld anhand von Sigmund Freuds Theorie der misslungenen Bewältigung des Ödipuskomplexes.235 Diese beiden Thesen Kristevas und Schwans stimmen im Fall von »Han« in der Hinsicht überein, dass die schamanistische Praxis der Lö-sung des Knotens zu einer Form von Selbstvergebung führen kann, so dass vom Täter die Schuld übernommen wird. Nicht immer ist es jedoch der Fall, dass man tatsächlich die Schuld, die man übernimmt, auch selbst trägt, sondern dass man

234 Julia Kristeva, a.a.O., 280: »Forgiveness is not limited to relationships with others. Perhaps its most important form is forgiveness of oneself, which permits personal rebirth and an op-timistic advancement toward new horizons.«

235 Gesine Schwan, a.a.O., 201-204.

2.2Versöhnung im menschlichen Nahbereich 92 sich die Schuld für etwas gibt, wofür man gar nicht verantwortlich ist – ( siehe Fallbeispiel in der Einleitung ›Tabubruch‹).

Aus der praktisch-theologischen seelsorgerlichen Arbeit in Südkorea und ihrer

›Vergebungspraxis‹ lässt sich jedoch sagen, dass es schwere Hindernisse für die Selbstvergebung gibt: Zwanghafte Charakterzüge (z.B. Festhalten an Erinnerun-gen und den ihnen anhaftenden alten Kränkungsgefühlen, Herrschsucht und Stolz, Vollkommenheitswahn und Perfektionismus, Anspruchshaltungen und Ver-wöhnung, Rechthaberei) erschweren das Vergeben ebenso wie ein nicht abge-bautes

»Größenselbst, falsche Ich-Ideale (keine Schwäche zeigen, nur nicht nachgeben, keine Unterlegenheit zugeben, größer sein müssen usw.), unrealistische Anspruchshaltungen, Unzufriedenheit mit sich selbst und daher Projektion eigener Probleme auf andere (Sünden-bockstrategie). Auch fehlende gegenseitige Information, Missver-ständnisse auf der inhaltlichen Ebene, falsche Einschätzung der Rea-lität und emotionale (Selbst-) Unsicherheit stehen einer Versöhnung durch Vergebung im Wege. Mangelnde Schuldeinsicht, Verdrängung und Somatisierung von schlechtem Gewissen oder Verweigerung der Annahme der Vergebung setzten Kränkungen fort und eröffnen keine Chancen der Wiedergutmachung bzw. eines Neuanfangs und verän-derter Verhaltensweisen.«236

Versöhnung mit sich selbst bedeutet in dieser Hinsicht nicht Selbstzufriedenheit, sondern Selbstannahme.237 Durch die Selbstannahme vollzieht sich die Befreiung von sich selbst, um sich dann dem Nächsten (Mitmenschen) frei hingeben zu können. Selbstannahme bedeutet der Mensch zu sein, der man ist, in der gan-zen Schwäche, Unsicherheit und den begrenzten Möglichkeiten. Theologisch be-trachtet ist diese Selbstannahme die Folge des Glaubens an die Rechtfertigung.

Dieser Akt der Selbstannahme bedeutet also, die Einsicht in das eigene

Ungenü-236 Dietrich Stollberg, »Vergebung der Sünden V. Praktisch-Theologisch«, in: Gerhard Müller (Hg), Theologische Realenzyklopädie, Band XXXIV, Berlin; New York: Walter de Gruyter, 2002, 686-690, hier: 688. Diese hier genannten Hindernisse für die Versöhnung mit sich selbst werden an den Fallbeispielen im Teil 3 (3.2) wieder gut erkennbar.

237 So auch im Han. Siehe Teil 1: Fallbeispiel 4.3.; John de Gruchy fügt die selbstbezogene Ver-söhnung als fünften Aspekt an, von der in seelsorgerlichen als auch in psychotherapeuti-schen Kontexten die Rede ist.

2.2Versöhnung im menschlichen Nahbereich 93 gen und in die unbefriedigenden Elemente des persönlichen und sozialen Lebens zuzulassen. Das Verdrängen schmerzhafter Erinnerungen, der ständige Anspruch auf Gerechtsprechung und Unschuld und die Sehnsucht nach Genugtuung durch Vergeltung, zerstören jedoch die Hoffnung darauf, dass eine versöhnende ge-meinsame Zukunft gedeihen könnte. Gerade der Vergeltungswunsch durch straf-rechtliche Maßnahmen ist hier problematisch.

Selbstannahme bezogen auf »Han« heißt dann, dass es immer nur das Individu-um sein kann, das »Han« löst. »Ich löse meinen Han«, heißt es. Abgesehen von den gesellschaftlichen Akten, wie Kompensation, Anerkennung oder auch Ge-nugtuung, ist es letztlich das ›Ich‹, das den eigenen »Han« lösen kann. Denn es sind nicht immer die äußeren Bedingungen, die zur Verfestigung von »Han« bei-tragen. Viele Menschen geben sich selbst die Schuld an einem Ereignis oder an ihrem eigenen Leid, weil sie mit ihrer Situation nicht zurechtkommen.238

2.2.4 Zusammenfassung zu 2.2 »Erinnerung und Versöhnung