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Übertragbarkeit von Heuristiken auf die Gruppenebene

3. Ökologische Rationalität

3.3.2. Übertragbarkeit von Heuristiken auf die Gruppenebene

Im Folgenden soll die Frage diskutiert werden, ob Heuris-tiken auch ein kollektives Organisationsphänomen sein können. Konkret, ob heuristische Entscheidungen auch in Gruppen präsent sind und nicht lediglich die Addition aller Einzelheuristiken einer Gruppe darstellen, sondern ob sie eine gemeinsame oder sich wechselseitig beein-flussende Dynamik haben. Dazu muss zunächst geprüft werden, ob ein Sprung auf die kollektive Ebene gelingen kann. Inwieweit deshalb eine Übertragbarkeit von Heuris-tiken auf die Gruppenebene möglich ist, soll im nächsten Kapitel diskutiert werden, indem die Annahmen von Gi-gerenzer und Todd (1999) von der individuellen Verhal-tensebene auf die Gruppenebene erweitert werden.

3.3.2. Übertragbarkeit von Heuristiken auf die Gruppenebene

Organisationsentscheidungen werden häufig in Gremien, Gruppen oder Teams getroffen. Um Heuristiken konkret auf diese kollektive Ebene mit mehreren Teilnehmenden zu übertragen, sind weitere Vorüberlegungen notwendig.

Diese Überlegungen sind u.a. angelehnt an die Analyse

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„Entscheidungsheuristiken in Gruppen“ von Reimer et al.

(2007). Im Folgenden sollen die drei Grundregeln der Heuristik (siehe Kapitel 3.3.2) von Gigerenzer und Todd (1999) sowie Gigerenzer und Marewski (2013, S. 234) dargestellt (siehe Tabelle 2) und auf die kollektive Ebene ausgeweitet werden.

Tabelle 2: Grundregeln heuristischer Entscheidungen (eigene Dar-stellung).

1. Informationen suchen (Suchregel: Wie und in welcher Reihenfolge wird die verfügbare Informa-tion verarbeitet?)

2. Beenden der Informationsaufnahme (Stoppregel) 3. Entscheidungsfindung auf Grundlage der

vor-handenen Informationen (Entscheidungsregel)

Neben den zahlreichen Einflüssen, die auf den Teilneh-menden sowie der Organisation basieren, gibt es auch einige kollektive Entscheidungsregeln, die eine Rolle bei der heuristischen Entscheidung spielen. Für ein Grup-penmodell werden soziale Komponenten, wie Entschei-dungsregeln und Einflüsse, benötigt. Auch Baron et al.

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(1992, S. 94 f.) fragen, ob es reguläre Muster (Entschei-dungsregeln) des Gruppenverhaltens gibt, die Präferen-zen verändern, sowie ob Gruppenentscheidungen vor-hergesagt werden können, wenn man die Präferenzen der Gruppenmitglieder kennt: „It tries to specifiy how group members combine what they bring to the group (e.g. their personal preferences) into a single group pro-duct (e.g. group decision)“ (Baron et al. 1992, S. 94).

Jedes Individuum zieht zunächst seine eigenen Schlüsse aus den Entscheidungsalternativen und integriert diese dann in das kollektive Gebaren. Das heißt, jeder/jede hat seine/ihre „eigene“ Heuristik und trifft also eine Voraus-wahl für sich selbst. Wenn er/sie in die Gruppe eintritt,

„bringt“ er/sie diese Vorauswahl mit. Dabei beeinflussen individuelle Präferenzen und Einstellungen das Verhalten anderer Gruppenteilnehmenden (vgl. Baron et. al. 1992, S. 67). Multiple Heuristiken gründen sich nicht nur auf die individuellen Heuristiken, die jedem/jeder Teilnehmenden eigen sind, sondern erst verschiedene soziale Phänome-ne machen sie zur Heuristik in Gruppen. Die heuristi-schen Grundregeln von Gigerenzer und Marewski (2013) sollen zum Zwecke der kollektiven Erweiterung auf die

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Gruppenebene durch die Einflüsse „kollektive Entschei-dungsregeln“, „Teilnehmendeneinfluss“ sowie „Organisa-tionseinfluss“ ergänzt werden (siehe Abbildung 6). Ein-flüsse der Teilnehmenden, der Organisation und kollekti-ve Entscheidungsregeln lenken die Heuristiken der Gruppe und geben ihr Gestalt.

Abbildung 6: Erweiterte Entscheidungsregeln heuristischen Verhal-tens durch soziale Prozesse (eigene Darstellung).

Heuristisches Entscheidungsverhalten in Gruppen soll anhand des folgenden Kurzbeispiels (und unter Einbe-ziehung von Abbildung 6) dargestellt werden:

Beispiel „Personalgremium wählt Azubis für die Organi-sation aus“:

Das Personalgremium der Organisation X hat die Aufga-be, Auszubildende für das neue Lehrjahr einzustellen. Es werden zahlreiche Tests durchgeführt und eine riesige

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Anzahl an Bewerbungsunterlagen gesichtet (Suchregel).

Wenn das Bewerbungsverfahren abgeschlossen ist, setzt sich das Gremium zusammen. Es wertet die Unterlagen und Ergebnisse so lange aus, bis die Gremiumsmitglie-der Gremiumsmitglie-der Meinung sind, sie hätten ausreichend Informatio-nen für eine Entscheidung (Stoppregel). Beim Suchpro-zess des Bewerbungsverfahrens haben sich die Gremi-umsmitglieder darauf geeinigt, dass die besten Auszubil-denden der Region gefunden werden sollten und die No-ten in Mathematik, Deutsch und Englisch eine große Rol-le spieRol-len (kolRol-lektive Entscheidungsregeln). Zum einen mit der organisationseigenen Begründung, dass diese Auswahlkriterien im Diagnoseprozess der Organisation bei der Auszubildendensuche schon immer wichtig waren (Einfluss der Organisation), und zum anderen, weil die Teilnehmenden im Gremium selbst im Laufe ihrer Orga-nisationskarriere gute Erfahrungen mit den „besten“ Aus-zubildenden haben gemacht und diese deshalb für zuver-lässig und hilfsbereit gehalten werden (Einfluss der Teil-nehmenden).

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Heuristiken in Gruppen sind soziale Heuristiken, weil sie erst durch die Zusammenarbeit von mehreren entstehen.

Es vollziehen sich dabei Prozesse, die den dungsverlauf beeinflussen. Heuristiken sind Entschei-dungsregeln, wie einfache Mehrheitsregeln (die meisten Stimmen entscheiden) oder Kombinationsregeln, die erst im Zusammenspiel mit den anderen Gruppenmitgliedern ihre Dynamik entfalten (vgl. Reimer et al. 2007, S. 12). Im Unterschied zur einfachen Mehrheitsregel greifen die Kombinationsregeln die Idee auf, dass einige Gruppen-mitglieder einen größeren Einfluss haben als andere.

Das können z.B. Gruppenmitglieder sein, die eine Re-kognitionsheuristik verwenden (vgl. Reimer et al. 2007, S. 12). Aber nicht nur Mehrheitsmeinungen können Ent-scheidungen beeinflussen, sondern auch Minoritäten können sich durchsetzen, z.B. durch überzeugende Per-sönlichkeiten oder hierarchische Einflüsse (vgl. Baron et al. 1992, S. 79).

Heuristiken in Gruppen können zwischen heuristischen Mehrheitsregeln (wenn die Mehrheit der Teilnehmenden eine Heuristik anwendet) und wissensbasierten (bzw.

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rationalorientierten) Mehrheitsregeln unterschieden wer-den, wenn die Mehrheit der Teilnehmenden sich auf-grund von Argumenten entscheidet. Bei wissensbasier-ten Mehrheitsregeln wägen die Teilnehmenden gemein-sam das Für und Wider einer Entscheidung ab. Sie stüt-zen sich auf greifbare Argumente und Wissen. Informati-onen werden zurate gezogen und miteinander vergli-chen. Gruppen entscheiden sich aber häufiger aufgrund einer heuristischen Mehrheitsregel als auf Basis wis-sensbasierter Mehrheitsregeln, weil auch die Gruppe den

„einfacheren“ Weg geht, anstatt eine langwierige Prüfung vieler Informationen vorzunehmen, um diese zu rationa-len Argumenten (cues) zu formen. Eine Kombination aus beiden Mehrheitsregeln bezeichnen Gaissmaier und Gi-gerenzer (2006, S. 13) als „heuristisches Denken“ mit cues, d.h., die Gruppenmitglieder verlassen sich nicht nur auf das intuitive Verfahren, z.B. auf das Wiedererkennen von Objekten (Rekognitionsheuristik), sondern nehmen zusätzlich noch die Suche nach Argumenten hinzu. Al-lerdings schreitet dieses Entscheidungsverfahren nicht so weit voran, dass sich daraus eine rationale Abwägung ergäbe. Sobald der Schwellenwert erreicht ist, d.h. der

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Wert, der die Gruppe entscheiden lässt, dass alle notwe-nigen Informationen für eine Entscheidung vorhanden sind, wird die Suche abgeschlossen (Stoppregel). Be-stimmte Informationen können zu einer sofortigen Elimi-nierung einer Entscheidungsalternative bzw. eines Lö-sungsweges führen. Informationen können somit zu ei-nem cut-off der Entscheidungsalternativen führen, wenn eine Information die Kriterien der Entscheidung nicht er-füllt und damit nicht mehr infrage kommt.

Die soziale Dynamik der Gruppe kann einer rein rationa-len Entscheidungsregel der Gruppenmehrheit entgegen-stehen. Argumente abwägen, sich wirklich für die Besten zu entscheiden anhand von sogenannten cues (Hinweis-reizen) und daraufhin eine Abstimmungsauswahl zu tref-fen, müsste auch zugleich ein Ausblenden anderer sozia-ler Informationen bedeuten (Sympathie, Persönlichkeit der Redner, Macht etc.). Dieses Verhalten fällt den Teil-nehmenden oft schwer, da ihr Handeln durch eigene Pri-oritäten bestimmt wird, und diese sind nicht immer von einem Abwägen und Vergleichen der Argumente für eine transparente und objektive Entscheidungsfindung

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prägt. Soziale Prozesse zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass die menschliche Fähigkeit zum sozialen Ler-nen und zur Imitation in das heuristische Entscheidungs-verhalten integriert wird (vgl. Gigerenzer/Gaissmaier 2006, S. 13).

Die Folge-der-Mehrheit-Heuristik ist eine klassische heu-ristische Mehrheitsregel. Sie wird auf kollektiver Ebene von den Teilnehmenden angewandt, die sich für das ent-scheiden, was die Mehrheit möchte. Sie ist eine soziale Heuristik, die auf Wissensfragen in einfachen Urteilssitu-ationen zugeschnitten ist. Wenden die Teilnehmenden eine heuristische Mehrheitsregel an, wählen sie die Ent-scheidungsalternative aus, für die die Mehrheit der Teil-nehmenden abgestimmt hat, die eine Heuristik ange-wandt haben. Der Unterschied zu wissensbasierten Mehrheitsregeln liegt also in der Anwendung der Heuris-tiken durch die Gruppenteilnehmenden.

Heuristiken mit kollektivem Hintergrund sind mehr als die Summe des Entscheidungsverhaltens von Individuen.

Durch das Agieren in der Gruppe beeinflussen Heuristi-ken das Entscheidungsverhalten der Gruppe, und auch andersherum werden Heuristiken ihrerseits durch