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In der Rechtssache Vanbraekel, die 2001 zu einer Entscheidung gelangte, ließ eine belgische Staatsangehörige, Frau Descamps, nachdem die belgische Krankenkasse die Kostenübernahme für eine Behandlung ihrer Gonarthrose163, 164 in Frankreich abgelehnt hatte, selbige dennoch in einer französischen Klinik durchführen und klagte in der Folge ihre Krankenkasse auf komplette Kostenerstattung. Ein vom Gericht bestellter Sachverständiger

154 Vgl EuGH 28.04.1998, Rs C-120/95, Decker, Rn 46.

155 Vgl EuGH 28.04.1998, Rs C-158/96, Kohll, Rn 34 f.

156 Vgl EuGH 28.04.1998, Rs C-158/96, Kohll, Rn 51.

157 Vgl EuGH 28.04.1998, Rs C-158/96, Kohll, Rn 52.

158 Vgl EuGH 28.04.1998, Rs C-120/95, Decker.

159 Vgl EuGH 28.04.1998, Rs C-158/96, Kohll, Rn 52.

160 Vgl EuGH 28.04.1998, Rs C-120/95, Decker.

161 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-368/98, Vanbraekel.

162 Vgl Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Binnenmarkt – unter Berücksichtigung der Richtlinie 2011/24/EU (2013) 43.

163 Vorzeitiger Verschleiß des Kniegelenks.

164 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-368/98, Vanbraekel, Rn 11–13.

28 befand, dass die Behandlung der Gonarthrose im Ausland aus medizinischen Gründen erforderlich gewesen war.165 Daraufhin wurde die Übernahme der Kosten durch die belgische Versicherung zwar zugesichert, allerdings stellte die Höhe der Zahlung ein Problem dar, da die Höhe der Vergütung im französischen Krankenversicherungsrecht und im belgischen Krankenversicherungsrecht unterschiedlich war.166 In der Folge wurde dem EuGH im Zuge eines Vorabentscheidungsverfahrens die Vorlagefrage gestellt, ob sich die Höhe der Kostenerstattung nach den Tarifen richten solle, die in dem Mitgliedstaat gelten, in dem die Patientin ihre Versicherungszugehörigkeit hat, oder nach jenen Tarifen, die in dem Mitgliedstaat gelten, in dem die Patientin ihre Behandlung durchführen ließ.167

Der EuGH entschied zunächst, dass der Betrag für die Kostenerstattung für eine Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat als jenem, in dem der Antragsteller versichert ist, in derselben Höhe erfolgen muss, als ob dem Antrag ohne die vorher erfolgte nicht ordnungsgemäße Ablehnung stattgegeben worden wäre.168 Weiters befand der EuGH zur Frage bezüglich der Höhe der Erstattung, dass es einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit darstellt, wenn ein Sozialversicherungsnehmer für die Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat eine geringere Kostenerstattung erhält, als es der Fall gewesen wäre, wenn er die Behandlung in jenem Mitgliedstaat, in dem er selbst Versicherungsnehmer ist, hätte durchführen lassen. Die Durchführung einer Krankenhausbehandlung wurde eindeutig als Dienstleistung klassifiziert.169 Somit war in der Rechtssache Vanbraekel der Krankenversicherungsträger dazu verpflichtet, den ergänzenden Anteil der Kostenerstattung zu übernehmen.170

165 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-368/98, Vanbraekel, Rn 16.

166 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-368/98, Vanbraekel.

167 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-368/98, Vanbraekel.

168 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-368/98, Vanbraekel, Rn 34.

169 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-368/98, Vanbraekel, Rn 45.

170 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-368/98, Vanbraekel, Rn 53.

29 4.3 Rückerstattung im Sachleistungssystem, stationäre Behandlung (Rechtssachen Smits und Peerbooms)171, 172

In der Rechtssache Smits, welche 2001 am EuGH entschieden wurde, reichte die niederländische Staatsbürgerin Frau Smits, die an Morbus Parkinson litt, im Anschluss an eine Behandlung in einer Spezialklinik in Deutschland bei ihrer Krankenkasse einen Antrag auf Rückerstattung der Behandlungskosten ein.173 Die Krankenversicherung verweigerte eine Kostenübernahme mit der Begründung, dass Frau Smits ihren Morbus Parkinson auch in den Niederlanden hätte behandeln lassen können und eine Behandlung in der Spezialklinik in Deutschland keinerlei Vorteil erbracht hatte.174

Bei der Rechtssache Peerbooms ging es um Herrn Peerbooms aus den Niederlanden, der nach einem Autounfall ins Koma fiel. Er wurde in die Universitätsklinik Innsbruck verlegt, wo er eine Neurostimulationsbehandlung erhielt, die sich in den Niederlanden zu jener Zeit erst im Versuchsstadium befand und ausschließlich an unter 25-Jährigen durchgeführt wurde, wofür Herr Peerbooms in seinem Heimatstaat bereits zu alt war.175 Die niederländische Krankenkasse lehnte eine Kostenübernahme mit demselben Argument wie im Fall Smits ab, wonach die Versorgung von Herrn Peerbooms auch in einer niederländischen Krankenanstalt angemessen hätte durchgeführt werden können.176

Interessant ist hier der Vergleich mit den Fällen Kohll und Decker, welche die Rückerstattung im Kostenrückerstattungssystem und im Bereich der ambulanten Behandlung darstellen.177 In den Fällen Smits und Peerbooms wurde die Kostenrückerstattung im Sachleistungssystem und auf dem Gebiet der stationären Behandlung vom EuGH eingehend betrachtet.178 Die Rückerstattung der Kosten bei einer Behandlung in einem anderen

171 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms.

172 Vgl Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Binnenmarkt – unter Berücksichtigung der Richtlinie 2011/24/EU (2013) 44.

173 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Rn 25.

174 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Rn 26 ff.

175 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Rn 34 ff.

176 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Rn 34 ff.

177 Vgl Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Binnenmarkt – unter Berücksichtigung der Richtlinie 2011/24/EU (2013) 44.

178 Vgl Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Binnenmarkt – unter Berücksichtigung der Richtlinie 2011/24/EU (2013) 44.

30 Mitgliedstaat als dem Versicherungsmitgliedstaat des Patienten wurde von der niederländischen Versicherung davon abhängig gemacht, ob sie zuvor von der jeweils zuständigen Krankenversicherung genehmigt worden war. Diese Genehmigung wurde nur erteilt, wenn die Behandlung in ärztlichen Fachkreisen als lege artis angesehen wurde. Außerdem musste eine Notwendigkeit für die Behandlung im Ausland gegeben sein.179

Die Auffassung, was als „übliche“ ärztliche Behandlung anzusehen ist, ist sehr unterschiedlich. Wenn – wie in den Fällen Smits und Peerbooms – eine Behandlungsmethode im eigenen Land als „unüblich“ angesehen wird, in einem anderen Mitgliedstaat aber lege artis ist und dort von den jeweiligen Versicherungen problemlos erstattet wird, so könnte dies zu einem Hemmnis im freien Dienstleistungsverkehr führen, weil die inländischen Dienstleister – in diesem Fall die Krankenanstalten – bevorzugt würden. Die Genehmigung für eine Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Versicherungsmitgliedstaat darf nur dann unterbleiben, wenn die Behandlung im Herkunftsstaat des Patienten jener im Ausland qualitativ adäquat ist.180 Bei diesen beiden Sachverhalten steht beiden Patienten das Recht auf eine Kostenerstattung durch ihre jeweilige Krankenkasse zu.181

4.4 Sowohl ambulante als auch stationäre Behandlung (Rechtssachen Müller-Fauré und van Riet)182

Die Rechtssachen Müller-Fauré und van Riet183 wurden vom EuGH ähnlich wie die zuvor in Kapitel 4.3 erörterten Rechtssachen Smits und Peerbooms behandelt. Auch hier ging es um die Frage der Vereinbarkeit von Dienstleistungserfordernis und Vorabgenehmigungserfordernis, welche von den niederländischen Krankenkassen im Falle einer Auslandsbehandlung gestellt wurde.184, 185 In den in diesem Kapitel behandelten Rechtssachen steht

179 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Rn 43.

180 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Rn 94 und 103.

181 Vgl Astl, Die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Europa (2011) 29.

182 Vgl Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Binnenmarkt – unter Berücksichtigung der Richtlinie 2011/24/EU (2013) 45.

183 Vgl EuGH 13.05.2003, Rs C-385/99, Müller-Fauré und van Riet.

184 Vgl Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Binnenmarkt – unter Berücksichtigung der Richtlinie 2011/24/EU (2013) 45.

185 Vgl EuGH 13.05.2003, Rs C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 20–24.

31 allerdings die Frage im Mittelpunkt, ob der Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit durch die besondere Beschaffenheit des Sachleistungssystems in den Niederlanden gerechtfertigt werden kann. Außerdem wird der Frage nachgegangen, ob und welche Auswirkungen es hat, wenn eine Behandlung teilweise ambulant und teilweise stationär erbracht wird.186

Frau Müller-Fauré war Staatsbürgerin der Niederlande und hatte, ohne zuvor die Genehmigung ihrer Krankenkasse einzuholen, eine Zahnoperation in Deutschland ambulant durchführen lassen. Die niederländische Krankenkasse lehnte die Kostenrückerstattung mit der Begründung ab, die Versicherte hätte im EU-Ausland nur Anspruch darauf gehabt, dass die Behandlung durchgeführt werde, nicht jedoch in jedem Fall auch darauf, dass die Behandlungskosten rückerstattet werden.187

Die Niederländerin van Riet ließ in Belgien eine Operation an ihrem Handgelenk durchführen. Der Grund für ihre Entscheidung zu einer Behandlung im Ausland lag darin, dass Frau van Riet in ihrem Heimatland rund ein halbes Jahr auf die Behandlung hätte warten müssen. In Belgien konnte die Operation wesentlich zeitnäher durchgeführt werden. Frau van Riet erhielt im Nachhinein auf ihren Antrag auf die Kostenrückerstattung für diese Auslandsbehandlung seitens ihrer niederländischen Krankenversicherung eine Absage mit der Begründung, dass die Behandlung nicht dringend oder medizinisch notwendig gewesen sei und genauso gut in den Niederlanden hätte durchgeführt werden können.188

Das Argument, mit welchem die niederländischen Krankenkassen die Kostenübernahme dieser Behandlungen verweigerten, war, dass eine vorher ergehende Bewilligung von medizinischen Eingriffen im Ausland für eine Planungs- und Qualitätssicherung in den heimischen Spitälern unabdingbar sei.189 Der EuGH hatte bereits im Urteil Smits und Peerbooms (siehe Kapitel 4.3) festgelegt, dass die Sicherung der medizinischen Versorgung im Versicherungsmitgliedstaat einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt und somit einen Eingriff in den freien Dienstleistungsverkehr

186 Vgl EuGH 13.05.2003, Rs C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 32–36.

187 Vgl EuGH 13.05.2003, Rs C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 21.

188 Vgl EuGH 13.05.2003, Rs C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 25–28.

189 Vgl EuGH 13.05.2003, Rs C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 49.

32 rechtfertigen kann. Der Antrag auf eine Bewilligung für eine Behandlung im EU-Ausland muss unkompliziert einzubringen und – bei negativem Bescheid – anfechtbar sein.190 Hier stellte der EuGH klar und deutlich fest, dass unter gewissen Umständen die Bedingungen der Vorabgenehmigung für eine Auslandskrankenbehandlung notwendig und angemessen sein können.191

Im Fall Müller-Fauré konnte nicht von einer Schädigung des sozialen Gleichgewichts des Krankenversicherungssystems ausgegangen werden. Im Fall van Riet wäre eine zeitnähere Behandlung im Versicherungsmitgliedstaat nicht möglich gewesen.192

4.5 Länder mit staatlichem Gesundheitsdienst, Wartelistenpolitik im Gesundheitssektor (Rechtssache Watts)193, 194

In der Rechtssache Watts, welche vom EuGH im Jahr 2006 ausjudiziert wurde, stand die Britin Watts, die an einer ihre Lebensqualität stark einschränkenden Form der Hüftarthritis litt, im Mittelpunkt.195 Dieser Fall wurde an den EuGH im Zuge eines Vorabentscheidungsverfahrens herangetragen, in dem essenzielle Fragen geklärt werden sollten. Zum einen hatte der EuGH zu beurteilen, inwiefern die Gewichtung zwischen den wirtschaftlichen und den gesundheitlichen Aspekten in einer solchen Entscheidung vorgenommen werden soll, zum anderen musste er die Beziehung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft selbst auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung beleuchten.196 Die Interpretation des Begriffes der „Rechtzeitigkeit“ einer medizinischen Behandlung sowie die Höhe, in der ein Anspruch auf Kostenerstattung besteht,

190 Vgl EuGH 12.07.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, VII/2.

191 Vgl EuGH 13.05.2003, Rs C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 81 und 85.

192 Vgl EuGH 13.05.2003, Rs C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 93.

193 Vgl EuGH 16.05.2006, Rs C-372/04, Watts.

194 Vgl Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Binnenmarkt – unter Berücksichtigung der Richtlinie 2011/24/EU (2013) 46.

195 Vgl EuGH 16.05.2006, Rs C-372/04, Watts.

196 Vgl Astl, Die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Europa (2011) 31.

33 waren ebenfalls Teil der Fragestellung, mit der sich der EuGH in diesem Fall befassen musste.197

Der Fall Watts unterschied sich von den vorangegangenen Fällen (Kohll und Decker, Smits und Peerbooms, Müller-Fauré und van Riet) insofern, als in Großbritannien, wie in Kapitel 2.3.2 eingehend beleuchtet wurde, ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem existiert.198 Im Jahr 2002 wurde Frau Watts vom zuständigen Facharzt in ihrem Heimatstaat als Routinefall eingestuft und hätte mindestens ein Jahr auf eine Operation in Großbritannien warten müssen.199 Sie reichte zwei Mal bei ihrer Krankenkasse einen Antrag auf Rückerstattung der Kosten für eine Operation im EU-Ausland ein, wo sie um vieles schneller einen Termin bekommen könnte. Der britische National Health Service Bedfordshire (damals noch Bedford Primary Care Trust genannt)200 beharrte darauf, dass die Operation in einem angemessenen Zeitraum in ihrem Heimatkrankenhaus stattfinden könne, woraufhin Frau Watts nach Frankreich ging, wo sie im Jahr 2003 an der Hüfte operiert wurde. Sie beantragte in der Folge die Kostenübernahme durch den National Health Service.201

Der EuGH befand, dass eine Einschränkung der Grundfreiheiten durch einen Mitgliedstaat nicht aus ausschließlich wirtschaftlichen und finanziellen Gründen vorgenommen werden darf. Eine gewisse Wartezeit auf eine medizinische Behandlung, sofern für den Patienten zumutbar, sei vertretbar.202 Im Fall Watts allerdings erwies sich aufgrund der gesundheitlichen Situation der Patientin eine Verzögerung der Behandlung als unzumutbar.203

197 Vgl Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Binnenmarkt – unter Berücksichtigung der Richtlinie 2011/24/EU (2013) 47.

198 Vgl Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung und der Patientenrichtlinie (2012) 73.

199 Vgl EuGH 16.05.2006, Rs C-372/04, Watts, Rn 24 und 25.

200 Vgl Astl, Die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Europa (2011) 31.

201 Vgl EuGH 16.05.2006, Rs C-372/04, Watts, Rn 26–32.

202 Vgl EuGH 16.05.2006, Rs C-372/04, Watts, Rn 59–77.

203 Vgl EuGH 16.05.2006, Rs C-372/04, Watts, Rn 59–77.

34 4.6 Behandlung in einer ausländischen Privatklinik (Rechtssache Stamatelaki)204

Die Rechtssache Stamatelaki, die im Jahr 2007 entschieden wurde, behandelte den Fall des an Blasenkrebs erkrankten Griechen Stamatelaki, der in einer Londoner Privatklinik medizinisch versorgt wurde. Als Herr Stamatelaki bei seiner griechischen Krankenversicherung den Antrag auf Kostenrückerstattung vorlegte, wurde dieser mit der Begründung abgelehnt, dass die griechische Krankenversicherung nicht für Behandlungskosten in ausländischen Privatkliniken aufkam. Dies sei nur in Ausnahmefällen, wie etwa bei Kindern bis zum vierzehnten Lebensjahr, möglich.205

Der EuGH befasste sich wiederum mit der Frage, ob eine solche Beschränkung mit der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art 49 EGV vereinbar ist. Der EuGH stellte erneut die Anwendbarkeit des freien Dienstleistungsverkehrs auf die medizinischen Tätigkeitsbereiche und im Fall Stamatelaki somit eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit fest.206

Wie in den Rechtssachen Müller-Fauré und van Riet (siehe Kapitel 4.4) bejaht der EuGH hier grundsätzlich ebenfalls die Möglichkeit der Rechtfertigung, sollte der Eingriff zur Sicherung des finanziellen Gleichgewichts der Sozialsysteme unabdingbar notwendig sein. In diesem Fall gäbe es aber ebenfalls gelindere Mittel, um diesem Problem auszuweichen,207 und der EuGH stellte auch im Fall Stamatelaki einen Verstoß gegen den freien Dienstleistungsverkehr fest.208

4.7 Zusammenfassung der EuGH-Rechtsprechung zum Thema Patientenmobilität

Im Mittelpunkt der EuGH-Entscheidungen im Bereich der Patientenmobilität steht die Frage der Kostenerstattung vonseiten der Versicherungsträger gegenüber Patienten, die sich in einem anderen als in ihrem Herkunftsstaat haben behandeln lassen. Des Weiteren sind auch jene Fälle, bei denen im

204 Vgl EuGH 19.04.2007, Rs C-444/05, Stamatelaki.

205 Vgl EuGH 19.04.2007, Rs C-444/05, Stamatelaki, Rn 1 und 2.

206 Vgl EuGH 19.04.2007, Rs C-444/05, Stamatelaki, Rn 19 ff.

207 Vgl EuGH 19.04.2007, Rs C-444/05, Stamatelaki, Rn 30 ff.

208 Vgl EuGH 19.04.2007, Rs C-444/05, Stamatelaki, Rn 38.

35 Herkunftsstaat eine Vorabgenehmigung für eine Kostenerstattung durch den jeweiligen Versicherungsträger gefordert wurde, sowie die Frage nach der Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise von Interesse.209

Der EuGH blieb, wie anhand der vorhergehenden Beispiele ersichtlich wurde, in seiner Rechtsprechung weitgehend konstant.210 Auf dem Gebiet der Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Patientenmobilität gibt es die aktive Dienstleistungsfreiheit, welche die Erbringung grenzüberschreitender medizinischer Dienstleistungen gestattet, aber auch die passive Dienstleistungsfreiheit, welche die Inanspruchnahme länderüberschreitender Gesundheitsdienstleistungen gewährleisten soll.211 Innerstaatliche Gesetze, die den freien Dienstleistungsverkehr erschweren,212 sind genau wie unterschiedslose Beschränkungen tatbestandsmäßig.213

Die Rechtfertigungsgründe, die eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit auf dem Gesundheitssektor zulassen würden,214 sind von hoher praktischer Bedeutung.215 Sie wurden aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH entwickelt216 und sollen aufgrund ihrer Bedeutung im Folgenden aufgezählt werden:217

• Die Gefährdung des Gleichgewichts in der Finanzierung auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit.218 Dieser Rechtfertigungsgrund ist insofern außergewöhnlich, als rein wirtschaftliche Rechtfertigungsgründe vom EuGH im Normalfall nicht akzeptiert werden.219 Ein Beispiel für die Anwendung dieses Rechtfertigungsgrundes findet man in einem EuGH-Urteil aus dem Jahr 2003, Rs C-322/01, DocMorris.220

209 Vgl Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung und der Patientenrichtlinie (2012) 48.

210 Vgl Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung und der Patientenrichtlinie (2012) 48.

211 Vgl EuGH 31.01.1984, Rs 286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Rn 10 und 16.

212 Vgl EuGH 27.01.2011, Rs C-490/09, Kommission/Luxemburg, Rn 33.

213 Vgl Ranacher/Frischhut, Handbuch Anwendung des EU-Rechts (2009) 106 ff.

214 Vgl Leidenmühler, Europarecht (2013) 161 f.

215 Vgl Frischhut/Stein, Patientenmobilität (2011) 50.

216 Vgl Frischhut/Stein, Patientenmobilität (2011) 50.

217 Vgl Frischhut/Stein, Patientenmobilität (2011) 50.

218 Vgl Frischhut/Stein, Patientenmobilität (2011) 50.

219 Vgl Leidenmühler, Europarecht (2013) 162.

220 Vgl EuGH 11.12.2003, Rs C-322/01, DocMorris, Rn 122.

36

• Die Aufrechterhaltung einer zureichenden medizinischen Grundversorgung im Mitgliedstaat. Dieser Rechtfertigungsgrund zählt zu den Ausnahmen, die aus Beweggründen der öffentlichen Gesundheit gemäß Art 46 EGV geltend gemacht werden können.221

• Die Beibehaltung eines gewissen Umfangs und eines guten Niveaus der medizinischen Versorgung im Mitgliedstaat, um die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu sichern. Auch dieser Rechtfertigungsgrund zählt zu den Ausnahmen, die aus Beweggründen der öffentlichen Gesundheit gemäß Art 46 EGV geltend gemacht werden können.222 Anwendung fand dieser Rechtfertigungsgrund unter anderem im EuGH-Urteil Elchinov223 aus dem Jahr 2010 und im EuGH-Urteil Kom/Luxemburg224 aus dem Jahr 2011.

Die Rechtfertigungsgründe müssen in der Folge einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen werden, wobei stets auf den Einzelfall abgestellt werden muss. Dabei wird geprüft, ob der Eingriff in die Grundfreiheiten im konkreten Fall angemessen war.225

221 Vgl Frischhut/Stein, Patientenmobilität (2011) 50.

222 Vgl Frischhut/Stein, Patientenmobilität (2011) 50.

223 Vgl EuGH 05.10.2010, Rs C-173/09, Elchinov, Rn 42.

224 Vgl EuGH 27.01.2011, Rs C-490/09, Kommission/Luxemburg, Rn 43.

225 Vgl Leidenmühler, Europarecht (2013) 163.

37 5 Inhalt der RL 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung

5.1 Allgemeines zur RL 2011/24/EU

Die RL 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (auch als Patientenmobilitäts-Richtlinie bezeichnet) entwickelte sich als Reaktion auf die ständige Rechtsprechung des EuGH zum Thema Patientenmobilität in der EU.226 Das Europäische Parlament und der Rat forderten die Kommission zu einer Regelung der Gesundheitsdienstleistungen in einer eigenen Rechtsvorschrift auf. Diese legte am 02.07.2008 einen Vorschlag für eine Richtlinie vor, welche die Ausübung der Patientenrechte auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden medizinischen Versorgung behandelte.227

Hauptintention der Patientenmobilitäts-Richtlinie ist die Umsetzung der ständigen Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Patientenmobilität innerhalb der EU, ohne jedoch zu tief in die einzelnen mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme einzugreifen, wobei eine Ausgewogenheit mit der Dienstleistungsfreiheit der Europäischen Union gewährleistet werden soll.228 Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung trat am 24.04.2011 in Kraft229 und sollte von den EU-Mitgliedstaaten bis zum 25.10.2013 umgesetzt werden.230

226 Vgl Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung und der Patientenrichtlinie (2012) 103.

227 Vgl Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, KOM (2008) 414 endg.

228 Vgl Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung und der Patientenrichtlinie (2012) 104.

229 Vgl RL 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung.

230 Vgl RL 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung Art 21.

38 5.2 Ziel und Aufbau der RL 2011/24/EU

Da es trotz eingehender Beschäftigung des EuGH mit der grenzüberschreitenden medizinischen Versorgung innerhalb der Europäischen Union in seiner Rechtsprechung weiterhin zu Unsicherheiten seitens der Patienten und Mitarbeiter der Gesundheitsdienste kam, sollte mit der Patientenmobilitäts-Richtlinie ein transparenter Gesetzesrahmen geschaffen werden, der es den Patienten ermöglicht, kompetent über ihre Gesundheitsversorgung über die Grenzen ihres eigenen Mitgliedstaates hinaus zu verfügen.231 Weiters sollte ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der die grenzüberschreitende innereuropäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung erleichtert.232

Im von der Kommission vorgelegten Vorschlag für die Patientenmobilitäts-Richtlinie wurden drei wichtige Themenbereiche hervorgehoben, welche durch die Richtlinie erfasst werden sollten:233

• Die Ausgestaltung bestimmter Grundsätze, welche in allen gemeinschaftlichen Gesundheitssystemen gleich sein sollen. Diese Prinzipien sollten primär das Vertrauen und die Klarheit auf dem Gebiet der Behördenzuständigkeit im Gesundheitssektor innerhalb der EU fördern.

• Die Festlegung eines klar definierten Rechtsrahmens bezüglich der Ansprüche der in ihrem Heimatstaat versicherten EU-Bürger auf dem Gebiet der medizinischen Behandlung im EU-Ausland und die Höhe der Kostenerstattung durch ihre Heimatversicherung.

• Die Errichtung eines Rechtsrahmens für eine weitläufige Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf dem Gesundheitssektor.234

231 Vgl Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, KOM (2008) 414 endg 4 f.

232 Vgl Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, KOM (2008) 414 endg 4 f.

233 Vgl Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, KOM (2008) 414 endg 4 f.

39 Die RL 2011/24/EU ist in fünf Kapitel gegliedert, denen – gleichsam als Einleitung – vierundsechzig Erwägungsgründe vorangehen. Diese Erwägungsgründe sollen zur Auslegung der Patientenmobilitäts-Richtlinie herangezogen werden.235

Im Kapitel I stehen die allgemeinen Bestimmungen. Diese sind der Gegenstand

Im Kapitel I stehen die allgemeinen Bestimmungen. Diese sind der Gegenstand