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Ökotrophologie als Lebenswissenschaft

Der integrative Beitrag der Haushalts- und Dienstleistungswissenschaften

Unter diesem Titel fand am 9. November 2007 ein von der Gießener Hochschulgesellschaft gefördertes Festkolloquium anlässlich des 80.

Geburtstags von Prof. Dr. Dr. h.c. Rosemarie von Schweitzer statt. Mehr als 200 Personen, ein Großteil von ihnen ehemalige Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen der Ju-bilarin, fanden sich zu diesem Anlass in der Aula der Justus-Liebig-Universität Gießen ein.

Nachdem Prof. von Schweitzer mit Blumen, Geschenken und einem spontanen Geburts-tagsständchen geehrt worden war, skizzierten die amtierenden InstitutsprofessorInnen in ihren Festvorträgen die Entwicklung und der-zeitige inhaltliche Ausrichtung des Instituts für Wirtschaftslehre des Haushalts und Ver-brauchsforschung, der langjährigen Wirkungs-stätte der Jubilarin.

Anlass für die Gründung des Instituts im Jahr 1962 war der gewachsene Beratungsbedarf zur Führung landwirtschaftlicher Familienbetriebe im Spannungsfeld von Erwerbsarbeit, Familie und Haushalt. Das Institut erarbeitete zunächst die wissenschaftlichen Grundlagen für die Lehrerbildung an ländlichen Fachschulen und qualifizierte den Nachwuchs für die Bildung und Beratung von Haushalten als bedarfsorien-tierte Wirtschaftseinheiten und von familialen Lebensformen, die sich zunehmend ausdiffe-renziert haben. Vor dem Hintergrund des Struk-turwandels der bundesdeutschen Gesellschaft mit seinen Konsequenzen für Haushalt und Familie ergeben sich bis heute neue Themen und wissenschaftliche Fragestellungen, die eine stringente Analyse erfordern. Insbesondere die demographische Entwicklung unterstreicht die Notwendigkeit, private Haushalte und familiale Lebensformen bei der Bewältigung ihrer vielfäl-tigen Alltagsanforderungen zur Sicherstellung von Lebensqualität im Generationenzusam-menhang durch haushaltsnahe

Dienstleistun-gen bei der Daseinsvorsorge differenziert zu unterstützen. Haushaltsorientierte Versorgungs -arrangements bewegen sich dabei zwischen privatem und öffentlichem Raum, sie befinden sich in staatlicher, privatwirtschaftlicher oder gemeinnütziger Trägerschaft und erfordern daher vielfältige Schnittstellenkompetenzen.

Hieraus ergibt sich die Möglichkeit einer unter-schiedlichen Schwerpunktsetzung während des Studiums der Ökotrophologie und des weiter-führenden Master-Studiengangs Haushalts-und Dienstleistungswissenschaften, darüber hinaus aber auch vielfältige Beschäftigungsper-spektiven für Absolventinnen und Absolventen.

Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe, die als Nachfolgerin von Rosemarie von Schweitzer den Lehrstuhl für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft innehat, legte daher den Schwerpunkt ihres Vortrags auf die interdiszi-plinäre Ausrichtung des Studienganges und auf spätere Berufsfelder. Sie betonte, dass Interdis-ziplinarität keine Modeerscheinung sei, son-dern eine notwendige Folge der zunehmenden Komplexität der Probleme des Alltags. In die-sem Zusammenhang kritisierte sie nachdrück-lich den Alleinvertretungsanspruch der Natur-wissenschaften, den Begriff der „Life Sciences“

für sich zu reklamieren. Nicht nur Zellverband und Molekülstrukturen bedürfen der intensiven wissenschaftlichen Durchdringung, sondern ebenfalls das vielfältige Alltagsleben von Haushalt und Familie. Beide Perspektiven miteinander zu verknüpfen, mache die Stärke der Ökotrophologie als Studiengang aus und könne die Erkenntnisschranken von hochgradi-ger Spezialisierung im Wissenschaftsbetrieb kreativ überwinden. Die Herausforderungen, vor denen die Ausrichtung haushaltsnaher Dienstleistungen derzeit und in Zukunft steht, erstrecken sich von der Herstellung einer ausgewogenen Work-Life-Balance zwischen

Gießener Universitätsblätter 41|2008

Erwerbstätigkeit und Familie über die Präventi-on und Verringerung vPräventi-on Armut in ihren viel-fältigen Dimensionen bis hin zu der steigenden Lebenserwartung in einer alternden Gesellschaft, die alle die Entwicklung neuer und pass -genauer Unterstützungsangebote erforderlich machen.

Prof. Dr. Adalbert Evers plädierte in seinem Fest -vortrag für eine neue Generation von Diens ten.

Als Inhaber der Professur für vergleichende Gesundheits- und Sozialpolitik konstatierte er für die personenbezogenen sozialen Dienste eine hohe Bedeutung in der Praxis, der eine zu geringe Präsenz in universitärer Lehre und Forschung entgegenstehe; außerdem sei die Debatte über neue Leitbilder für soziale Dienste zu sehr nach Politikfeldern versäult. Die Her-ausforderung liegt für ihn darin, bereichsüber-greifende qualitative Leitbilder für haushalts-und personenbezogene Dienstleistungen zu entwickeln, die sich sowohl auf die Kinderbe-treuung als auch auf Unterstützung im Alter sowie alle anderen Bereiche anwenden lassen.

Als übergreifende Qualitätsmerkmale identifi-zierte er den individuellen und auf die ganze Person bezogenen Zuschnitt von Dienstleistun-gen und eine Einbeziehung der Adressaten, die geeignet ist, deren Mitwirkungsfähigkeit und -bereitschaft zu stärken und ihr jeweiliges soziales Kapital, z. B. in Form privater Unter-stützungsnetzwerke, einzubeziehen. Mit die-sem Ziel würden Träger aus dem öffentlichen, privaten und gemeinnützigen Sektor stärker als bisher zusammenarbeiten müssen. Darüber hinaus brauche es aber zunehmend auch per-sönliche Fallmanager, die als Advokaten ihren Klienten den Rücken stärken und dafür sorgen, dass jeweils ein passgenaues Bündel an Dienst -leistungen von verschiedenen Institutionen geschnürt werden kann.

Prof. Dr. Bernd Schnieder, Professor für Wohn -ökologie, beleuchtete das Thema Wohnlich-keit und Sicherheit als Gestaltungsaufgabe für Sorgesettings zwischen Wohnung und Institu -tion. Ein Gefühl von Wohnlichkeit und Gebor-genheit herzustellen ist eine Grundbedingung dafür, dass sich versorgungs- und sorgeabhän-gige Personen wohl und heimisch fühlen. Das gilt vor allem für institutionelle Sorgesettings,

denen in der Wohnforschung grundsätzlich die Fähigkeit abgesprochen wird, wohnliche Milieus schaffen zu können. Gegen dieses Prä-judiz sprechen nicht nur traditionelle und mo-derne Heimformen, die Lebensorte sein wollen und sind, sondern auch die Kenntnisse über Wohnlichkeit tragende Eigenschaften der so-zialen Beziehungen, der gebauten Umgebung und der Programmatik von Sorgearbeit. Im Falle von Sorgearbeit wird der Grad zwischen privater Verfügung und institutionell-betriebli-chen Regimes sehr schmal. Das gilt für Institu-tionen, aber auch für Pflege in der eigenen Wohnung.

Den Abschluss des Vormittags gestaltete Prof.

Dr. Dietmar Bräunig, Lehrstuhl für Manage-ment personaler Versorgungsbetriebe. Er ging insbesondere auf die Herausforderung ein, Qualitätsstandards für personenbezogene Dienstleistungen vor dem Hintergrund versor-gungswirtschaftlicher Zwecksetzung bedarfs-gerecht und damit wertorientiert auszugestal-ten. Er plädierte dafür, das herkömmliche Qualitätsmanagement mit Tendenz zur Stan-dardisierung durch ein Versorgungsmanagement mit Tendenz zur Differenzierung abzu -lösen. Qualitätsmanagement begreift er als einen haushaltswissenschaftlichen Ansatz und verweist auf die Notwendigkeit der Herstel-lung einer vernetzten Versorgungsqualität im Verbund der Daseinsvorsorge. Hierbei ist neben der Qualität der erbrachten Leistung die wirtschaftliche Effizienz der Leistungserbrin-gung ein zweiter wichtiger Faktor zur optima-len Bedarfsdeckung. Das Studium der Ökotro-phologie als Versorgungswissenschaft vereint beide Elemente und bietet daher die Grundla-ge zur bedarfsGrundla-gerechten Weiterentwicklung personenbezogener Dienstleistungen.

Nach einem Ortswechsel in die Räume des Instituts diskutierten am Nachmittag unter Leitung von Prof. Dr. Ingrid-Ute Leonhäuser, Professorin für Ernährungsberatung und Ver-braucherverhalten, ein Podium und das Plenum über Haushaltsnahe Dienstleistungen als Arbeitsmarkt mit Zukunft. Zu Gast auf dem Po-dium waren Elisabeth Faber, Inhaberin der Gießener Dienstleistungsagentur Faber Mana-gement, Prof. Dr. Marianne Friese, JLU Gießen,

Der festliche Rahmen, der das inhaltliche Pro-gramm umspannte, wurde durch einen ge-meinsamen Mittagsimbiss und im Anschluss an die Podiumsdiskussion durch ein geselliges Bei-sammensein bei Kaffee und Kuchen geschaf-fen. In Form von Tischreden kamen weitere Gäste zu Wort, die das Werk von und die Zu-sammenarbeit mit Rosemarie von Schweitzer hervorhoben.

Prof. Dr. Birgit Geissler, Universität Bielefeld, und Dr. Elvira Krebs, Verband der Ökotropholo-gen. Das zentrale Thema der Diskussion war die Forderung nach einer Aufwertung und Pro-fessionalisierung haushalts- und personenbe-zogener Dienstleistungen. Diese stellt eine Vor-bedingung für Standortattraktivität und damit die Verbesserung der Lebensqualität verschie-dener Bevölkerungsgruppen dar.

Juliane Scherf