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Pädagogisch-politische Implikationen von Geschlechtsidentität

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Academic year: 2022

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K.8

Identität, Persönlichkeit

Was bin ich? – Pädagogisch-politische Implikationen von Geschlechtsidentität

Nach einer Idee von Anika Waldorf

Seit 2017 ist nicht nur die Ehe für alle erlaubt, neben „männlich” und „weiblich” gibt es nun auch eine dritte Geschlechterangabe im Pass. Das einstmals bipolare Geschlechtermodell, welches in

„Männer“ und „Frauen“ differenzierte, gilt nicht mehr. In dieser Unterrichtseinheit beschäftigen sich die Lernenden mit paradigmatischen Texten zur Geschlechtertheorie und wenden ihre Erkenntnisse auf pädagogische Situationen an.

KOMPETENZPROFIL

Klassenstufe: Jahrgangsstufen 11–13

Kompetenzen: Beschreibung pädagogischer Sachverhalte unter Verwendung der Fachsprache; interdisziplinäre Erarbeitung von komplexen gesell- schaftlichen Zusammenhängen; Vergleich von Theorieansätzen; Er- örterung von Möglichkeiten und Grenzen pädagogischen Handelns Methoden: Textarbeit; Erstellung einer Strukturskizze; Internetrecherche; einen

Comic entwerfen; „Textknacker“-Methode; Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit

Thematische Bereiche: geschlechtsspezifische Rollenbilder; Platons Mythos von den Kugel- menschen; Gender-Marketing; Geschlechtscharakter als Konstrukt;

„sex“ und „gender“; Intersexualität; Transsexualität; „divers“ als

© M. Dörr & M. Frommherz/Fotolia

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Inhaltsverzeichnis

Männlich, weiblich, divers? – Rollenbilder 9

M 1a „Topf sucht Deckel“ – Rollenbilder auf der Singleparty 9

Zwei Hälften eines Ganzen? – Platons Mythos von den Kugelmenschen 10

M 2a Mann und Frau – Zwei Teile eines Ganzen? 10

M 2b Woher rührt unsere Sehnsucht? – Platons Mythos von den Kugelmenschen 11

„Drama Queen“ oder „Bad Boy“? – Die Konstruktion des

Geschlechtscharakters während der Aufklärung 14

M 3a „Feuerwehrsuppe“ und „Prinzessinnenduschgel“ – Geschlechtskonstruktion

beim Gender-Marketing 14

M 3b Vom „schönen“ und vom „tiefen“ Verstand –

Die Konstruktion von Geschlechtscharakteren in der Aufklärung 15

Die Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht – Simone de

Beauvoir: „Das andere Geschlecht“ 17

M 4a Simone de Beauvoir: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es!“ 17

Die Ent-Naturalisierung von „sex“ – Judith Butler und das „Unbehagen

der Geschlechter“ 20

M 5a Judith Butler: „‚Sex‘ ist immer schon ‚gender‘!“ 20

Ethische und politische Implikationen im Hinblick auf Trans- und

Intersexualität 23

M 6a Männlich, weiblich, „anderes“? – Die Diskussion um ein drittes Geschlecht 23

Lernerfolgskontrolle

M 7 Klausurvorschlag: „Mann und Frau sind machtbasierte kulturelle

Konstruktionen“ (Sabine Hark) 26

Lösungen 27 M 1

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K.8 Identität, Persönlichkeit Geschlechtsidentität 3 von 38

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Geschlechtertheorien und deren pädagisch-politische Implikationen

Fachliche Einordung

Der Tagesspiegel feierte das Jahr 2017 als „Gender-Jahr“1. Der Bundestag ebnete den Weg für die Ehe für alle. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass es neben dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht künftig noch einen dritten Geschlechtseintrag im Pass für Intersexuelle geben soll. Facebook bietet seinen Nutzern mittlerweile im Rahmen der Kontoeinrichtung für die Angabe des Geschlechts die Optionen „männlich“, „weiblich“ und „divers“ an. Wer sich für „divers“

entscheidet, kann dann seine Geschlechtsidentität durch Freitext noch genauer definieren.

Die tradierte Ordnung gerät ins Wanken. Das einstmals zweigeteilte Geschlechtermodell, wel- ches nach „männlich“ und „weiblich“ differenzierte, gilt nicht mehr. „Unisex-Toiletten“ und deren genderpolitisch korrekte Beschilderung werden in der Öffentlichkeit diskutiert, in einigen Bundes- ländern steht „sexuelle Vielfalt“ auf dem Lehrplan. Die oft hochemotionalen Reaktionen aus kon- servativen Teilen der Bevölkerung auf solche Themen deutet jedoch darauf hin, dass Geschlechter- diversität noch nicht zum Normalfall geworden ist. Gleichzeitig machen sie deutlich, wie wichtig pädagogische Konzepte und Interventionen zur Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit auch im schulischen Bereich sind.

Interessanterweise sind Geschlechtertheorien kein Phänomen der Neuzeit: Schon seit Platon be- fassen sich Denker mit der Geschlechterordnung und den Konstruktionen von Geschlecht. Zentrale Philosophen der Aufklärungsepoche, beispielsweise Kant und Rousseau, setzten sich jedoch nicht nur mit dem Wesen des Menschen an sich als Kultur- bzw. Naturwesen auseinander. Sie bedienten zugleich zeittypische Klischees über Frauen und Männer. So wirkten sie aktiv an den kulturellen Zuschreibungen spezifischer „Geschlechtscharaktere“ mit. Ihr Interesse an „typischen“ Wesensei- genschaften von Frau und Mann verweist auf ein ambivalentes Verhältnis der Philosophie zur Ge- schlechterfrage.

Das vorrangig von männlichen Philosophen konstruierte Menschenbild wurde erst in dem Mo- ment kritisch hinterfragt, als Philosophinnen wie Simone de Beauvoir in der akademischen Philo- sophie eine Rolle zu spielen begannen. Spätestens als Judith Butler 1991 mit ihrer Untersuchung

„Das Unbehagen der Geschlechter“ das Parkett der feministischen Philosophie betrat, war jedoch klar, dass die Frage nach dem Menschen auch mit der Frage nach dem Geschlecht verwoben ist.

Somit kann die zentrale anthropologische Frage nach Kultur oder Natur auf die Geschlechterfrage erweitert werden: Ist der Unterschied der Geschlechter ein natürlicher oder ein kulturell erzeugter?

Ergänzende Materialien f

Beauvoir de, Simone: Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau. Neuübersetzung. Rein- bek: Rowohlt Verlag, 2000.

Das Standardwerk de Beauvoirs greift auf zahlreiche kultur- wie sozialgeschichtliche Theorien zurück, die von de Beauvoir aus feministischer Perspektive neu interpretiert werden.

f

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991.

Der englischsprachige Titel „Gender Trouble“ verweist präzise auf den Kern von Butlers Aus- führungen. Sie befasst sich mit den Problemen, welche sich aus der Zuschreibung und Repro- duktion von Geschlechterverhältnissen ergeben.

1 Korbik, Julia: „Das Gender-Jahr 2017 im Rückblick: Die Geschlechterordnung hat gewackelt – aber hält.“ Zu finden unter: www.tagesspiegel.de/politik/das-gender-jahr-2017-im-rueckblick-die-geschlechterordnung-hat- gewackelt-aber-haelt/20800540.html (12.07.2019).

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Männlich, weiblich, divers? – Rollenbilder

„Topf sucht Deckel“ – Rollenbilder auf der Singleparty

„Topf sucht Deckel“ – so lautet das Motto einer Berliner Singleparty. Hier findet laut Veranstalter jeder, der sucht, eine neue Flamme beim Speed-Dating.

Arbeitsaufträge

1. Betrachten Sie das Logo, mit dem ein Berliner Veranstalter für seine Single-Party wirbt.

a) Sammeln Sie erste Assoziationen darüber, welche Vorstellungen vom Verhältnis der Ge- schlechter und von Partnerschaft der Redewendung „Topf sucht Deckel“ zugrunde liegen.

b) Tauschen Sie sich anschließend zu zweit über Ihre Ideen aus.

c) Erläutern Sie in Kleingruppen, welche Vorstellungen von Mann und Frau das Logo der Sing- leparty impliziert.

d) Beurteilen Sie, welchen Beitrag die Pädagogik in Bezug auf diese Vorstellungen leisten kann.

© Spreezialisten GmbH

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K.8 Identität, Persönlichkeit Geschlechtsidentität 11 von 38

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Woher rührt unsere Sehnsucht? – Platons Mythos von den Kugelmenschen

Einer der berühmtesten Dialoge des antiken griechischen Philosophen Platon ist das „Symposion“, in deutscher Übersetzung „das Gastmahl“ genannt. Es handelt von einem feierlichen Trinkgelage unter Dichterfreunden, die an diesem Abend sechs verschiedene Lobreden über den Liebesgott Eros halten. Die Redner versuchen darin, das Wesen der Liebe zu ergründen. Der Komödiendichter Aristophanes, der als dritter Redner auftritt, möchte das Paarungsbedürfnis der Menschen und die körperliche Begierde mithilfe eines Gleichnisses erklären.

Arbeitsaufträge

1. Lesen Sie den Text. Charakterisieren Sie die im Gleichnis beschriebenen Kugelmenschen. Be- nennen Sie die unterschiedlichen „Typen“ von Kugelmenschen.

2. Beschreiben und erläutern Sie das Verhältnis der im Mythos beschriebenen Geschlechter zu- einander.

3. Vergleichen Sie die Metapher von „Topf und Deckel“ aus M 1a mit dem im Mythos beschriebe- nen Geschlechterverhältnis.

4. Bilden Sie Vierergruppen. Gestalten Sie gemeinsam den Platonischen Mythos von den Kugel- menschen als Comic. Beachten Sie dafür die Tipps.

In alten Zeiten gab es nämlich drei Ge- schlechter der Menschen, nicht wie jetzt zwei, das männliche und das weibliche, sondern es gab ein drittes, das an beiden Anteil hatte; von ihm ist jetzt nur noch die Bezeichnung übrig, es selbst ist aber verschwunden. Denn es gab damals noch das männlich-weibliche Geschlecht, das dem Aussehen und der Bezeichnung nach aus den beiden anderen Geschlech- tern […] gemeinsam bestand. Jetzt aber existiert es nicht mehr […].

Weiterhin war jeder Mensch von ganz kugelrunder Gestalt, wobei der Rücken und die Seiten einen Kreis bildeten. Jeder hatte vier Arme und genauso viele Beine sowie zwei Gesichter auf einem kreisrun- dem Hals, die einander in jeder Hinsicht ähnlich waren, und einen einzigen Kopf für die beiden in entgegengesetzte Rich- tungen blickenden Gesichter, weiterhin vier Ohren und zwei Geschlechtsteile und auch alles andere so, wie man es sich da- nach wohl vorstellen kann.

Er ging aber auch wie jetzt aufrecht,

zu laufen, eilte er wie die Leute, die Rad schlagen […] schnell im Kreise dahin, wobei er sich auf seine damals acht Gliedmaßen stützte. […] Sie besaßen nun gewaltige Stärke und Kraft, hatten ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und leg- ten sich mit den Göttern an [so]dass sie nämlich versuchten, einen Zugang zum Himmel zu schaffen, um die Götter anzu- greifen.

Zeus und die anderen Götter berat- schlagten nun, was sie mit ihnen anstel- len sollten, und waren ratlos. Denn es kam weder in Frage, sie zu töten […] – so wären ja für die Götter auch die Ehrun- gen und Opfer von Seiten der Menschen verschwunden – noch ihr frevelhaftes Handeln zu dulden. Nach anstrengenden Überlegungen kam Zeus schließlich auf eine Idee und sagte: „Ich glaube, einen Ausweg zu haben, wie einerseits die Menschen weiter existieren können, an- dererseits aber von ihrem Übermut ab- lassen würden, nämlich dadurch, dass sie geschwächt werden. Ich werde sie näm-

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zerschneiden, und sie werden dadurch schwächer werden, aber auch nützlicher für uns, weil sie an Zahl zunehmen.“ […]

Sprach es und schnitt sie auseinander […].

Er befahl Apollon, einem jeden, den er zerschnitten hatte, das Gesicht und die Hälfte des Halses zur Schnittfläche zu drehen, damit der Mensch ständig seine eigene Teilung vor Augen habe und da- durch anständiger sei; das Übrige befahl er zu heilen […].

Nachdem nun ihre ursprüngliche Form auseinandergeschnitten war, sehnte sich eine jede Hälfte nach der ihr zugehörigen anderen und versuchte, mit ihr zusam- menzukommen. Und indem sie sich mit den Armen umfassten und einander um- schlangen, voller Begierde zusammenzu- wachsen, starben sie infolge von Hunger und ihrer sonstigen Untätigkeit, weil sie nicht bereit waren, irgendetwas getrennt voneinander zu tun, und […] so gingen sie zugrunde.

Da aber ergriff Zeus Mitleid. Und er schuf den Menschen einen neuen Aus- weg, indem er ihre Geschlechtsteile an die Vorderseite setzte […] und schuf da- durch die Zeugung durch das Männliche im Weiblichen, damit einerseits, wenn ein Mann auf eine Frau traf, sie in ihrer Vereinigung einen Nachkommen zeug-

ten, andererseits, wenn ein Mann einem Mann begegnete, sie wenigstens in ihrer Vereinigung Befriedigung fänden […].

Seit so langer Zeit also ist den Men- schen das Liebesverlangen zueinander eingepflanzt, führt die ursprüngliche Na- tur zusammen und versucht, eines aus zweien zu machen und die menschliche Natur zu heilen.

Jeder von uns ist daher nur das Halb- stück eines Menschen, weil wir gespalten sind […]. Jeder sucht demnach beständig das ihm entsprechende Gegenstück. Alle Männer also, die ein Halbteil jener Ge- meinschaft sind, die damals Mannweib genannt wurde, sind in die Weiber ver- liebt […]. Alle Weiber dagegen, die Halb- teile von ursprünglichen Weibern sind, wollen mit Männern überhaupt nichts zu schaffen haben, richten vielmehr ihren Sinn auf die Weiber […]. Alle Männer endlich, die Teilstücke eines ursprüng- lichen Mannes sind, gehen dem Männli- chen nach […]. Auf Ehe und Nachkom- menschaft ist ihr Sinn von Natur nicht gerichtet […].

Die Begierde also und das Streben nach dem Ganzen, ist es, was man Liebe nennt. […]

Aus: Platon: Das Gastmahl. Übersetzt und herausgegeben von Thomas Paulsen. Stuttgart:

Reclam Verlag, 2008. S. 29–32.

Info

Platon lebte von ca. 428 bis 348 v. Chr. in Athen. Er war Schüler des Philosophen Sokrates.

In zahlreichen in („sokratischer“) Dialogform verfassten Schriftstücken, den so genannten „platonischen Dialo- gen“, lässt Platon Sokrates als Figur zu Wort kommen. Da Sokrates selbst keine Schriftstücke hinterlassen hat, sind die platonischen Dialoge eine wichtige Hauptquelle über das Leben und die Philosophie des Sokrates.

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© Colourbox

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20 von 38 K.8 Identität, Persönlichkeit Geschlechtsidentität

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Die Ent-Naturalisierung von „sex“ – Judith Butler und das

„Unbehagen der Geschlechter“

Judith Butler: „‚Sex‘ ist immer schon ‚gender‘!“

Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler ist so umstritten wie berühmt. Sie wurde 1956 geboren. Bereits in Teenagerjahren hatte sie ihr Coming-out als Lesbe. Während des Studiums der Philosophie kämpfte sie in einer weiblichen „Guerilla“-Gruppe für mehr Aids-Forschung und de- monstrierte für die Rechte von Homosexuellen. Heute ist Butler Professorin und Leiterin des Rheto- rik-Institutes an der University of California in Berkeley. Immer wieder provoziert sie die Öffentlich- keit, beispielsweise mit der These, dass Mann und Frau Kulturprodukte sind. Geschlecht sei nichts, was wir sind, sondern was wir tun, so Buttler, oder: Heterosexualität sei ein normativer Zwang.

Für Butler ist die Zweiteilung der Menschen in „Mann“ und „Frau“ kulturgemacht. „Reine Natür- lichkeit“ ist ihrer Ansicht nach Fiktion: „Ich bezweifle nicht, dass es Anatomie gibt, aber wir kön- nen sie nur sprachlich deuten.“ Die Aussage, dass Frauen eine Gebärmutter haben, schreibe dem Körper automatisch eine reproduktive Funktion zu. Damit werde es zur gesellschaftlichen Norm erhoben, dass Frauen Kinder bekommen sollten. Mit ihren radikalen Thesen zur philosophischen Geschlechtertheorie ist sie vor allem für die Homosexuellen- und Queer-Bewegung zur Kultfigur geworden.

Arbeitsaufträge:

1. Lesen Sie den Text. Erschließen Sie ihn sich mithilfe der „Textknacker“-Methode.

2. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit Ihrem Partner.

3. Erstellen Sie gemeinsam mit Ihrem Partner eine Strukturskizze, in der Sie das Verhältnis der beiden Kategorien „sex“ und „gender“ nach Butler visualisieren.

Die Zwangsordnung: Geschlecht – Ge- schlechtsidentität – Begehren

Obwohl man oft die unproblemati- sche Einheit der „Frauen“ beschwört, um gleichsam eine Solidargemeinschaft der Identität zu konstruieren, führt die Unter- scheidung zwischen anatomischem „Ge- schlecht“ (sex) und Geschlechtsidentität (gender) eine Spaltung in das feministi- sche Subjekt ein. Ursprünglich erfunden, um die Formel „Biologie ist Schicksal“ an- zufechten, soll diese Unterscheidung das Argument stützen, dass die Geschlechts- identität eine kulturelle Konstruktion ist, unabhängig davon, welche biologische Bestimmtheit dem Geschlecht weiter- hin hartnäckig anhaften mag. Die Ge- schlechtsidentität ist also weder das kausale Resultat des Geschlechts noch

so starr wie scheinbar dieses. Die Unter- scheidung Geschlecht/Geschlechtsiden- tität erlaubt vielmehr, die Geschlechts- identität als vielfältige Interpretation des Geschlechts zu denken, und sie ficht bereits potenziell die Einheit des Subjekts an.

Wenn der Begriff „Geschlechtsidenti- tät“ die kulturellen Bedeutungen bezeich- net, die der sexuell bestimmte Körper (sexed body) annimmt, dann kann man von keiner Geschlechtsidentität behaup- ten, dass sie aus dem biologischen Ge- schlecht folgt. Treiben wir die Unterschei- dung anatomisches Geschlecht/

Geschlechtsidentität bis an ihre logische Grenze, so deutet sie vielmehr auf eine grundlegende Diskontinuität zwischen den sexuell bestimmten Körpern und den

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kulturell bedingten Geschlechtsidentitä- ten hin. Setzen wir für einen Augenblick die Stabilität der sexuellen Binarität (bi- nary sex) voraus, so folgt daraus weder, dass das Konstrukt „Männer“ ausschließ- lich dem männlichen Körper zukommt, noch, dass die Kategorie „Frauen“ nur weibliche Körper meint.

Ferner: Selbst wenn die anatomischen Geschlechter (sexes) in ihrer Morpho- logie und biologischen Konstitution un- problematisch als binär erscheinen (was noch die Frage sein wird), gibt es keinen Grund zur Annahme, dass es ebenfalls bei zwei Geschlechtsidentitäten bleiben muss. Die Annahme einer Binarität der Geschlechtsidentitäten wird implizit da- rüber hinaus von dem Glauben an ein mimetisches Verhältnis zwischen der Geschlechtsidentität und dem Geschlecht geprägt, wobei jene dieses widerspiegelt oder anderweitig von ihm eingeschränkt wird. Wenn wir jedoch den kulturell be- dingten Status der Geschlechtsidentität als radikal unabhängig vom biologischen Geschlecht denken, wird die Geschlechts- identität selbst zu einem frei schweben- den Artefakt. Die Begriffe Mann und männlich können dann ebenso einfach einen männlichen und einen weiblichen Körper bezeichnen wie umgekehrt die Kategorien Frau und weiblich.

Diese radikale Spaltung des geschlecht- lich bestimmten Subjekts (gendered sub- ject) wirft freilich eine Reihe von Fragen auf: Können wir noch von einem „gegebe- nen“ Geschlecht oder von einer „gegebe-

nen“ Geschlechtsidentität sprechen, ohne wenigstens zu untersuchen, wie, d. h.

durch welche Mittel, das Geschlecht oder die Geschlechtsidentität gegeben sind?

Und was bedeutet der Begriff „Ge- schlecht“ überhaupt? […] Werden die angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts nicht in Wirklichkeit diskur- siv produziert, nämlich durch verschie- dene wissenschaftliche Diskurse1, die im Dienste anderer politischer und ge- sellschaftlicher Interessen stehen? Wenn man den unveränderlichen Charakter des Geschlechts bestreitet, erweist sich dieses Konstrukt namens „Geschlecht“ vielleicht als ebenso kulturell hervorgebracht wie die Geschlechtsidentität.

Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so dass sich heraus- stellt, dass die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letzt- lich gar keine Unterscheidung ist. […] Die Geschlechtsidentität umfasst auch jene diskursiven/kulturellen Mittel, durch die eine „geschlechtliche Natur“ oder ein „na- türliches Geschlecht“ als „vordiskursiv“, d. h. als der Natur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche, auf der sich die Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird. […]

Tatsächlich wird sich zeigen, dass das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) ge- wesen ist.

Aus: Judith Butler: Das Unbehagen der Ge- schlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991. S. 22–26.

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1 „Diskurs“ als philosophischer Begriff = Als Diskurs kann eine Verkettung von Aussagen verstanden werden, die in einem bestimmten kulturellen Raum zu einer bestimmten Zeit eine Ordnung erzeugen, welche unser Denken über die Wirklichkeit und bestimmte soziale Umstände strukturiert und bestimmt. So ist es ein Resultat des Diskurses, was wir beispielsweise als „normal“, als „gesund“, als „weiblich“ empfinden. Eine bestimmte Richtung der Philosophie, die Diskursanalyse, versucht, die dem Denken zugrunde liegenden Diskurse zu analysieren und sichtbar zu machen.

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Tipp

Die „Textknacker“-Methode zum Erschließen komplexer Texte – Markieren Sie Schlüsselbegriffe!

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Lesen Sie den Text.

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Markieren Sie dabei Schlüsselbegriffe. Schlüsselbegriffe sind Wörter, die das Verständnis des Textes „aufschließen“.

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Notieren Sie diese Begriffe!

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Vergleichen Sie in der Gruppe die von Ihnen notierten Begriffe. Klären Sie deren Bedeutung und wenn möglich auch den Zusammenhang, in dem sie stehen.

– Klären Sie unbekannte Wörter!

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Markieren Sie Ihnen unbekannte Wörter. Klären Sie deren Bedeutung.

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Manche Wörter werden in einer Fußnote erläutert. Lesen Sie diese.

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Manche Wörter, beispielsweise das Wort „etablieren“, lassen sich mithilfe eines Fremd- wörter-Dudens und/oder eines Schülerlexikons klären.

– Gliedern Sie den Text in Sinnabschnitte!

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Prüfen Sie, in wie viele und in welche Sinnabschnitte der Text sich gliedern lässt. Versehen Sie die einzelnen Sinnabschnitte mit passenden Überschriften.

f

Vergleichen Sie die gefundenen Überschriften mit Ihrem Partner. Einigen Sie sich auf jeweils eine Überschrift. Notieren Sie diese mit Zeilenangaben.

– Formulieren Sie Fragen an den Text, die dieser beantwortet!

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Erstellen Sie eine Tabelle, in der Sie die Überschriften der zuvor ermittelten Sinnabschnitte eintragen.

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Welche Fragen versucht die Autorin zu beantworten? Notieren Sie jeweils die Fragen und die Antwort, welche die Autorin darauf gibt, in den weiteren Spalten.

Zeilen- angabe

Überschrift (des Sinnabschnitts)

Fragen, die der Ab- schnitt beantwortet

Die Antwort auf die Frage

Z. 1–24

– Ermitteln Sie die Hauptthese(n) des Textes!

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Welche Thesen stellt die Autorin auf? Gegen welche Thesen wendet sie sich? Wie begründet sie ihre Thesen?

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Versuchen Sie, Thesen und Argumente zu unterscheiden. Schreiben Sie beides auf!

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