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Archiv "Kriminalität von Kindern: Von den Grenzen der Freiheit" (26.11.2010)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 47

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26. November 2010 A 2319

KOMMENTAR

Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt, Kinder- und Jugendlichen psychotherapeut

E

s muss in Deutschland immer erst etwas Schlimmes passie- ren, bevor gesellschaftliche Miseren und Versäumnisse in das Bewusstsein der Öffentlichkeit treten. Damit ist nicht die Tragödie von Duisburg gemeint, ob- wohl auch sie ein gutes Beispiel wäre für das Versagen von Personen oder Institutionen, die ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind.

Der Suizid des Fußballidols Robert Enke hat die Öffentlichkeit auf ein Tabu aufmerksam gemacht, das seelische

Krankheiten betrifft, die verborgen und verschwiegen werden und die das Le- ben zahlreicher Menschen aller Alters- stufen nachhaltig beeinträchtigen. Im Fall Enke ging es um eine depressive Störung, die ihn in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit und Resignation ver- setzte, aus der er keinen anderen Aus- weg sah, als sich das Leben zu neh- men. Dabei kann man heute depressive Störungen erfolgreich behandeln und auch weiteren depressiven Episoden vorbeugen, sofern man auf sie recht- zeitig aufmerksam wird und die Betrof- fenen den Mut haben, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen. Bei Enke war die depressive Erkrankung ihm selbst und seiner Familie bekannt, er konnte sich aber nicht entschließen, sich in ei- ne stationäre Behandlung zu begeben, die im Fall extremer Suizidgefährdung die einzige wirksame Maßnahme ist.

Der behandelnde Arzt hatte offenbar nicht den Mut, ihn gegen seinen Willen nach richterlicher Entscheidung in eine psychiatrische Klinik einzuweisen.

Enkes Suizid hatte mindestens zweierlei Folgen: eine tragische und ei- ne hoffnungsvolle. Die tragische war, dass es nach seinem Tod zu einem si - gnifikanten Anstieg der Eisenbahnsuizi- de kam. Die hoffnungsvolle ist, dass viele Menschen, die an Depressionen leiden, den Mut gefunden haben, sich

zu ihrer Krankheit zu bekennen und ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Auch der Suizid der Berliner Ju- gendrichterin Kirsten Heisig hat in der breiten Öffentlichkeit Bestürzung aus- gelöst. Über die Motive ist Außenste- henden nichts Näheres bekannt, auch nicht, ob ein direkter Zusammenhang zwischen ihrer beruflichen Tätigkeit und dem Suizid besteht. Aber es ist wohl nicht zu bestreiten, dass es sich um eine Verzweiflungstat gehandelt ha- ben muss. Kirsten Heisig hat seit Jah-

ren, mehr oder weniger erfolglos, auf ein gravierendes gesellschaftliches Problem aufmerksam gemacht, über das die Verantwortlichen hinwegsehen:

die Kriminalität strafunmündiger Kinder.

Sie schwänzen die Schule, sie schla- gen, stehlen, rauben und dealen und werden häufig von älteren Jugendli- chen und Erwachsenen in die Welt der Kriminalität eingeführt und zu Strafta- ten regelrecht angeleitet. Unter ihnen sind viele, die einen Migrationshinter- grund haben und in Stadtteilen woh- nen, die kein Polizeibeamter allein zu betreten wagt.

Die Jugendhilfe ist ebenso ratlos wie die Eltern und Lehrer, bringt die Kinder gelegentlich in offene Heime, aus denen sie umgehend entweichen, oder schickt sie auf Erlebnisreisen, de- ren Wirksamkeit zweifelhaft ist. An- sonsten wartet man, bis sie das 14.

Lebensjahr vollendet haben, denn dann ist erst einmal die Unterbringung in der Untersuchungshaft möglich und auch die Verhängung einer Jugendstrafe. In den Jugendstrafanstalten soll dann pädagogisch nachgeholt werden, was in jüngeren Jahren versäumt wurde, häufig ist dies aber zu spät.

Die beiden auf den ersten Blick so verschiedenen Tragödien um Enke und Heisig haben eines gemeinsam: Es ist die Scheu der Verantwortlichen, in die

individuelle Freiheit einzugreifen, um Schlimmeres zu verhindern. Ganz si- cher lassen sich viele Straftaten von Kindern verhindern, wenn jene kleine Gruppe, die für die große Mehrzahl der Straftaten ihrer Altersgruppe verant- wortlich ist, unter geschlossenen Be- dingungen erzogen und gefördert wür- de. Aber es ist hierzulande politisch nicht korrekt, diese Forderung zu erhe- ben, und wer dies tut, wird umgehend in die rechte Ecke gestellt. Dabei ist bei jenen, die diese Zustände kennen, die

Einsicht vorhanden, dass die Begren- zung von Freiheit, vor allem bei so ge- fährdeten jungen Menschen, manch- mal notwendig ist. Sie wird aber allen- falls in Einzelgesprächen geäußert, und sobald man sich in der Gruppe befindet, als unnötig und ewiggestrig abgetan.

Dies ist kein Plädoyer dafür, die Re- publik mit einem Netz geschlossener Heime zu überziehen. Es geht aber dar - um, in jedem Bundesland die Möglich- keit zu haben, jene kleine Gruppe von Kindern, die gefährdet sind, Langzeitin- tensivtäter zu werden, zu erziehen und zu resozialisieren. Dass in einigen Ein- richtungen auch körperliche und sexu- elle Misshandlungen vorgekommen sind, ist dabei kein Gegenargument.

Die meisten dieser traurigen Ereignisse finden in den Familien statt.

Einschränkungen der individuellen Freiheit sind auch in einem demokrati- schen Rechtsstaat manchmal notwen- dig: bei Kindern, wenn sie noch nicht begreifen, was sie mit ihren Handlun- gen für andere und auch für sich selbst bewirken, bei suizidalen Erwachsenen, wenn ihre Einsichts- und Handlungsfä- higkeit krankheitsbedingt, in aller Regel vorübergehend, eingeschränkt ist.

Die Suizide von Enke und Heisig ha- ben allenthalben große Betroffenheit ausgelöst, es darf aber nicht bei ihr bleiben.

KRIMINALITÄT VON KINDERN

Von den Grenzen der Freiheit

P O L I T I K

Referenzen

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