P O L I T I K
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A3148 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4719. November 2004
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ritischem Eigensinn und Verhand- lungsgeschick ist es zu verdanken, dass das Vereinigte Königreich vor elf Jahren bei der Ausarbeitung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie einen Passus aushandelte, der es Arbeitgebern erlaubt, mit einem Arbeitnehmer ein Ab- weichen von der wöchentlichen Höchst- arbeitszeit von 48 Stunden zu verein- baren. Relevanz hat diese „opt-out“- Regel vor allem für den Kranken- hausbereich, den Rettungsdienst, Feuer- wehren oder Wachdienste. Zwar gilt die Bestimmung grundsätzlich für alle EU-Staaten. Dennoch hat das Vereinigte Königreich bislang als einziges Land von der Möglichkeit des individuellen „opt- out“ vor allem im Gesundheitswesen in großem Stil Gebrauch gemacht. Dann kamen der 3. Oktober 2000 und der 9.September 2003,an denen der Europäi- sche Gerichtshof seine Urteile zur Defi- nition der Arbeitszeit und des Bereit- schaftsdienstes fällte. Plötzlich erkannten auch andere europäische Länder den Nutzen des „opt-out“ zur Arbeitszeit- regelung bei knapper Personaldecke.Negative Erfahrungen
Auch der deutsche Gesetzgeber schaffte daraufhin mit der jüngsten Novelle des Arbeitszeitgesetzes die Voraussetzungen für individuelle Arbeitszeitverlängerun- gen in Krankenhäusern. Gleiches gilt für die Niederlande und Spanien. Frankreich hat seine Verwaltungsvorschriften für Kliniken seit Anfang letzten Jahres da- hingehend geändert, dass Arbeitnehmer gegen einen zeitlichen oder finanziellen Ausgleich über die gewöhnliche Wo- chenarbeitszeit hinaus Überstunden lei- sten können. In einigen der neuen Mit- gliedstaaten wie Malta, Zypern und Slo-
wenien ist das „opt-out“ bereits in inner- staatliches Recht eingearbeitet. Estland, Lettland, Litauen und Ungarn erwägen entsprechende Maßnahmen.
Um zu verhindern, dass die „opt-out“- Regelung den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer am Arbeitplatz gefährdet, hatte die EU-Kommission seinerzeit je- doch konkrete Bedingungen für derarti- ge Vereinbarungen vorgeschrieben: So soll ein Arbeitnehmer keine Nachteile erleiden dürfen, wenn er sich nicht zu ei- ner Verlängerung der Arbeitszeit bereit erklärt. Zudem ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, Listen über die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden derjenigen Ärzte zu führen, die vom „opt-out“ Ge- brauch machen. Die Erfahrungen in Großbritannien haben aber gezeigt, dass es viele Kliniken hiermit nicht immer so genau nehmen. „Die Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer werden nicht ordnungsgemäß ange- wandt“, kritisierte EU-Sozialkommissa- rin Anna Diamantopoulou Anfang des Jahres zum Auftakt der Beratungen über eine neue Richtlinie. In ihrem Bericht hatte die EU-Kommission insbesondere die Besorgnis geäußert, dass Arbeitneh- mer dazu gezwungen würden, gleichzei- tig mit ihrem Arbeitsvertrag auch die
„opt-out“-Vereinbarung zu unterzeich- nen. In Großbritannien sei dies üblich.
Zudem bestanden Zweifel an der ord- nungsgemäßen Führung der Arbeitszeit- listen. Dies und die Übernahme der indi- viduellen „opt-out“-Regelung in die na- tionale Gesetzgebung anderer Mitglied- staaten haben die EU- Kommission dazu bewogen, der Problematik bei der Über- arbeitung der Richtlinie besondere Auf- merksamkeit zu schenken.
Nach kontroversen Debatten hatte das Europäische Parlament (EP) im Fe- bruar 2004 sogar eine schrittweise Ab-
schaffung der Ausnahmeregelung gefor- dert. „Die Möglichkeit, von der durch- schnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit durch die […] Technik des ,opt-out‘ abzu- weichen, kann […] nicht länger als Mittel zur Flexibilisierung gerechtfertigt wer- den, sondern spiegelt lediglich die prinzi- pielle Forderung nach Abschaffung jegli- cher Vorschriften in Bezug auf die Ar- beitszeit wider“, hatten die Mitglieder des EP-Beschäftigungsausschusses im Vorfeld des Beschlusses moniert. Nach Ansicht des EP wäre jede andere Lösung dem individuellen „opt-out“ vorzuzie- hen – in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen, die seine unterschiedslo- se Nutzung auf den Gesundheitsschutz hat. An die Mitgliedstaaten appellierten die Abgeordneten, die Ausnahmerege- lung nicht auszuweiten, bis eine revidier- te Fassung der Richtlinie vorliegt.
Missbrauch eindämmen
In ihrem Mitte September präsentierten Vorschlag für eine Änderung der Richtli- nie hat die EU-Kommission versucht, ei- nen Kompromiss zu finden, um den Miss- brauch des „opt-out“ einzudämmen, gleichzeitig aber weiterhin Ausnahmere- gelungen zuzulassen. Künftig soll eine Abweichung von der höchstzulässigen Wochenarbeitszeit nur auf einer tarifver- traglichen Grundlage gestattet sein. Eine individuelle Ausnahmeregelung ist nur noch zulässig, wenn es keine solche Ver- einbarung gibt oder das Krankenhaus keine Arbeitnehmervertretung hat. Der Europäische Rat hat sein Einverständnis mit dem Kommissionsvorschlag signali- siert. Noch hat aber auch das neu gewähl- te Parlament ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.Wie das entscheiden wird, ist
offen. Petra Spielberg