T H E M E N D E R Z E I T
A
A1650 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 2310. Juni 2005
S
chleichend vollzieht sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ein Wandel im ärztlichen Tun. Der Arzt wechselt seinen Arbeitsplatz immer mehr vom Krankenbett zum Bürocom- puter; er hat das Stethoskop seltener in der Hand als die Maus; er legt seine Hände häufiger auf Gerätetastaturen als auf den Bauch des Patienten. Ange- sichts dieses Wandels und angesichts ei- ner hoch entwickelten apparativen Dia- gnostik drängt sich die Frage auf, ob die bewährten klinischen Methoden verlo- ren gehen (1). Diese Sorge ist nicht un- berechtigt, der klinische Alltag nährt sie zunehmend.Selbstverständlich gibt die apparati- ve Untersuchung eine höhere Sicher- heit auf dem Weg zur Diagnose.Aber es ist die kritische Gesamtschau der klini- schen und apparativen Daten, die die Diagnose sichert (2). Befund ist nicht gleich Diagnose, eine mühsam gewon- nene Erkenntnis gegen Mitte des 19.
Jahrhunderts (3). Immer muss der län- gere mühsamere Weg zur Diagnose be- schritten werden: Anamnese, körperli- che Untersuchung, Bed-side-Tests, ap- parative Untersuchungen, begleitet von einem geistigen Prozess, der Daten er- schließt und ausschließt.
Auf diesem Weg sind Anamnese und körperliche Untersuchung unerlässlich.
Die Ausbildung des Medizinstudierenden in diesen Methoden ist unverzichtbar (4). Wie denn soll der Hausarzt bei ei- nem Krankenbesuch seine Diagnose stellen? Ein Pantechnikon im Taschen- format ist zurzeit nicht vorstellbar. Wie soll der aufnehmende Arzt im Kran- kenhaus sinnvolle apparative Untersu- chungen anfordern? Wie soll der Not- arzt im Einsatz die Krankheit oder Störung erkennen, wenn nicht mithilfe von Anamnese und körperlicher Unter- suchung? Selbstverständlich muss sich die Wertigkeit der klinischen Diagno- stik immer wieder behaupten (5). Die
apparative Diagnostik muss es ebenso.
Klinische Diagnosen werden nicht „er- ahnt“, sondern durch die erlernbare Technik der Anamnese und der körper- lichen Untersuchung und einen nach- folgenden geistigen Prozess abgegrenzt und festgelegt. Die körperliche Untersu- chung erhebt Befunde – und nicht mehr.
Bedenkt man die zusätzliche Sicherheit der Methode aufgrund wiederholter Untersuchungen durch denselben Arzt und außerdem aufgrund der Befund- erhebung durch zwei verschiedene Ärzte, die anschließend ihre Ergebnisse ver- gleichen, so lässt sich feststellen, dass der Weg ärztlichen Erkennens damit fast ei- ne naturwissenschaftliche Objektivität erreicht. Daran dürfte auch deutlich wer- den, dass der Wahrnehmung des Arztes die wissenschaftliche Legitimität nicht erst dort zuerkannt werden darf, wo sie zum Ablesen eines Messinstrumentes benutzt wird (6).
Grundlegend ist die genaue und ver- gleichende Erhebung der Einzelbefun- de. Das Untersuchungsergebnis führt unter Reflexion auf Wissen und Erfah- rung des Arztes zur Diagnose. Stellt man einen unterschiedlichen Wissens- und
Erfahrungsstand verschiedener Ärzte in Rechnung, so wird klar, dass die Dia- gnose als Entscheidung nach Prüfung und Abwägung einem größeren subjek- tiven Schwankungsbereich unterliegt als der Befund selbst (7). Was aber lässt die körperliche Untersuchung nach wie vor hinter der naturwissenschaftlichen Exaktheit zurückbleiben?
Es sind folgende Eigenheiten:
die indirekte Methodik: Nie ist das zu untersuchende anatomische Substrat den Sinnen direkt zugänglich. Daher ist auch ein genau quantifizierendes Maßnehmen meist nicht möglich.
die unvorhersehbare Schwankungs- breite des Normalen wie des Patho- logischen; das gilt für Struktur, Form und Lage von Organen eben- so wie für ihre Funktion;
die relative Ungenauigkeit, die jeder Beschreibung anhaftet (8), ob es sich nun um die Größe, Form, Oberfläche und Konsistenz eines Organs han- delt oder um die Lautstärke oder den Charakter eines Geräusches;
das unterschiedliche Erfahrungs- wissen und
die unterschiedliche Erkenntnis- fähigkeit des Untersuchenden.
Diese Einflüsse haften natürlich auch den Befunden von Röntgenbil- dern (9) und Elektrokardiogrammen an. Auch Laborwerte besitzen aus ver- schiedenen Ursachen eine Schwan- kungsbreite. Spätestens seit dem Werk Skodas (10) hat sich der Traum vieler französischer Kliniker des beginnenden
Die körperliche Untersuchung
Fundament in Gefahr
Die klinischen Untersuchungsmethoden sollten die gemeinsame Grundlage für alle Ärzte bleiben.
Der Perkussionshammer findet Eingang in die Neurologie; W. R. Gowers, Diagno- stik der Rückenmarkskrankheiten, Wien 1885.
T H E M E N D E R Z E I T
A
A1652 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 2310. Juni 2005
19. Jahrhunderts aufgelöst, je- des Organ habe seinen spezifi- schen auskultatorischen und perkutorischen Ton, zu erken- nen wie die Wachtel an ihrem Schlag oder der Kuckuck an seinem Ruf (11). Selten sind die klinischen Zeichen eindeutig, pathognomonisch.
Nur bei den „äußeren“
Krankheiten, wie im Bereich der Chirurgie, der Dermatologie oder der Infektionskrankheiten, liegen Befund und Diagnose eng beieinander. Bei den „inneren“
Krankheiten aber ist ein sehr voraussetzungsreiches Denken, ein Vergleichen, Zuordnen, Aus- schließen, Neuordnen notwen- dig, um vom Befund zur Diagno- se zu gelangen (12).
Mit ausgebildeten Sinnen kann zum Beispiel ein Befund richtig erhoben werden, die Diagnose aber bei fehlender Erfahrung und fehlendem Wissen um die Patholo- gie falsch sein. Entsprechend wichtig ist die Vermeidung diagnostischer Inhalte bei der Befundbeschreibung, zum Bei- spiel ein bronchitisches, ein asthmati- sches, ein pneumonisches Rassel- geräusch, ein febriler Puls, eine biliäre Hautfarbe und so weiter. Bis heute ist diese Forderung G. L. Bayles (13) in vollem Umfang gültig.
Worin liegt nun der Vorteil der Unter- suchung durch Hand, Auge und Ohr, der diese Methoden überleben ließ?
Einige wichtige Vorzüge sind:
>zeitliche und örtliche Unabhängig- keit, das heißt Einsatzfähigkeit an jedem Ort und zu jeder Stunde,
>geringe Störanfälligkeit,
>risikolose Anwendung ohne Kontra- indikationen,
>kostengünstige, wirtschaftliche Aus- übung,
>Patientennähe der Methode, die auch eine Art der Kontaktaufnahme darstellt, Interaktion hervorruft und einen fundamentalen Zugang zu Körper und Seele des Patienten be- inhaltet (14),
>Unmittelbarkeit, rasche Ergebnisse.
Auf dem Weg zur Diagnose kommen Anamnese und körperlicher Untersu- chung nicht nur die Aufgabe der Wei-
chenstellung für den nachfolgenden Einsatz technischen Gerätes zu, son- dern beide müssen am Ende dieses Weges, wenn die Befunde der apparati- ven Untersuchungen bei dem Arzt am Krankenbett zusammenlaufen, zur Kontrolle erneut genutzt werden, um zu prüfen, ob Klinik und apparativer Befund tatsächlich in Einklang stehen oder einander widersprechen. Diese Kontrolle kann nur erfolgen, wenn von Anfang an sorgfältig untersucht wurde, andernfalls muss eine zwanghafte Ab- hängigkeit von Apparatur und techni- schem Gerät in Kauf genommen wer- den. Wenn die Technik des Fragens, des Tastens, Sehens und Horchens ausge- bildet ist, dann wird der Arzt der scheinbaren Unbestechlichkeit des ap- parativen Befundes als freier Mann ge- genüberstehen.
Vor 200 Jahren wurde in Pilsen der spätere Wiener Kliniker J. Skoda (1805 bis 1881) geboren. Er veröffentlichte 1839 eine in ihren Grundzügen noch heute gültige Theorie der Perkussion und Auskultation (15). Ebenfalls vor 200 Jahren wurde der spätere Jenenser Pro- fessor A. Siebert (1805 bis 1855) gebo- ren. Er veröffentlichte 1844 bis 1855 sei- ne „Technik der medicinischen Diagno- stik“ (16), eines der ersten umfassenden Werke zur modernen körperlichen Un- tersuchung in deutscher Sprache.
Vor 250 Jahren wurde J. N.
Corvisat (1755 bis 1821), Leib- arzt Napoleons I., geboren. Er formulierte als Erster, im Vor- wort zu seinem Werk „Essai sur les maladies et les lésions organiques du cœur et des gros vaisseaux“ (17), den Wunsch, alle Krankheiten durch klinische Zeichen schon am Lebenden zu diagnostizie- ren und in einem Buch mit dem Titel: „De sedibus et causis morborum per signa diagnostica investigatis et per anatomen confirmatis“ nieder- zuschreiben. Die Geburtsstun- de des Internisten war hiermit ausgerufen.
Das Gedenken und der Rückblick auf 200 bezie- hungsweise 250 Jahre waren Anlass zum Abfassen der vor- angegangenen Zeilen. In einer eigenen Untersuchung (18) konnte festgestellt werden, dass der größte Teil der fast 200 Jahre alten, so ge- nannten modernen körperlichen Un- tersuchungsmethoden – kritische In- spektion, gezielte Palpation (19), Per- kussion und Auskultation – der Zeit standgehalten hat. Dem gegenüber steht der Alterungsprozess, dem die apparative Diagnostik unterliegt – im- mer wieder kommt das Neue, das tech- nisch Verbesserte.
Aber nicht nur das technisch Mögli- che, sondern auch Kosten und Wirt- schaftlichkeit werden über die apparati- ve Diagnostik der Zukunft entscheiden.
Es bleibt abzuwarten, wie sich der Ein- fluss apparativer Verfahren weiterhin auf die klinische Untersuchung aus- wirkt, denn der historische Prozess, in dem beide nicht unbedingt Rivalen sein müssen, ist bis zum heutigen Tag nicht abgeschlossen. Die apparative Diagno- stik braucht Spezialisten und Subspezia- listen. Die klinischen Untersuchungs- methoden aber sollten die gemeinsame Grundlage für alle Ärzte bleiben.
Dr. med. Christian Thomsen Ilkeston Community Hospital, Großbritannien Die Lehrtafeln veranschaulichen „Die methodische Intestinal-
palpation“ nach T. Hausmann, Berlin 1910.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das im Internet unter www.aerzteblatt.de/
lit2205 abrufbar ist.
Literatur
1. Reng CM, Konrad S, Schölmerich J: Die Kunst der kli- nischen Untersuchung. Ärztliches Können aus Traditi- on oder historischer Ballast. Med. Klin. 2003; 98:
672–678.
2. Sackett DL, Rennie D: The science of the art of the cli- nical examination. JAMA 1992; 267: 2650–2652.
3. Lesky E: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahr- hundert. Graz, Köln 1978, 2.Auflage; 143–144.
4. Seegal D, Wertheim AR: On the failure to supervise students' performance of complete physical exami- nations. JAMA 1062; 180: 476.
5. Vergl. die Serie „The Rational Clinical Examination“.
JAMA 1992.
6. Lorenz K: Gestaltwahrnehmung als Quelle wissen- schaftlicher Erkenntnis. Z exp Angew Psychol 1959;
6: 118–165.
7. Lippross O: Medizin und Heilerfolg. Frankfurt am Main, Hamburg 1971; 57–58.
8. Rousseau JJ: Emile oder Über die Erziehung. Heraus- gegeben von M. Rang, unter Mitarbeit des Herausge- bers aus dem Französischen übertragen von E.
Schkommodau. Stuttgart 1978; 556.
9. Leitartikel ohne Verfasserangabe. Observer Error.
Lancet 1954; I: 87–88.
10. Skoda J: Abhandlung über Perkussion und Auskulta- tion Wien 1839.
11. Lesky E: Perkussion und Auskultation, Wege ärztli- chen Erkennens. In: Documenta Geigy: Zur Geschich- te diagnostischer Methoden. Basel 1970, Heft I und II; 26.
12. Lesky E: op. cit.1970; 27.
13. Bayle GL: Considérations sur la nosologie, la médici- ne d'observation et la médicine pratique ; suivies de l’histoire d'une maladie gangréneuse non décrite jusqu’à ce jour. Paris 1802 (Thèse), Nachdruck Paris 1855; 510.
14. Anschütz: Spüren geht über Studieren. Editorial, Leit- thema: Die körperliche Untersuchung. Diagnostik 1986; 19: 14.
15. Skoda J: op. cit, 1839.
16. Siebert A: Technik der medicinischen Diagnostik, Bd.
I–III. Erlangen 1844–1855.
17. Corvisart JN: Essai sur les maladies et les lésions or- ganiques du coeur et des gros vaisseaux. Paris 1811, 2.Aufl.
18. Thomsen C: Die körperliche Untersuchung nach PI- orry, Siebert, Skoda. Ein medizinhistorischer Ver- gleich mit der Gegenwart. Hamburg 1982 (Dissertati- on).
19. Michler M.: Die Hand als Werkzeug des Arztes.
Beiträge zur Geschichte der Wissenschaft und der Technik, Heft 12, Wiesbaden 1972.
T H E M E N D E R Z E I T
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 23⏐⏐10. Juni 2005 AA1
Literaturverzeichnis Heft 23/2005
Die körperliche Untersuchung
Fundament in Gefahr
Die klinischen Untersuchungsmethoden sollten die gemeinsa- me Grundlage für alle Ärzte bleiben.
Christian Thomsen