• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Die psychiatrisch-neurologische Begutachtung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen" (31.10.1974)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Die psychiatrisch-neurologische Begutachtung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen" (31.10.1974)"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KOMPENDIUM

Die psychiatrisch-neurologische Begutachtung der Eignung

zum Führen von Kraftfahrzeugen

Herbert Lewrenz

Aus dem Medizinisch-Psychologischen Institut (Leiter: Professor Dr. med. Herbert Lewrenz)

des Technischen Überwachungs-Vereins Norddeutschland e. V.

Gegenüber der praktisch be- deutsameren Stellenwertver- teilung gefährlicher Krank- heitszustände wird in der Be- gutachtung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen die klinisch-diagnostische Systematologie als zweitran- gig angesehen. Das wird be- sonders im psychiatrisch- neurologischen Bereich deutlich. Ob die psychisch vielfach Auffälligen tatsäch- lich überproportional an Un- fällen im Straßenverkehr be- teiligt sind, ist noch nicht er- wiesen.

Zur Thematik ist in den letzten 20 Jahren eine umfangreiche Literatur entstanden, in der viele Standpunk- te vertreten und diskutiert wurden.

Es erschien darum geboten, für die Praxis der ärztlichen Sachverstän- digen, aber auch für die entschei- denden Behörden die zu einzel- nen Problembereichen herrschende Meinung darzustellen, soweit mög- lich, Normen aufzuzeigen, Beurtei- lungsaspekte zu formulieren sowie auf noch ungeklärte Fragen hinzu- weisen.

Dieser Aufgabe unterzog sich der Gemeinsame Beirat für Verkehrs- medizin beim Bundesminister für Verkehr und beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- heit in einem Gutachten „Krankheit und Kraftverkehr".

Grundsätzlich wurde in diesem Gutachten die klinisch-diagnosti- sche Systematologie als zweitran- gig gegenüber einer praktisch be- deutsameren Stellenwertverteilung gefährlicher Krankheitszustände angesehen. Das wird besonders im psychiatrisch-neurologischen Be- reich deutlich. Die Verfasser ver- zichteten bewußt auf jede diagno- stische Klassifizierung nach psy- chotischen Formenkreisen. Gefahr für die Sicherheit des Straßenver- kehrs geht von einer Reihe be- stimmter akuter, subakuter und chronischer psychotischer Krank-

heitserscheinungen aus, unabhän- gig davon, ob sie sich im Zusam- menhang mit einem Leiden des zy- klothymen oder des schizophrenen Formenkreises entwickeln.

Schließlich bemühte man sich um eine Liberalisierung der Beurtei- lung bei psychischen Erkrankun- gen und Auffälligkeiten. Das führte zu einer Auflockerung bisher prak- tizierter Beurteilungsmaßstäbe.

In diesem Zusammenhang wurde vor allem berücksichtigt, daß eine Erlaubnis zum Führen von Kraft- fahrzeugen in der Bundesrepublik Deutschland nur versagt oder ent- zogen werden kann, wenn die nahe auf Tatsachen beruhende Wahr- scheinlichkeit des Eintritts eines Schädigungsereignisses (Gefähr- dung) erwiesen ist. Dieser Sach- verhalt wurde als gegeben angese- hen, wenn

a) von einem Kraftfahrer nach dem Grad der festgestellten Beeinträch- tigung der körperlichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit zu er- warten ist, daß die Anforderungen zum Führen eines Kraftfahrzeuges

— zu denen auch die Beherr- schung von Belastungssituationen gehört — nicht mehr bewältigt werden können,

b) von einem Kraftfahrer in einem absehbaren Zeitraum die Gefahr des plötzlichen Versagens der kör-

perlichen oder geistigen Leistungs- fähigkeit (zum Beispiel hirnorgani- sche Anfälle, apoplektische Insulte, anfallsartige Schwindelzustände und Schockzustände, Bewußtseins- trübungen oder Bewußtseinsver- lust) zu erwarten ist.

Leitsätze für die

praktische Begutachtungstätigkeit Unter Beachtung dieser Grundsät- ze kam es zu eingehend begründe- ten Leitsätzen für die praktische Begutachtungstätigkeit, aus denen im folgenden für den psychiatrisch- neurologischen Bereich eine Über- sicht zusammengestellt wurde.

Erkrankungen von Gehirn, Rückenmark

und neuromuskulärer Peripherie I. Keine Eignung zum Führen von Fahrzeugen aller Klassen besteht bei Personen mit

O epileptischen Anfällen, anfalls- artigen Bewußtseinsstörungen, an- derer Ursache, anfallsartiger Be- einträchtigung der Motorik,

O akuten oder subakuten zentral- neurologischen Ausfällen (Lähmun- gen, Aphasie, Gesichtsfeldausfäl- len).

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 44 vom 31. Oktober 1974 3169

(2)

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen

Gleiches gilt für Patienten, wenn Schwere und Art des Befundes es erfordern, und zwar bei

O chronischem hirnorganischen Psychosyndrom oder hirnorgani- scher Wesensänderung,

O extrapyramidalen (oder zerebel- laren) Erkrankungen,

O Erkrankungen und Folgen von Verletzungen des Rückenmarks, O fortschreitendem neurogenen oder myopathischen Muskel- schwund, myasthenischem Syn- drom, Myotonie, periodischen Läh- mungen,

O Schädel-Hirn-Verletzungen oder Hirnoperationen (Fahrverbot für die folgenden drei Monate).

II. Eine positive beziehungsweise bedingt positive Beurteilung nach vorausgegangener Feststellung ei- nes Eignungsmangels oder über- haupt festgestellten Leiden ist möglich bei

O Krankheitserscheinungen ge- mäß Absatz 1, Nr. 1, jedoch nur für Fahrer von Fahrzeugen der Klas- sen 1, 3, 4 und 5, wenn

> drei Jahre keine Anfälle auftra- ten,

I> bei drei Elektroenzephalo- gramm-Kontrollen in vierwöchigem Abstand die Kurven keine spikes and waves, paroxysmale Dysrhyth- mien oder andere „scharfe Wellen"

aufwiesen,

D Provokationsmethoden nicht zu Anfällen oder zu Elektroenzephalo- gramm-Veränderungen führten,

> eventuelle Arzneimittelbehand- lung keine zentralnervösen Neben- wirkungen hat,

D keine eignungsausschließenden hirnorganischen Veränderungen gemäß Absatz I Nr. 3 vorliegen,

Kontrolluntersuchungen in ein, zwei oder vier Jahren durchgeführt werden.

O Krankheitserscheinungen ge- mäß Absatz I Nr. 2 für die Fahr- zeugklassen 1, 3, 4 und 5, wenn I> nach Abklingen der akuten Krankheitserscheinungen bezie- hungsweise bei Erkrankungen ge- mäß Absatz 1 Nr. 3 bis 5 wesentli- che und nicht nur vorübergehende Besserung eingetreten ist,

I> eventuell bestehende Behinde- rungen gemäß den bestehenden Richtlinien über die Behandlung körperbehinderter Kraftfahrer aus- geglichen werden können,

Nachuntersuchungen in Abstän- den von ein, zwei und vier Jahren durchgeführt werden.

> Bei Fahrern von Fahrzeugen der Klasse 2 und für Fahrer von Fahr- zeugen, die gemäß § 15 d StVZO der Fahrgastbeförderung dienen, darf nur ausnahmsweise und nur bei Vorliegen von besonders leich- ten Krankheitserscheinungen ge- mäß Absatz I Nr. 3 und 5 das Verbot gelockert werden.

O nach einer Schädigung gemäß Absatz I Nr. 7 für Fahrer aller Kraft- fahrzeuge, wenn

D keine Krankheitserscheinungen gemäß Absatz I Nr. 1 bis 3 festge- stellt werden können, also Heilung eingetreten ist; nur in Ausnahme- fällen darf das Verbot vor Ab- lauf der Dreimonatsfrist gelockert werden.

III. Zum Führen von Kraftfahrzeu- gen der Klasse 2 und von Fahrzeu- gen, die gemäß § 15 d StVZO der Fahrgastbeförderung dienen, sind und bleiben Personen ungeeignet, die Krankheitserscheinungen ge- mäß Absatz I Nr. 1, 2, 4 und 6 auf- weisen.

Psychische Erkrankungen und Auffälligkeiten

I. Keine Eignung zum Führen von Fahrzeugen aller Klassen besteht bei Personen mit

fl

endogenen Psychosen und psy- chotischen Reaktionen, wenn das Realitätsurteil erheblich beein-

trächtigt oder die allgemeine Lei- stungsfähigkeit erheblich herabge- setzt ist,

O exogenen Psychosen oder de- ren Prodromalerscheinungen; glei- ches gilt auch bei schwerem hyper- ästhetisch-emotionellen Syndrom, O nachgewiesenem Schwachsinn, O senilen und präsenilen Gehirn- erkrankungen sowie schweren al- tersbedingten Persönlichkeitsver- änderungen,

O persönlichkeits- und erlebnis- abhängigen Störungen der Einstel- lungs- und Anpassungsfähigkeit sowie lebensphasisch gebundenen Störungen, die sich durch Art und Ausprägung negativ auf die Lei- stungen beim Führen von Kraft- fahrzeugen auswirken.

II. Eine positive oder bedingte po- sitive Beurteilung nach vorausge- gangener Feststellung eines Eig- nungsmangels gemäß Absatz I ist möglich

O für Fahrer von Fahrzeugen der Klassen 1, 2, 3, 4 und 5, nach einer Erkrankung gemäß Absatz I Nr. 1, wenn

a) nach einmaliger Erkrankung sechs Monate lang keine entspre- chenden Symptome mehr aufgetre- ten sind,

b) nach mehrfacher Erkrankung innerhalb von zehn Jahren eine drei- bis fünfjährige krankheitsfreie Zeit nachgewiesen wird (Wiederer- krankung nach mehr als zehn Jah- ren gilt als Neuerkrankung),

O nach einer Erkrankung gemäß Absatz I Nr. 2, jedoch nur für Fah- rer von Fahrzeugen der Klassen 1, 3, 4 und 5, wenn

a) bei festgestelltem Grundleiden drei Monate Symptomenfreiheit verstrichen sind und das Grundlei- den die Eignung nicht ausschließt

3170 Heft 44 vom 31. Oktober 1974 DEUTSCHES ÄRZTE BLATT

(3)

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen

und kein chronisches hirnorgani- sches Psychosyndrom und keine hirnorganische Wesensänderung vorliegen,

b) kein Grundleiden festgestellt werden konnte, drei Jahre Sympto- menfreiheit verstrichen sind, c) nach einmaliger exogener Schädigung, drei Monate mit Symptomenfreiheit verstrichen sind; Punkt c gilt für Fahrer aller Klassen.

0 nach festgestelltem Mangel ge- mäß Absatz I Nr. 5 für Fahrer aller Klassen der Nachweis geführt wird, daß die Voraussetzungen, die zu negativer Beurteilung führten, sich wesentlich zum Positiven änderten.

III. Die Eignung ist oder bleibt stets ausgeschlossen für Fahrer von Fahrzeugen der Klasse 2 und für Fahrer von Fahrzeugen, die der Fahrgastbeförderung gemäß § 15 d StVZO dienen, auch wenn die Krankheitserscheinungen gemäß Absatz I Nr. 1 und 2 abgeklungen sind und nicht die Voraussetzun- gen von Absatz II Nr. 2 vorliegen.

Sucht (Abhängigkeit) und Intoxikationszustände

I. Keine Eignung zum Führen von Fahrzeugen aller Klassen besteht bei Personen, wenn

O Abhängigkeit von Alkohol oder anderen organischen Lösungen be- steht oder eine Abhängigkeit von Schlafmitteln, Psychopharmaka, Stimulantia, Analgetika oder Hallu- zinogenen beziehungsweise deren Kombinationen nachgewiesen wird, O ohne abhängig zu sein, regel- mäßige Zufuhr oben genannter Stoffe erfolgt, soweit sie durch lan- ge Wirkungsdauer oder intervallä- ren Wirkungsablauf die Leistungs- fähigkeit eines Kraftfahrers ständig erheblich beeinträchtigen oder de- ren Einnahme jederzeit zu plötzli- chem Zusammenbruch der Lei- stungsfähigkeit führen kann.

II. Positive oder bedingt positive Beurteilung nach vorausgegangener Feststellung eines Eignungsman- gels ist für Fahrer aller Klassen möglich, wenn

O nach einem Mangel gemäß Ab- satz 1 Nr. 1 nach erfolgreicher er- ster klinischer Entziehungskur ein Jahr, nach mehrfacher Kur zwei Jahre Abstinenz nachgewiesen werden können,

O bei einem Mangel gemäß Ab- satz 1 Nr. 2 davon auszugehen ist, daß die unter Absatz I Nr. 1 aufge- führten und in Betracht kommen- den Stoffe nicht mehr zugeführt werden.

Richtlinien für den medizinischen Sachverständigen können naturge- mäß immer nur eine relativ weit- maschige Orientierungshilfe sein.

Nur in wenigen Fällen lassen dia- gnostische Feststellungen das Aus- maß einer potentiellen Gefahr so klar erkennen, daß mit ihnen schon ein Eignungsurteil praktisch festge- legt wird (zum Beispiel Anfälle von Bewußtsei nsstörungen).

Bei der ganz überwiegenden Zahl psychiatrisch-neurologischer Krankheitsfälle ist dem nicht so. Es gibt genügend leichte Störungen der Hirntätigkeit, der Rücken- marksfunktionen und der neuro- muskulären Peripherie, die sich als Defektzustände zum Beispiel nie- mals gefährlich auswirken oder als progrediente Erkrankungen erst zu einem späteren Stadium relevant für einen Kraftfahrer werden kön- nen. Auch für die große Zahl leich- terer subpsychotischer Verstim- mungszustände wird man trotz al- ler unleugbaren und kaum vorher- sehbaren Verschlimmerungsmög- lichkeiten wohl im allgemeinen nur Bedenken haben können. Der Ken- ner von psychotischen und subpsy- chotischen Verläufen weiß: Es gibt zwar eine große Zahl Menschen, die unter endogenen phasisch ge- geneinander abgesetzten Verstim- mungen leiden, aber nur wenige von ihnen erkranken jemals an schweren Psychosen, die tatsäch-

lich das Realitätsurteil gefährlich beeinträchtigen. Dennoch ist nie- mals vorauszusagen, welchen Ver- lauf eine Krankheit im Einzelfall nehmen wird. Man kann den Ver- kehr gefährdende, kranke Kraftfah- rer nicht so vollkommen auslesen, daß dadurch eine wirklich ins Ge- wicht fallende Risikominderung im Straßenverkehr erreicht würde.

Das entbindet selbstverständlich die Verantwortlichen nicht von der Pflicht, bekanntgewordene Gefah- ren auszuschließen.

Besonderes Gewicht haben wahr- scheinlich die persönlichkeits- und erlebnisabhängigen Störungen der Einstellungs- und Anpassungsfä- higkeit einschließlich lebenspha- sisch gebundener abnormer Reak- tionen. Diese Überzeugung hat sich bei allen Verantwortlichen durchgesetzt. Die Masse der mehr- fach auffälligen Teilnehmer am mo- torisierten Straßenverkehr sind die- ser Gruppe zuzuordnen, sofern man den Kreis der Zweifelsfälle nur genügend weit zieht. Sie sind nicht im engeren Sinne krank, son- dern zumindest noch den Randzo- nen des Streubereichs normaler Persönlichkeitsveranlagungen zu- zurechnen. Unter ihnen befindet sich auch nur eine kleinere Kern- gruppe psychiatrisch relevanter Fälle, deren Anpassungs- und Ver- haltensstörungen entweder auf schwer steuerbare oder überhaupt auf unwandelbare Persönlichkeits- merkmale zurückgehen. Dabei ist es noch eine offene Frage, ob die vielfach Auffälligen auch überpro- portional an Unfällen im Straßen- verkehr beteiligt sind. Ganz sicher ist die Masse der Unfälle auf nur vorübergehend unangepaßtes, dis- ziplinloses Verhalten körperlich und psychisch gesunder Fahrer zu- rückzuführen.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Herbert Lewrenz 2 Hamburg 54 Große Bahnstraße 31

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 44 vom 31. Oktober 1974 3171

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Solche Maß- nahmen, die gleichzeitig auf größere Gleichheit und größere Effizienz ausgerichtet sind, umfassen zum Bei- spiel Programme in den Bereichen frühkindliche Ent-

o bestandene Reifeprüfung an einer österreichischen Höheren Technischen Lehranstalt maschinen- oder elektrotechnischer Richtung und mindestens dreijährige Tätigkeit

Für Nahrungsergänzungs- mittel reicht eine Anzeige beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.. Protina ging mit seinen Basica®-Produkten aber einen

Rechtsverletzungen gem.. Abschnitt: Möglichkeiten zur Inanspruchnahme der Access- und Hos t-Provider nach deutschem Recht  . Abschnitt: Umfang und Reichweite der auferlegten

5.3.1 Formalisierte Instrumente, die erst nach der Untersuchung eingesetzt

Die Schafe selbst hatten damit nichts zu tun gehabt  – nun ja, zumindest nicht viel  –, aber sie hatten geerbt: eine Reise nach Europa, den Schäferwagen und darin Rebecca,

7.1.4   Engagement, Handlungs-, Bearbeitungs- und Problemlösungsstrategien der Lehrer ...

Die quali- tative Studie untersucht auf der Grundlage von ExpertInneninterviews die Theorien, die LehrerInnen bezüglich einer erfolgreichen oder weniger erfolgreichen Gestaltung des