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Archiv "Multiple Chemical Sensitivity: Schädigung durch Chemikalien oder Nozeboeffekt" (16.01.1998)

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mweltmediziner und Toxiko- logen diskutieren über ein Krankheitsbild, das als „MCS“

(multiple Chemikaliensensitivität),

„Umweltkrankheit“ oder „Krankheit des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wurde (1, 3, 8, 10). MCS-Patienten konnten in ihrer Persönlichkeits- struktur nicht von Personen unter- schieden werden, die an chronic fati- gue syndrome leiden (3). Das MCS- Krankheitsbild ähnelt demjenigen, das im 19. Jahrhundert als Neu- rasthenie beschrieben wurde. MCS ist eine Ausschlußdiagnose; es müssen beispielsweise toxische oder immuno- logische Ätiologien und psychiatri- sche Erkrankungen ausgeschlossen werden. Die MCS zeigt starke Über- lappung, ist aber nicht identisch mit dem „sick-building-Syndrom“. Unter letzterem Syndrom werden multiple Krankheitsbilder zusammengefaßt, die unter anderem durch Bestandteile der Innenraumluft hervorgerufen werden, beispielsweise Asthmaanfäl- le durch Allergien gegen Milbenkot.

In vielen Fällen ist aber auch eine psy- chische Ätiologie wahrscheinlich. Es soll ausdrücklich betont werden, daß die Definition der MCS, ihre Über- lappung und Abgrenzung von ande- ren diskutierten Krankheitsbildern nicht die Intention des vorliegenden Beitrags ist. Das Verständnis der MCS ist für die toxikologische Risiko- bewertung von Chemikalienwirkun- gen im Niedrigdosisbereich und für den Arzt in Bezug auf differenzialdia- gnostische Überlegungen und thera- peutische Konsequenzen wichtig.

Diagnose und Ätiologie

In den USA wurde von „Klini- schen Ökologen“ über das MCS-Syn- drom berichtet. Hervorzuheben ist,

daß MCS nur in reichen Industrielän- dern beschrieben wird. Es wurde mei- stens bei Einzelpersonen beobachtet, die in Innenräumen toxikologisch un- bedenklichen Konzentrationen von Insektiziden (beispielsweise Pyre- throiden) ausgesetzt waren (1), bei Anwohnern von Feldern, auf denen Biozide versprüht wurden (7) und bei Anwohnern von Mülldeponien oder Müllverbrennungsanlagen. Häufig sind olfaktorische Reize die Auslöse- mechanismen, die die Nähe einer ver- muteten Gefahrenquelle übermitteln.

Für die Diagnose von MCS wur- den folgende Voraussetzungen ange- geben:

! dokumentierte chemische Exposition,

! multiple Symptome in mehr als einem Organsystem,

! Rezidiv und Exazerbation bei Exposition gegenüber Chemikalien verschiedenster Struktur und ver- schiedenster Wirkmechanismen,

! normaler körperlicher Be- fund am Beginn der Erkrankung,

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M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG

Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 3, 16. Januar 1998 (35)

Karl Walter Bock

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Niels Birbaumer

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Multiple Chemical Sensitivity

Schädigung durch Chemikalien oder Nozeboeffekt

Stichwörter: Multiple Chemical Sensitivity, Nozeboeffekt, klassische Konditionierung, toxikologische Abklärung Ärzte werden gelegentlich mit Patienten konfrontiert, die an Symptomen der sogenannten Multiple Chemical Sensitivity (MCS) leiden. Diese Patienten klagen über die Exposition durch Chemikalien, welche in den nachgewiesenen Konzentra- tionen normalerweise keine negativen Effekte hervorrufen.

Die toxikologische Analyse der Körperflüssigkeiten ergibt Meßwerte, die weit unter denen liegen, die normalerweise sol- che Symptome auslösen. In Analogie zu dem bekannten Plaze- boeffekt wird dieses Phänomen Nozeboeffekt oder negativer Plazeboeffekt genannt. Experimentalpsychologische Studien

zeigten, daß starke Erwartungshaltun- gen, die mit Beeinflußbarkeit und Angst

gekoppelt sind, die Basis des Nozeboeffektes darstellen. Neben dem positiven und negativen Verstärkungseffekt der Nozebore- aktion durch das soziale Umfeld diskutieren die Autoren die Mechanismen der klassischen Konditionierung durch Ge- ruchs- und Geschmackswahrnehmung. In der Therapie sollte das Verhalten, das zur MCS führt und die entsprechenden phy- siologischen, psychologischen und motorischen Reaktionen berücksichtigt werden. Behandlungsstrategien können die Konfrontation mit der vermeintlichen Noxe und entsprechende Aufklärung des sozialen Umfeldes umfassen.

ZUSAMMENFASSUNG

Key words: multiple chemical sensitivity, nocebo effect, classical conditioning, toxicological evaluations

Occasionally, we are confronted with multiple chemical sensiti- vity (MCS) patients, who complain of symptoms from exposure to chemicals in concentrations which do not cause harmful ef- fects in the general population. The chemical analysis of body fluids reveals concentrations far below levels likely to be re- sponsible for the symptoms. By analogy with the well known placebo effect the subjective impression of harm is termed the nocebo effect or negative placebo effect. Experimental psycho- logy reveals that strong expectations based on suggestibility

and anxiety are the basis of the nocebo effect. The authors discuss the effects of positive and negative

reinforcement for the nocebo reaction through the social envi- ronment as well as the paradigm of classical conditioning of odour and taste sensations. Therapeutic considerations should include behavioural analysis of the stimuli leading to MCS and the respective physiological, psychological and motor responses. The effects of reinforcement should also be con- sidered. Treatment strategies may include extensive confron- tation with the potential noxious stimulus and encouraging the social environment to respond appropriately.

SUMMARY

1 Institut für Toxikologie (Direktor: Prof. Dr. med.

Karl Walter Bock)

2 Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie (Direktor: Prof. Dr.

phil. Niels Birbaumer), Eberhard-Karls-Univer- sität, Tübingen

U

(2)

! Symptome bei niedrigsten Ex- positionen, bei denen die Allgemein- bevölkerung keine Reaktion zeigt

Die Ätiologie des Krankheitsbil- des wird kontrovers diskutiert (10).

Eine neuronale „Chemiehypothese“

geht davon aus, daß über olfaktori- sche Reize ein Reizzustand im hypo- thalamisch-limbischen System er- zeugt wird. Die zugrunde liegende Überempfindlichkeit könnte durch verschiedene Ursachen wie psychoso- zialen Streß hervorgerufen werden.

Es wurde auch eine Störung des Im- munsystems diskutiert. Dabei ist an- zumerken, daß bisher primär keine Veränderungen immunologischer Pa- rameter bei MCS-Patienten beobach- tet wurden (8). Andere Autoren be- obachteten, daß unter MCS auch kli- nische Fehldiagnosen subsummiert werden, das heißt, daß es sich zum Teil um Frühformen psychiatrischer Erkrankungen handelt. Weiterhin wird auch ein Glaubenssystem (belief system) als Ursache diskutiert, das von Ärzten, Medien oder anderen In- stitutionen etabliert wurde.

Das Krankheitsbild könnte von dem festen Glauben der Patienten ausgehen, vergiftet zu sein. Die Be- deutung des Glaubens bei Arzneimit- telwirkungen ist dem Pharmakologen und Psychologen schon lange als „Pla- zeboeffekt“ bekannt. Der Bedeutung psychologischer Einflüsse wird in der klinisch-pharmakologischen Prüfung durch den Doppelblindversuch Rech- nung getragen. In Analogie zur Plaze- bowirkung könnte man die auf dem Glauben beruhende Vergiftung als

„Nozeboeffekt“ bezeichnen (5).

Da bei der MCS im oben be- schriebenen Sinne toxikologisch und immunologisch keine Befunde zu er- heben sind, hoffen Toxikologen, daß der medizinische Psychologe weiter- helfen kann; konkret: Gibt es eine de- finierbare Bevölkerungsgruppe, die auf Chemikalien mit der Auslösung von MCS-Symptomen reagiert?

Plazebo- und Nozeboeffekt

Analog zur Forschung über den Plazeboeffekt kann man davon aus- gehen, daß dem Nozeboeffekt star- ke kognitive Erwartungshaltungen

zugrunde liegen, die zu Änderungen im Verhalten, Denken von emotiona- len Reaktionen und vor allem auch zu realen endokrinen Effekten und Än- derungen des autonomen Nervensy- stems führen. Für den Plazeboeffekt konnte man zeigen, daß erhöhte Sug- gestibilität und Angst – entweder konstitutionell bedingt oder ausgelöst durch externe Faktoren – zu einer Verstärkung der Glaubens- und Er- wartungshaltung führen. Entspre- chend würde man beim Nozeboeffekt davon ausgehen, daß besonders sug- gestive und ängstliche Personen und jene, die unter psychischer Belastung stehen, eher zu Nozeboreaktionen neigen. Der zweite psychologische Faktor, der bei Plazebo- und Nozebo- reaktionen eine entscheidende Rolle spielt, ist die positive oder negative Verstärkung der Nozeboreaktionen durch die Umwelt, vor allem durch Familie, Freunde, Ärzte und andere Personenkreise. Nozeboreaktionen – sowohl auf Verhaltensebene wie auch auf endokriner Ebene – können durch unmittelbare Zuwendung für die Äußerungen dieser Reaktionen auf- recht erhalten und dauerhaft ver- stärkt werden. Eine ähnliche Situati- on wurde auch für chronische Schmerzzustände gefunden (4). Das Nozeboverhalten wird weiterhin durch die Vermeidung unerwünschter oder unangenehmer Tätigkeiten und die Aufnahme von Schonverhalten (Krankheitsverhalten und Krank- schreibungen) aufrecht erhalten. Die- se als instrumentelle Lern- oder Kon- ditionierungsfaktoren bezeichneten Einflüsse stellen vermutlich den we- sentlichen Beitrag zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Nozebo- faktoren dar. Methoden zu ihrer Diagnose und Behandlung wurden im Rahmen der Verhaltenstherapie von chronischen Schmerzen und an- deren pathophysiologischen und pa- thopsychologischen Reaktionen ent- wickelt (4).

Ein dritter Faktor, der ebenfalls im Rahmen von Verhaltensanalyse, Befragungen und psychophysiologi- schen Messungen objektiviert werden müßte, stellt die klassische Geruchs- und Geschmackskonditionierung dar.

Es konnte in einer Vielzahl von Studi- en gezeigt werden (2), daß klassisches Pawlowsches Konditionieren vor al-

lem bei Geruchs- und Geschmacks- reizen zu dauerhaften konditionier- ten Reaktionen (zum Beispiel Ge- schmacks- und Geruchsaversionen) führen kann, die auch ohne Bestehen eines objektiven Geruchs- oder Ge- schmacksreizes über Monate bis Jah- re aufrecht erhalten werden können.

Geschmacksvorlieben und Geruchs- vorlieben sind ein gutes Beispiel dafür. Auch die Konditionierung im- munologischer Reaktionen (9) kann erklären, warum gelernte immunolo- gische Reaktionen als Folge starker Glaubenshaltungen auftreten. Es genügt die einmalige zeitliche Paa- rung eines völlig neutralen Reizes (zum Beispiel der Anblick einer Wie- se oder einer Speise) mit einem zufäl- lig auftretenden scharfen Geruch oder Geschmack, der von einer um- stehenden Person auf einen toxischen Einfluß zurückgeführt wird, um über Monate und manchmal auch lebens- lang anhaltende Aversionen auf den Anblick dieser völlig neutralen Ob- jekte zu konditionieren. Auch für sol- che Geruchs- und Geschmackskondi- tionierungen liegen Behandlungsver- fahren aus dem verhaltenstherapeu- tischen Bereich vor, die erlauben, die- se wieder zu beseitigen, wenngleich erheblicher Aufwand dafür notwen- dig ist.

Toxikologische Abklärung erforderlich

Der Toxikologe denkt in Dosis- Wirkungsbeziehungen. Da sich die stoffliche Grundlage bei MCS – wenn überhaupt vorhanden – unter Um- ständen auf wenige Odorantien-Mo- leküle als Signalvermittler reduzieren läßt, ist kein Vergleich mit einer toxi- kologischen Dosis-Wirkungsbezie- hung möglich. Aus der Darstellung des Psychologen ergibt sich, daß MCS

„ansteckend“ sein kann, das heißt, daß die Zahl der Betroffenen durch zwar gutgemeintes aber falsches Ver- halten von Ärzten, Angehörigen und Wissenschaftlern zunehmen kann.

Wie können Fehler vermieden wer- den?

Die häufig beobachtete psycho- logische Ätiologie der MCS enthebt den Umweltmediziner und den Toxi- kologen nicht der Pflicht zu prüfen,

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M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG

(36) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 3, 16. Januar 1998

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ob beim Patienten eine toxische Schädigung für die beklagten organi- schen Beschwerden vorliegt. Ebenso muß ein Allergologe eine immunolo- gische Ursache ausschließen. Wenn eine psychologische oder psychiatri- sche Ursache wahrscheinlich ist, er- gibt sich die Frage, welche Laborbe- funde für die Diagnose nützlich sind.

Blutanalysen ubiquitärer Umwelt- schadstoffe werden oft nur Meßwerte im toxikologisch irrelevanten Be- reich erbringen. Dieser Befund kann einerseits einen Patienten von der Unbegründetheit der Assoziation seiner Beschwerden mit der Chemi- kalie überzeugen. Bei anderen Pati- enten kann er jedoch die psychoso- matische Fixierung verstärken, da ein Schadstoff nachgewiesen wurde und dessen Unwirksamkeit in der gemes- senen Konzentration vom Patienten in Zweifel gezogen wird. Diese nega- tive Wirkung auf den Patienten sollte Konsequenzen für das Verhalten von Toxikologen haben.

Der Toxikologe ist aufgerufen, wissenschaftlich gesicherte und klare Aussagen über den Dosisbereich toxi- scher Wirkungsschwellen zu machen.

Für den Bereich der Arbeitsmedizin werden solche Aussagen bei der Be- gründung der MAK-Werte (Maxima- le Arbeitsplatz-Konzentrationen) und in der Umwelttoxikologie durch die Begründung von MIK-Werten (Maximale Immissionskonzentratio- nen) gemacht. Die Aussagen sollten Verweise auf Gruppen mit Idiosyn- krasien enthalten, also auf genetisch determinierte Überempfindlichkei- ten aufgrund von Polymorphismen in der Bevölkerung. Mit diesen Aussa- gen kann möglicherweise eine klas- sisch toxische Wirkung ausgeschlos- sen werden.

Nach der weltweiten Erfahrung von Ärzten in Umweltpraxen sind bei der Mehrzahl der MCS-Patienten psy- chologische und psychiatrische Ursa- chen vorherrschend (8, 10). Die Über- tragung psychischer Probleme auf Umweltchemikalien ist keine Eigen- heit des 20. Jahrhunderts. Das Pro- blem wird wahrscheinlich im 21. Jahr- hundert fortbestehen. Solange jedoch die Übertragung auf Chemikalien er- folgt, ist die MCS auch ein Problem der Toxikologie. Differentialdiagno- stische Überlegungen im Zusammen-

hang mit MCS sind therapeutisch von großer Bedeutung. Die häufige thera- peutische Empfehlung einer konse- quenten Vermeidungsstrategie von Umweltschadstoffen wird dem Pati- enten auf Dauer nicht helfen und oft zur sozialen Isolation oder Verstär- kung des Syndroms führen. Der Arzt wird den Glauben des Patienten ernst nehmen und zunächst versuchen, nach toxischen und allergischen Ursachen zu fahnden. In den Fällen, bei denen psychologische oder psychiatrische Ätiologien wahrscheinlich sind (und diese sollten immer nach Ausschluß toxischer und primär immunolo- gischer Ursachen angenommen wer- den), möchte ich die Frage nach den therapeutischen Implikationen an den Psychologen weitergeben.

Verhaltensanalyse

Es sollen Auslösereize und -si- tuationen, physiologische, psychische und motorische Reaktionen im Rah- men des MCS und verstärkende Kon- sequenzen erfragt, beobachtet und gemessen werden. Dabei sollen fol- gende Punkte in Betracht gezogen werden:

! familiäre Belastung mit ähnli- chen Problemen, akute und überdau- ernde berufliche, ökonomische, fami- liäre und physische Belastungen, Vor- handensein von Bewältigungsmög- lichkeiten und -ressourcen sowie so- ziale Stützung und soziales Umfeld (Isolation?). Anzahl von Geruchs- und Geschmackskonditionierungen während der Entwicklung und im Er- wachsenenalter; Anzahl und Ursache von Arztbesuchen in Kindheit und Ju- gend; Wissensstand über Toxikologie und Physiologie.

! überdauernde Reaktionsdis- positionen (nur mit Testinstrumenten meßbar): Ängstlichkeit, Suggestibi- lität, Depressivität und antisoziale Persönlichkeit (Soziopathie) sowie ei- ne Biographie mit paranoiden Verhal- tensweisen und chronischen Schmer- zen stellen ein Risiko dar. Ferner soll- ten soziale Fertigkeiten und Selbstbe- hauptung geprüft werden.

Akutreaktionen wie der endokri- ne „Streßstatus“ sollten in Gegenwart der vermeintlich auslösenden Noxen untersucht werden. Zu den Parame-

tern gehören Cortisolniveau, Blut- druck und Muskelanspannung sowie andere Angstindikatoren. Darüber hinaus sollte geklärt werden, ob eine verstärkende Wirkung durch Fami- lienangehörige vorliegt oder der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört ist.

Ursachenzuschreibung, Erwartungen der vermeintlichen Noxe gegenüber sollten immer in bezug auf familiäre und berufliche Lebensplanung erfragt werden. Ferner sollten die Erwartun- gen, die an die Beseitigung der Noxe gestellt werden und Hoffnung in be- zug auf Therapeuten, Toxikologen und Politiker abgeklärt werden. Es sollte auch zu geglückten und miß- glückten Vermeidungs- und Behand- lungsversuchen sowie zu Konsequen- zen für Patienten, Angehörige und Freunde befragt werden.

! Es sollte die Zuwendung durch Familienangehörige beobach- tet werden, die Anzahl von erfolgrei- chen und erfolglosen Arzt- und Ex- pertenbesuchen sowie ein möglicher sekundärer Krankheitsgewinn (bei- spielsweise Berentung, Behinde- rung), Vermeidungs- und Bewälti- gungsstrategien auf die Noxe und die mögliche Zugehörigkeit zu einer so- zialen oder politischen Gruppe, die MCS positiv verstärkt und beachtet.

Das Vorhandensein von Schonverhal- ten sowie die Wirkung und Häufigkeit von Medikamenteneinnahme oder anderen Therapien sind zu berück- sichtigen.

Verhaltensmodifikation von MCS

Nach der Verhaltensanalyse, die nicht mehr als zwei Sitzungen umfas- sen und nach Möglichkeit von klini- schen Psychologen, Umweltmedizi- nern und Toxikologen gemeinsam durchgeführt werden sollte, erfolgt die Entwicklung einer Strategie zur Modifikation von MCS entsprechend den gefundenen Ursachen. Dazu kommen eine Vielzahl von Techniken zum Einsatz, die im Rahmen der Ver- haltensmodifikation und Verhaltens- medizin entwickelt wurden (6). Zu diesen Techniken gehören: Häufige und anhaltende Konfrontation mit und Desensibiliserung von vermeint- lichen Noxen ohne Vermeidungs- und

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Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 3, 16. Januar 1998 (37)

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Fluchtmöglichkeit (Verhaltensmana- gement), Abschließen von Behand- lungsverträgen über das Absetzen von Medikamenten, Reduktion von Arztbesuchen, Aussetzen von Exper- ten- und Literaturberatungen und die Beseitigung beruflicher und sozialer Probleme.

Operante Strategien umfassen Schulung der Angehörigen, soziale Zuwendung von MCS auf alternati- ves, mit MCS unvereinbares Verhal- ten. Ferner sollten die Patienten Schonverhalten und sekundären Krankheitsgewinn abbauen, Konver- sationen über Umwelttoxikologie einschränken, Vermeidungsverhalten erkennen und durch konfrontative Bewältigung mit der vermeintlichen Noxe ersetzen, soziale und körperli- che Aktivitäten erhöhen sowie alter- natives Verhalten zu MCS-Verhalten ermöglichen. Die Patienten müssen soziale Fertigkeiten trainieren und die Änderung kognitiver Erwartun- gen und Glaubenshaltungen einüben (kognitive Verhaltenstherapie). Wie- derholter toxikologischer Nachweis der Unbedenklichkeit und alternati- ve Experten- und Wissenschaftsauf- fassungen sind ebenso wichtig wie so- fortige Korrektur, Kritik und Ignorie- ren von MCS-fördernden Äußerun- gen, verbale Belohnung von Äuße- rungen, die unvereinbar mit MCS sind sowie Training von Spannungs- und Angstabbau. In Extremfällen muß eine vollständige verhaltensme- dizinische Behandlung verordnet werden.

Schlußbemerkungen

Es ist zu hoffen, daß eine inter- disziplinäre Diskussion das Problem der MCS einer Lösung näher bringen wird. Sicherlich spielt der Nozebo- oder negative Plazeboeffekt eine wichtige ätiologische Rolle. Dieser Sachverhalt impliziert, daß eine Vermeidensstrategie von vermuteten Umweltnoxen dem Patienten meist nichts nützt, sondern häufig die MCS verschlimmert. Die ätiologische Rolle von Ängsten gegenüber Umweltno- xen sollte bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit über vermutete Zu- sammenhänge berücksichtigt werden.

Berücksichtigt man dies nicht, so wird die politische Durchsetzung von Maß- nahmen zur Vermeidung von Schad- stoffen durch eine große Zahl von MCS-Erkrankten erkauft. Der Ein- fluß der Psyche bei der Perzeption von Giftwirkungen ist in der Vergan- genheit unterschätzt worden.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-91–94 [Heft 3]

Literatur

1. Altenkirch H: Multiple Chemical Sensiti- vity (MCS)-Syndrom. Gesundheitswesen 1995; 57: 661–666.

2. Birbaumer N, Öhmann A (eds): The Structure of Emotions. Toronto: Hogrefe

& Huber, 1993.

3. Fiedler N, Kiepen HM, DeLuca J, Kelly- McNeil K, Natelson B: A controlled com- parison of multiple chemical sensitivities and chronic fatigue syndrome. Psychoso- matic Medicine 1996; 58: 38–49.

4. Flor H, Birbaumer N: Comparison of the efficacy of electromyographic biofeed- back, cognitive-behavioral therapy, and conservative medical interventions in the treatment of chronic musculosceletal pain. Journal of Consulting and Clinical Psychology 1993; 61: 653–658.

5. Habermann E: Vergiftet ohne Gift. Glau- ben und Ängste in der Toxikologie. Skep- tiker 1995; 3: 92–100.

6. Hasselt van H, Hersen M (eds): Source- book of Psychological Treatment Ma- nuals for Adult Behavioural Disorders.

New York: Plenum Press, 1996.

7. Remmer H: Die Umwelt als Ursache von Erkrankungen. Dt Ärztebl 1994; 91:

1884–1888 [Heft 27].

8. Salvaggio JE, Terr AI: Multiple chemical sensitivity, multiorgan dysesthesia, multi- ple symptom complex, and multiple confusion: Problems in diagnosing the patient presenting with unexplained multisystemic symptoms. Crit Rev Toxi- col 1996; 26: 617–631.

9. Schedlowski H, Thewes J: Psychoneuro- immunologie. Stuttgart: Spektrum, 1996.

10. Sikorski EE, Kipen HM, Selner JC, Mil- ler CM, Rodgers KE: Roundtable sum- mary: The question of Multiple Chemical Sensitivity. Fund Appl Toxicol 1995; 24:

22–28.

Anschrift der Verfasser

Prof. Dr. phil. Niels Birbaumer Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie Universität Tübingen Gartenstraße 29 72072 Tübingen

Prof. Dr. med. Karl Walter Bock Institut für Toxikologie

Universität Tübingen Wilhelmstraße 56 72074 Tübingen

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ZUR FORTBILDUNG/FÜR SIE REFERIERT

(38) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 3, 16. Januar 1998

Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Nachdem in Tiermodellen die in- trakoronare Radiotherapie geringere Restenosierungsraten nach perku- taner transluminaler Angioplastie (PTCA) und Stentimplantation er- geben hatte, untersuchten Wissen- schaftler der Scripps Clinic an Rese- arch Foundation, diese Methode nun erstmals auch am Menschen.

Bei 55 Patienten mit koronaren Restenosen nach vorangegangenen koronaren Interventionen wurden neben erneuten Ballondilatationen

und Stentimplantationen randomi- siert auch die intrakoronare Be- strahlungen mit Iridium-192 durch- geführt.

Bei angiographischen Nachun- tersuchungen nach sechs Monaten hatten die zusätzlich bestrahlten Pa- tienten signifikant größere Lumen- durchmesser der dilatierten Areale (2,4 mm versus 1,8 mm, p=0,02). Re- stenosen (mindestens 50 Prozent Lumeneinengung) traten bei 17 Pro- zent der Iridium-192-Gruppe auf,

bei der Plazebogruppe war dies bei 54 Prozent der Patienten der Fall (p=0,01). Nebenwirkungen der Be- handlung traten nicht auf, so daß die Autoren die intrakoronare Bestrah- lung als adjuvante Maßnahme zur bislang üblichen Intervention anse- hen, um die früh auftretende Inti- mahyperplasie als Ursache der Re- stenosen zu verhindern. acc Teirstein PS et al.: Catheter-based radio- therapy to inhibit restenosis after coro- nary stenting. N Engl J Med 1997; 336:

1697–1703.

Dr. Teirstein, Division of Cardiovascular Diseases, SW-206, Scripps Clinic and Research Foundation, 10666 N. Torrey Pines Rd., La Jolla, CA 92037, USA.

Intrakoronare Radiotherapie

verhütet Restenosierung nach PTCA

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