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Archiv "„Multiple Chemical Sensitivity„: Keine gesicherten wissenschaftlichen Daten für einen exakten Nachweis des Krankheitsbildes" (04.06.1999)

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ie unklare Gesundheitsstö- rung „Multipe Chemical Sen- sivity“ (MCS) wird zuneh- mend in Deutschland diagnostiziert.

Einen Bogen von der Toxikologie, er- kenntnistheoretischen Betrachtun- gen, über psychosoziale Zusammen- hänge bis hin zur Klinik und Proble- matik medizinischer Begutachtung schlug die Tagung „Chemikalien-Syn- drome – Fiktion oder Wirklichkeit?“, die im Rahmen des vom Bayrischen Staatsministeriums für Landesent- wicklung und Umweltfragen finan- zierten Forschungsvorhabens „Pro- jektgruppe Umwelt und Gesundheit“

am 22. März 1999 in München unter der Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Mücke stattfand.

Toxikologisch nicht nachweisbar

Einen Fall aus der Praxis ist das Beispiel einer Familie, die nach Be- zug ihres neuen Hauses über Kopf- schmerzen, Konzentrationsstörun- gen, Nervosität, Schlaflosigkeit, Mü- digkeit, periphere Neuralgien sowie Haarausfall klagte, so Prof. Dr. Hel- mut Greim, Lehrstuhl für Toxikolo- gie und Umwelthygiene der Techni- schen Universität München. Das Diagnosespektrum reichte von „kei- ne krankhaften Veränderung fest- stellbar bis MCS-Syndrom“. Die Pentachlorphenolkonzentration im Blut betrugen 16 µg/l, Referenzwert zu dieser Zeit betrug 20 µg/l. Hinzu kam, daß die genannten Symptome unspezifisch und nicht objektivierbar waren. Pentachlorphenol entkoppelt die mitochrondiale Atmung, es kommt zu einer Steigerung von Stoff- wechselvorgängen. Bei akuter Into- xikation sind Schwitzen, Fieber, Durstgefühl und Gewichtsverlust die Symptome. Eine chronische Into- xikation verusacht Leberschäden, Leukopenie, Erythozytopenie, Ent- zündungen der Augenbindehaut und

der Schleimhäute. Die chronische In- toxikation liegt jedoch erst ab einer Menge von mehr als 180 mg/m3 Pentachlorphenol der Raumluft vor.

Diese Menge war aber in diesem Fall nicht meßbar. Bei der Erklärung der Ursachen stehen sich, nach Angaben von Greim, zwei Konzepte gegen- über: einmal das umweltmedzini- sche, das von einer angeborenen oder erworbenen erhöhten Emp- findlichkeit gegenüber Chemikalien ausgeht, das andere ist das toxikolo- gisch-arbeitsmedizinische, das nach Objektivierbarkeit erhöhter Emp- findlichkeit und ihren Ursachen sucht.

Um die Diagnose MCS stellen zu können, müsse die Definition von Cullen einbezogen werden, die be- sagt, daß es sich dabei um eine durch Angst ausgelöste posttraumatische Streßreaktion handelt, wobei eine erhöhte Empfindlichkeit nach Into- xikation ausgeschlossen werden konnte.

Die daraus abgeleiteten Kriteri- en für das Kranheitsbild lauten:

1durch nachweisbare Exposi- tion ausgelöste Symptome;

1Symptome betreffen mehr als ein Organsystem;

1Symptome treten bei vorher- sehbaren Reizen auf;

1Symptome werden durch ver- schiedenste Chemikalien bei niedri- ger Exposition ausgelöst;

1Symptome lassen sich nicht durch übliche Organfunktionstests erfassen.

Es stellt sich die Frage, ob die einzelne Substanz nicht eine Kombi- nationswirkung mit anderen Sub- stanzen eingeht. Neue experimentel- le Untersuchungen bestätigen je- doch, daß Kombinationswirkungen grundsätzlich nur dann zu erwarten sind, wenn die vorhandenen Chemi- kalien gleiche Wirkungsmechanis- men besitzen und wenn die Stoffe im Bereich ihrer Wirkkonzentrationen liegen.

Die Giftigkeit von Chemikalien beruht zumeist auf der Bildung reak- tiver Metaboliten, die durch weitere Metabolisierung inaktiviert werden können. Die meisten der Enzyme sind polymorph, das heißt in der Be- völkerung ist mit unterschiedlich metabolisierenden Personen zu rechnen. Das Problem ist, daß die Metabolisierung enzymkinetischen Kriterien unterliegt. Polymorphis- men werden erst bei hoher Sub- stratsättigung relevant, nicht bei niedriger Exposition. Die Bemühun- gen um diagnostische Kriterien für das MCS haben allenfalls wider- sprüchliche Ergebnisse erbracht.

Neuropsychologische Tests wie Aufmerksamkeit, verbales und visu- elles Gedächtnis, visuelle/motori- sche Geschwindigkeit, geistige Flexi- bilität haben in kontrollierten Studi- en keine Unterschiede gezeigt.

Greim kritisierte, daß kontrollierte Expositionen bisher nur an MCS-Pa- tienten durchgeführt wurden; es feh- len vergleichende Untersuchungen an gesunden Probanden. Es ist drin- gend notwendig, bei der Begutach- tung von MCS andere Ursachen für die Symptomatik, wie Allergien ge- gen Nahrungsmittel, Hausstaubmil- ben, Haus- und Nutztiere, Schim- melpilze sowie Erkrankungen des Hormonsystems und Autoimmuner- krankungen auszuschließen.

Greim verlangte eine neuen Ar- beitsdefinition für MCS, denn es kann bei MCS nicht von einer kli- nisch definierten Krankheit gespro- chen werden, da es weder allgemein anerkannte Theorien zu den Krank- heitsmechanismen noch validierte Kriterien für die klinische Diagno- stik gibt. Als zutreffende Beschrei- bung sollte der Begriff „idiopathi- sche umweltbezogene Unverträg- lichkeit“ (idiopathic environmental intolerance [IEI]) verwendet wer- den. Es müsse klar sein, daß die Sym- ptome durch keine bekannte medi- zinische oder psychiatrische bezie- A-1499

M E D I Z I N KONGRESSBERICHT

Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 22, 4. Juni 1999 (51)

D

„Multiple Chemical Sensivity“

Keine gesicherten wissenschaftlichen Daten

für einen exakten Nachweis des Krankheitsbildes

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hungsweise psychologische Störung erklärbar ist. Greim hält fest, daß der Begriff IEI nur nach gründlicher Un- tersuchung der Patienten und sorg- fältiger Prüfung aller anderen mögli- chen Erklärungen für die Symptome benutzt werden soll.

Nozebo-Effekte bei MCS

Genauso wie ein Plazebo eine glaubensbedingte Wahrnehmung ei- nes gesundheitsfördernden Aspek- tes ist, so Prof. Dr. Ernst Haber- mann, Universität Gießen, so ist das Nozebo die glaubensbedingte Wahr- nehmung eines gesundheitsabträgli- chen Effektes. Dies ist insbesondere bei MCS wie auch bei vielen anderen toxikologischen Effekten der Fall.

Nozebophänomene finden sich über- all. Solche Effekte lassen sich auch im psychologischen Experiment auf- lösen. In einem Versuch an 24 Stu- denten täuschte man die Gabe von Psychopharmaka vor. Bei sechs ver- schiedenen Leistungstests konnte keine Änderung festgestellt werden.

Befragte man sie jedoch nach ihrem Befinden, äußerten sie viele Arten von Mißbefinden. Sie waren über- zeugt, daß die „vorgetäuschten Psy- chopharmaka“ daran schuld waren.

Nozebos, so Habermann, sind unter besonderen Umständen an- steckend. Diese können lawinenartig ganze Massen von Menschen infizie- ren. In der amerikanischen Arbeits- medizin bezeichnet man sie deshalb auch als „mass psychogenic illness“.

Im deutschsprachigen Raum sollte deshalb nicht von Syndromen ge- sprochen werden, sondern es sollte der Begriff „illness“ gewählt werden, der „sich krank fühlen“ bedeutet.

Bei MCS handelt es sich um Er- krankungen, die sich dadurch erwei- tern, daß der Patient mit anderen ei- ne Gruppe bildet, die ähnliche Züge trägt. Ein Beispiel dafür sei das soge- nannte Golfkriegs-Syndrom. Etwa ein halbes Jahr nach dem Golfkrieg waren die „Helden“ müde und Frau- en und Ärzte wurden von der „psy- chogenic illness“ ergriffen. Mehrere Studien und Untersuchungen ver- schiedener Organisationen konnten keine prinzipiellen Unterschiede bei der Befragung der Phänomologie

von Personen, die am Golf gewese- nen waren im Vergleich zu denen, die nicht dort waren, feststellen.

Da Nozebo-Phänomene ansteckend seien, werde die individuelle Be- handlung nicht weit führen, wenn nicht zugleich die Gesellschaft sich selbst erzieht und dadurch immuni- siert. Aber es gehöre zu den Grund- rechten und -eigenschaften des Men- schen, daß er seine Welt psycho- sozial bewertet und ausstattet, auch mit Nozebos. Der Umgang mit Risiken wird eher durch Verhand- lung innerhalb eines Sozialsystems geregelt als durch gehorsame Befol- gung patriachalischer wissenschaft- licher Vorgaben.

Meistens psychische Störungen Ursache

Prof. Dr. Thomas Zilker, Techni- sche Universität München, bezwei- felt, ob es sich bei den als MCS oder auch IEI bezeichneten Phänomenen tatsächlich um eine Krankheitsen- tität handeln kann. Die Symptome würden von den Patienten durch eine Vergiftung mit verschiedensten Um- weltchemikalien erklärt, obwohl die verdächtigten Giftstoffe sowohl im Körper, als auch in der Umgebung entweder überhaupt nicht oder nur in subtoxischen Spuren nachgewiesen werden können. Nach seiner Erfah- rung leidet ein großer Teil der Pati- enten unter psychischen Störungen.

Dabei handelt es sich vorwiegend um somatiforme Störungen, Dysthymien und Angstörungen, was sich auch in einer noch laufenden Studie zu be- stätigen scheint. Zilker vertritt die Ansicht, daß durch die Konditionie- rung dieser Patienten auf eine Vergif- tung durch Umwelttoxine der Weg für eine notwendige Psychotherapie, am ehesten in Form einer Verhal- tenstherapie, verstellt wird.

Prof. Dr. Monika Bullinger,Uni- versität Hamburg, stellt Ergebnisse einer Studie über das Sick-Building- Syndrom (SBS) vor. Das SBS ist ein Beschwerdemuster, das primär mit der Klimatisierung von Innenräumen assoziiert wird. Die Beschwerden be- treffen Schleimhäute, Haut- und Au- genreizungen, Kopfschmerzen, Kon- zentrationsstörungen, Geruchsbelä-

stigung, rheumatische Beschwerden, Stirnhöhlenprobleme, Halsschmer- zen, Müdigkeit, Atembeschwerden und allgemeine Überempfindlichkeit.

Diese Studie untersuchte mit psycho- metrischen Methoden die Befindlich- keit an über 4 600 Beschäftigten. Die Laufzeit des Projekts betrug vier Jah- re. Das Ergebnis war, daß das Aus- maß der Befindlichkeitsstörungen im hohen Maße von den psychosozialen Faktoren abhängt. Die Evidenz, hier die Rolle der Klimaanlagen, ist noch fraglich und festzuhalten bleibt, daß, wenn man die gemittelten Werte be- trachtet, eine äußerst geringe Bela- stung an Schadstoffen vorhanden war.

Prof. Bullinger räumte ein, es sei zu überlegen, ob man bei den Ergebnis- sen nicht Extremgruppen bilden sollte und deren Werte genauer untersu- chen müsse. Die Definition des SBS als einheitliche nosologische Katego- rie ist, so Bullinger, diskussionswür- dig.

Dr. Ute Strehl, Institut für Me- dizinische Psychologie und Verhal- tenstherapie, Universität Tübingen, stellte eine mögliche Arbeits- hypothese für die verhaltensthera- peutische Therapie von MCS-Patien- ten vor. Danach ist MCS ein durch Reize erlerntes Verhalten, das der Pa- tient mit dem Therapeuten wieder verlernen muß. Mit einem integrati- ven Ansatz soll ein Erklärungsmodell, wie es zur Erkrankung gekommen ist, vom Patienten akzeptiert werden.

Dies wäre ein möglicher Weg, um ak- tiv mit der Krankheit umzugehen. Es besteht jedoch ein erheblicher For- schungsbedarf in der Therapiefor- schung und es gibt auch für diese Ar- beitshypothese keine kontrollierten Studien, so Strehl.

Für die Begutachtung des soge- nannten MCS-Syndroms forderte Prof. Dr. Hans Hermann Marx,Stutt- gart, fachkundige Gutachter, die ihre Wertung objektiv und unabhängig abgeben. Es sollen nur solche Unter- suchungsmethoden relevant sein, die in mehr als nur Einzelfällen aner- kannt sind. Abschließend bemerkte Prof. Dr. Wilfred A. Nix,Universität Mainz, daß zur Verbesserung der wissenschaftlichen Datenlage, insbe- sondere zur Situation in der Bundes- republik, weiter Forschungsbedarf

besteht. Catrin Marx

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M E D I Z I N KONGRESSBERICHT

(52) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 22, 4. Juni 1999

Referenzen

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