DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
KURZBERICHTE
dem EBM-System und dem halben BRD-Punktwert rechnen, sind für viele DDR-Ärzte noch zu vage.
Für viele DDR-Kolleginnen und Kollegen kommt der Sprung in die niedergelassene Praxis schon aus Al- tersgründen nicht mehr in Frage. Ab dem 45. Lebensjahr läßt sich die Exi- stenzgründung — auch unter Berück- sichtigung des erzielbaren Famili- eneinkommens — für viele nicht mehr rechnen. Hinzu kommt - Viele Ärzte in staatlichen Krankenhäusern, Am- bulatorien und Polikliniken haben einen finanziellen und sozialen „Be- sitzstand" erreicht, der von keinem noch so wohlgesonnenen Arbeitge- ber kurz und mittelfristig „entgol- ten" werden könne, so die Mehr- heitsmeinung in Leipzig.
Beruflich und berufspolitisch er- fahrene Kollegen, die in Leipzig re- ferierten (so der niedergelassene Arzt Dr. med. Dr. jur. Alexander P.
F. Ehlers, München) empfahlen Pra- xisgründungen mit möglichst gerin- gem Einsatz, um das Kosten-Lei- stungs-Verhältnis zu optimieren. Es genüge, so Ehlers, zunächst mit Ste- thoskop und einer Liege anzufangen.
Dem widersprachen aber niederge- lassene Ärzte aus der DDR: So kön- ne man in der DDR nicht gegen die Polikliniken konkurrenzfähig blei- ben und existieren.
Praxis-Raus not
Vielfach klagen niederlassungs- willige Ärzte in der DDR über Schwierigkeiten, geeigneten Praxis- raum anzumieten oder zu erwerben.
Immer noch gilt in der DDR die Wohnungszwangs-Bewirtschaftung mit einem kräftezehrenden Behör- denkrieg. Eine Wohnung kann nicht ohne weiteres in eine Praxis „um- funktioniert" werden.
Dennoch sind die DDR-Kolle- gen bewunderswert optimistisch und unverdrossen, wenn sie sich fest ent- schlossen haben, in freier Praxis nie- derzulassen. Ein Teilnehmer in der KMU Leipzig riet: „Wenn Sie Druck beim Rat der Stadt machen, können Sie die Räume unter Umständen mieten oder pachten. Sie müssen nur beharrlich sein und selbst aktiv wer- den . . ." Dr. Harald Clade
Behinderte in der DDR:
Staatliche Mittel,
zentralistische Führung
Eine sorgfältige Prüfung der Be- dürfnisse behinderter Menschen und die Mitwirkung bei der Angleichung der sozialen Systeme haben rund 100 Vertreter von Selbsthilfeverbänden und -initiativen aus der DDR und der Bundesrepublik kürzlich in Schmallenberg (Sauerland) gefor- dert. Bei einer dreitägigen Begeg- nungsveranstaltung, zu der die Bun- desarbeitsgemeinschaft Hilfe für Be- hinderte und ihre Mitgliedsverbände eingeladen hatten, wurde deutlich, daß die Übernahme bundesdeut- scher Gesetze sowohl bei den Betrof- fenen aus der DDR als auch bei der bundesdeutschen Behinderten- Selbsthilfe nicht nur als Chance be- griffen wird. Beide Seiten machten erhebliche Einwände geltend.
„Die gesetzlichen Regelungen im Rahmen des Schwerbehinderten- gesetzes reichen nicht aus, mit Schwerbehinderten besetzte Ar- beitsplätze zu sichern und arbeitslo- se Schwerbehinderte beruflich wie- der einzugliedern", erklärten Betrof- fene in einem Forderungskatalog. Es werde völlig außer acht gelassen, daß die nötige Infrastruktur zur Umset- zung des Gesetzes, wie z. B. Haupt- fürsorgestellen und die entsprechen- de Gerichtsbarkeit, bisher in der DDR fehlten.
Weitere Bereiche des Sozialsy- stems, die behinderte Menschen in der DDR trotz der anerkannten Vorteile der bundesdeutschen Rege- lungen mit Skepsis betrachten, sind:
• die mangelnde Absicherung des Pflegekostenrisikos,
• die beschränkten Befugnisse der Schwerbehindertenvertretungen sowie
• das bundesdeutsche Sozialhil- ferecht.
Die Abschaffung einer der weni- gen tatsächlichen „Errungenschaf- ten" des DDR-Systems, die Invali- denrente für behinderte Menschen ab dem 18. Lebensjahr, betrachten viele Menschen in der DDR als Ver-
schlechterung ihrer Situation. „Die bisherigen Invalidenrentner werden
plötzlich zu Sozialhilfeempfängern, was wir als Deklassierung empfin- den", sagte Dr. Rolf Kießling aus Magdeburg, Präsidiumsmitglied des neuen „Behindertenverbandes der DDR".
Kießling nutzte das Treffen zu einer umfangreichen Darstellung der Situation Behinderter in der DDR.
Bis Oktober/November 1989 gab es demnach in der DDR lediglich einen Blinden- und Sehschwachenverband (BSV) sowie einen Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband (GSV).
Beide sind 1957 gegründet worden.
Daneben existierte noch im Rahmen des Deutschen Turn- und Sportbun- des der DVfV — Deutscher Verband für Versehrtensport. Diese Organi- sationen erhielten staatliche Mittel und wurden zentralistisch von Berlin aus geführt, wie Kießling ausführte.
Von vielen Körperbehinderten sei seit mindestens 20 Jahren immer wieder versucht worden, eine eigene Organisation zu gründen. Sie erhiel- ten stets den Hinweis, daß ihre Inter- essen beim FDGB, der Gewerk- schaft, ausreichend vertreten wür- den. In einigen Städten, wie zum Beispiel Halberstadt, konnten sich trotzdem kleine Selbsthilfegruppen etablieren, die aber immer am Ran- de der Legalität lebten. Allerdings existierte sowohl in der evangelisch- lutherischen wie in der katholischen Kirche seit langem eine gemeinsame Hilfe zur Selbsthilfe. Es bestanden nach Angaben Kießlings auch einzel- ne staatlich geförderte Beratungs- stellen, besonders für Alkoholkran- ke, die aber fast immer nur dem per- sönlichen Engagement einzelner Ärzte zu verdanken waren.
Zwar gab es ein großes staat- liches Netz mit Bezirks- und Kreis- Rehabilitations-Zentren (BRZ), be- setzt mit Ärzten und Fürsorgerin- nen. Allerdings waren die Unter- schiede in den einzelnen Bezirken beträchtlich. Diesen staatlichen Re- ha-Stellen waren sogar Rehabilita- tionskommissionen zugeordnet, in die Behinderte berufen, aber keines- wegs von den Betroffenen selbst de- mokratisch delegiert oder gewählt wurden, so Kießling. Mit dem Reha- System sei es nicht so optimal be- stellt gewesen, wie es heute Mitar- beiter darzustellen versuchten. EB A-2532 (28) Dt. Ärztebl. 87, Heft 34/35, 27. August 1990