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Gute Arbeit – Würde, Respekt und gutes Geld Ein Beitrag des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer zum Zustand des Kapitalismus im 21. Jahrhundert

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Academic year: 2022

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21. Jahrhundert

Wir müssen dringend über den Zustand des Kapitalismus im 21. Jahrhundert reden.

Zunächst waren es ja nur die Finanzmärkte, die von einem wachsenden Chaos erfasst wurden. Die Folgen waren weniger hierzulande zu besichtigen. Aber sie waren

deswegen nicht weniger schlimm: Vielmehr stürzten raffgierige Währungsspekulanten Ende der 90er Jahre aufstrebende Volkswirtschaften in Südostasien und Lateinamerika in tiefe Krisen. Und Millionen Menschen in die Armut.

Jetzt aber wird erkennbar, dass das Chaos der Märkte auch unsere Wirtschaft erreicht.

Die umfassende Deregulierungs- und Privatisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte hat den Akteuren der Finanzmärkte neue Geschäftsfelder erschlossen.

Ganz normale Unternehmen rücken ins Visier der Renditejäger. Das muss nicht von Nachteil sein. So profitierte der Motorenbauer Honsel in Meschede außerordentlich vom Einstieg eines Privat-Equity-Unternehmens. Das einst angeschlagene mittelständische Unternehmen ist heute weltweit einer der führenden Automotorenhersteller.

Aber was geschah mit dem Unternehmen Deutschen Börse? Wie wurden Vorstand und Aufsichtsrat von Fonds-Eignern dafür abgestraft, weil sie versucht hatten, aus der Frankfurter und der Londoner Börse einen europäischen Spitzenhandelsplatz zu machen?

Jetzt werden die Rücklagen der Börse Frankfurt regelrecht ausgequetscht, kurzum, die Kasse für strategisch sinnvolle Aktionen geplündert.

Oder was passierte bei dem Armaturenhersteller Grohe? Kaum ein ordentliches Hotel auf der Welt, in dem nicht Grohe-Armaturen in den Bädern wären. Doch in den vergangenen Jahren gaben sich am Firmensitz in Lahr angebliche Investoren die Klinke in die Hand und pressten das Eigenkapital aus dem Unternehmen. Aus der Firma Grohe, die einmal ihre eigene Bank war, wurde ein Krisenunternehmen, das am Schuldendienst zu Grunde zu gehen droht. Nun werden fast 1.000 Mitarbeiter entlassen.

Was bei Grohe geschehen ist, das nenne ich einen Akt brutaler Barbarei.

Und wenn ich dann lese, wie sich der Investor Guy Wysser-Pratt jüngst auf der Hauptversammlung des Maschinenbauers IWKA aufgeführt hat, dann habe ich schon Angst um das Unternehmen und die Arbeitsplätze. Das Unternehmen soll aufgespalten und in Einzelteilen verkauft werden. Zum Wohle des Investors. Nach dem Unternehmen und den Arbeitsplätzen fragt da heute keiner.

Es hilft nichts darum herumzureden: Die Entflechtung der Deutschland AG war ein rot- grünes Projekt. Und die Gewerkschaften haben auch begrüßt, dass die vermachtete und schwerfällig gewordene deutsche Konzernlandschaft mit ihren Überkreuzverflechtungen aufgebrochen werden sollte. Aber wenn ich heute noch einmal Revue passieren lasse, mit welcher Energie die Verflechtungen abgebaut wurden, aber keine neuen,

europäischen Championstrukturen aufgebaut wurden, dann muss ich feststellen: Die Deutschland AG befindet sich nun in schlechter Verfassung. Ein Netz europäischer Champions wäre stark gewesen, um auf den Weltmärkten zu bestehen. Aber auch stark genug, um vor dem Zugriff von Spekulanten sicher zu sein.

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Inzwischen gehören 50 Prozent des Aktienkapitals ausländischen Gesellschaften und Anlegern. Dagegen ist im Prinzip nichts zu sagen. Aber wir brauchen wieder klarere Regeln für Investoren.

Die Unternehmen müssen offen legen, wer ihr Eigentümer ist und wie sie sich

finanzieren. Für Fonds und Anleger mit Sitz in nahezu rechts- und steuerfreien Räumen wie den Cayman-Islands müssen besonders scharfe Aufsichtsregeln gelten,

kurzfristige Kapitalanlagen müssen besteuert werden,

Die Finanzaufsicht muss mit besonderer Sorgfalt jene Gesellschaften und Anleger überwachen, die mit Bankkrediten den überwiegenden Anteil von Beteiligungskäufen finanzieren.

Die Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne, die wie ein Turbo die Auflösung der Deutschland AG beschleunigt hat, muss zurückgenommen werden.

Das ist bei weitem noch kein vollständiger Katalog von Aufgaben, die vor uns liegen.

Aber wir müssen jetzt beginnen zu handeln. Denn wir Demokraten müssen aufpassen:

Die Unordnung der Märkte, das Chaos in Unternehmen wie der Börse, Grohe oder IWKA, hinterlässt tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung. Es muss nicht jeder betroffen sein, um ein Gefühl für die Ohnmacht der Politik und damit des Souveräns zu entwickeln. Ich warne sehr eindringlich: ohne soziale Regulierung wird die

marktwirtschaftliche Ordnung ihre Akzeptanz verlieren. Die Politik muss ihren Vorrang vor der derzeitigen Diktatur des Kapitals wieder herstellen. Wenn die Menschen, das Volk, nicht mehr das Gefühl haben, souverän zu sein, dann hat die Demokratie schon Schaden genommen.

Wer sich wagt, die Macht des Kapitals zurück zu drängen, muss sich entscheiden, auf welcher Seite er in einer ganz harten Auseinandersetzung stehen will: Auf der Seite der Vernunft, die die Globalisierung als Akt der Befreiung vom Nationalstaat sieht, zugleich aber klare Regeln für die Märkte einfordert? Oder auf der Seite derjenigen, die die Globalisierung für einen unveränderbaren Naturzustand halten, ja denen das Chaos auf den Märkten sogar zu pass kommt, um einfallslose bis willfährige Politik als alternativlos zu präsentieren.

Machen wir uns nichts vor: Mit den Vernünftigen die Globalisierung auch von innen heraus zu gestalten, heißt an einem großen Rad der Geschichte zu drehen. Denn die heutige Unordnung hat ohne Frage bereits zur Herausbildung neuer Machtstrukturen geführt. Die neue Elite, die ihre Wohnsitze zwischen Frankfurt, New York und Shanghai scheinbar mühelos wechselt, unterscheidet sich von der alten Wirtschaftselite der Deutschland AG darin, dass sie sich nicht mehr nationalen Verfassungen verpflichtet fühlt. Diese neue Elite, nicht ganz falsch wird sie als bisweilen auch als Meritokratie beschrieben, setzt sich mit Hilfe großer Rechtsanwaltskanzleien ihr eigenes Recht, gleich, ob sie in Demokratien oder Diktaturen Handel und Wandel betreibt. Diese Elite, deren geradezu aristokratische Selbstdefinition auf schier unglaublichem individuellem Eigentum oder der Verwaltung großer Vermögen beruht, setzt sehr viel Geld und Mittel ein, um Konkurrenz in ihren Geschäften auszuschalten: Nationale Parlamente umgeht sie bei der Besteuerung ihrer Gewinne genau so elegant, wie sie Gewerkschaften als

Instrumente des Schutzes von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bekämpft oder – je nach Stärke - als notwendiges Übel akzeptiert.

Angesichts dieser Entwicklung ist es mir vollkommen schleierhaft, wie eine große Volkspartei wie die CDU glauben kann, das zukünftige Glück der Beschäftigten komme aus betrieblichen Bündnissen. Die wachsende Konzentration ökonomischer und damit politischer Macht auf der Kapitalseite nimmt immer mehr zu. Anonyme Fonds kaufen die Reste der Deutschland AG und quetschen Unternehmen wie Belegschaften aus. Sie

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beginnen, die Regeln zu diktieren, unter denen wir leben. Ist es ist in einer solchen hochgradig vermachteten Ökonomie nicht geradezu grotesk, wenn eine Volkspartei sich anschickt, das Tarifrecht zu schleifen?

Es ist doch so: Schon heute werden Belegschaften von vielen Arbeitgebern erpresst.

Aber gesetzliche Eingriffe in Betriebsverfassungsgesetz und Tarifvertragsrecht würden diese Nötigungen auch noch legalisieren.

Eine Skizze für einen Ausweg aus der scheinbaren Machtlosigkeit von Politik aus der Geschichte könnte wie folgt aussehen:

Es waren die Erfahrungen politischer Instabilität in der Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre, die politischen Folgen des Nationalsozialismus und der beiden Weltkriege, die verantwortlich denkende Frauen und Männer genutzt haben, um den Kapitalismus zu zivilisieren. Sie hatten erkannt, dass die marktwirtschaftliche Ordnung zwar Wohlstand bringt – aber dies nie aus sich selbst für breite Schichten schafft.

Sie entschlossen sich, die Trennung der wirtschaftlichen Ordnung von der sozialen und gesellschaftlichen Ordnung aufzuheben. Sie hatten erkannt, dass das Fundament moderner Gesellschaften im Kern aus einer Ordnung der Ökonomie besteht, die ein stetiges Wachstum der Wirtschaft und einen hohen Beschäftigungsstand anstrebt.

Untrennbar davon wurden Systeme der sozialen Sicherung entwickelt, die die großen Lebensrisiken der Menschen abdeckten. Dieses keynesianische Wirtschaftsmodell ließ sich national organisieren. Es wurde ergänzt durch eine Ordnung der Finanzmärkte. Die Dollar-Bindung der wichtigsten Währungen verhinderte Währungsspekulationen und sorgte dafür, dass Finanzmärkte und Realwirtschaft miteinander verwoben waren.

Mit der Aufgabe der Dollar-Bindung zu Beginn der 70er Jahre zerbrach diese Ordnung mehr und mehr. Damals noch herrschende Handelsschranken existieren nicht mehr. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten heute in Märkten mit offenen Grenzen.

Das heißt: Es ist richtig, dass die Tätigkeit von Hedge- und Privat Equity-Fonds in Europa dringend re-reguliert werden muss. Es gilt aber auch: wenn wir die Auswüchse der Globalisierung korrigieren wollen, müssen wir die Globalisierung selbst wieder in geordnete Bahnen lenken. Die Stichworte, grob umrissen, sind:

bessere Koordination der Zentralbanken, um starke Währungsschwankungen zu vermeiden

Stärkung internationaler Organisationen der UNO Austrocknen von Steueroasen

Internationales Insolvenzrecht für Staaten

Aufbau eines ökonomisch starken und sozial gefestigten Europas Die letzte wirkliche globale Ordnung wurde nach Weltwirtschaftskrise,

Nationalsozialismus und Weltkrieg geschaffen. Derzeit geht die Ordnung verloren. Aber nicht nur in Deutschland, auch in anderen wichtigen Staaten Europas dauert die Krise schon zu lange, so dass eine Erosion von Vertrauen in Eliten, Staat, Gesellschaft und Ökonomie begonnen hat. Die Menschen nehmen den Strukturwandel vielfach als Auflösungserscheinungen wahr. Die junge Generation, die in Zeiten der new economy noch Hoffnung hatte, sich durch Wendigkeit in der Risiko-Gesellschaft zu etablieren, steht vor den Trümmern ihres Projektes. Heute wächst die Generation Praktikum nach, was bedeutet, umsonst bis zum Umfallen zu arbeiten - das ist die bittere Realität vieler Hochschulabgänger heute.

Wir sind es den Menschen schuldig, dass wir unseren Sozialstaat den Anforderungen der Zeit anpassen. Das heißt nicht, ihn stromlinienförmig den Erwartungen der Märkte auszuliefern. Sondern ihn so zu gestalten, dass er den Menschen dient und ihren veränderten Erwartungen. Und zugleich finanzierbar bleibt.

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Ein solcher Prozess dauert Jahre. Und jedes Jahr, das ohne Initiativen für eine neue Ordnung verstreicht, ist ein verlorenes Jahr. Es sind nun fast 25 Jahre her, dass Helmut Schmidt sich in der Spätphase seiner Regierungszeit vom Projekt der sozialliberalen Modernisierung abwandte, und voll auf die Karte des Kapitals setzte. Es dankte mit seiner Abwahl und einem Politikwechsel.

Ein Politikwechsel, der bis heute anhält. Die Agenda 2010 ist für die Menschen der Inbegriff der jüngsten Welle von Sozialabbau. Die Menschen sind enttäuscht über all die haltlosen Versprechungen der vergangenen 25 Jahre. Ein Wirtschaftsminister versprach 500.000 neue Arbeitsplätze als Folge der Lockerung des Ladenschlusses. Ein

Arbeitsminister glaubte, durch die Einführung von befristeten Arbeitsverträgen hunderttausende neue Stellen schaffen zu können. Ein berühmter Vorsitzender einer Kommission versprach, mit seinen Reformen lasse sich die Arbeitslosigkeit binnen zweier Jahre halbieren.

Der Glaube, man müsse den Unternehmen nur möglichst viel Steuern schenken,

Abgaben erlassen und sie - gleich wie - von Regulierungen befreien, hat sich verbraucht.

Weil er einfach falsch ist. Auch wenn die Union gerade vorne liegt: Die Menschen wollen Stabilität und Sicherheit in ihrem Leben. Und keine weitere Demontage des Sozialstaats.

Ich warne also davor, die Dosis der falschen Medizin zu erhöhen. Manches sollte korrigiert werden. Die Zumutbarkeitsregelung beispielsweise. Sie ist von FDP-nahen Bürokraten im Wirtschaftsministerium ersonnen und von CDU, CSU und FDP in die Hartz-Gesetze hinein erpresst worden.

Deutschland steht vor weit reichenden Entscheidungen. Gelingt der Ausbruch aus Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit? Oder hält die Depression an?

Wir haben nicht mehr viel Zeit. Schon bald nach ihrer Wahl wird jede Regierung – gleich welcher Couleur – an den Ergebnissen ihrer Politik gemessen werden. Die Kernfrage ist, ob die Zahl der Arbeitslosen weiter steigt? Ob diejenigen immer mehr werden, die arm trotz Arbeit sind? Oder ob dieses Land aus dem Teufelskreis herauskommt? Ja, wir brauchen einen anderen Sozialstaat, der den Herausforderungen der Zeit standhält. Aber wir brauchen keinen Abbau des Sozialstaates. Und schon gar keine Kampfansagen an Organisationen.

Zurück zu diesem Land. Und dem, was bald schon getan werden muss. Jetzt. Weil es keinen Aufschub gibt, wenn Millionen Menschen in Not leben.

Denn wir zählen nicht nur fast fünf Millionen Arbeitslose.

In Deutschland arbeiten auch 7,5 Millionen Menschen, die verdienen nicht einmal drei Viertel des Durchschnittseinkommens. 2,5 Millionen verdienen nicht einmal die Hälfte.

Da geht es nicht um Riesen-Summen, wie manche Ideologen unterstellen. Da geht es um Brutto-Monatslöhne von 600 bis 700 Euro aufwärts bis 1600, 1700 Euro. Da geht es um Stundenlöhne von drei, vier oder sieben Euro!

Es geht um Millionen Einzelschicksale. Hier sind drei:

Einer 49jährige Verkäuferin aus Stuttgart drohte der Arbeitgeber mit Entlassung, wenn sie nicht 38 statt 23 Stunden arbeiten würde – fürs gleiche Geld! Sie blieb und verdient unverändert 800 Euro im Monat. Die Aussichten für alleinstehende Mütter seien eben schlecht auf dem Arbeitsmarkt.

Ein 51jähriger ehemaliger Bergbauarbeiter aus Dortmund schiebt heute für drei Euro Stundenlohn Dienst als Wachmann. Die Rechnung über 500 Euro für seine IHK-Prüfung musste er selbst bezahlen.

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Und nicht zu vergessen, der Küchenchef aus Berlin, der statt einer Lohnabrechnung plötzlich 2000 Euro in bar bekam. Für Versicherung und Steuer solle er nun selbst sorgen. Wenn es ihm nicht passe, solle er gehen, draußen warteten hunderte andere auf seinen Job.

So bitter es ist, wir haben Tarifverträge abgeschlossen, die bringen einer Verkäuferin in einer saarländischen Bäckerei gerade mal 1000 Euro Bruttolohn. Oder einem jungem Friseur aus Sachsen 3 Euro 82 Cent in der Stunde. Macht am Ende des Monats 615 Euro.

Ist das ein gerechter Lohn? Oder nutzen die Arbeitgeber dieser Branchen nicht schamlos die Massenarbeitslosigkeit aus? Wie soll denn ein Tarifvertrag wirken, wenn von mehr als 20.000 Berliner Gastwirtschaften nur noch 1.200 im Arbeitgeberverband sind? Da können wir unsere Mitglieder einfach nicht mehr vor vielfachem Lohndumping und teilweise entwürdigenden Arbeitsbedingungen schützen.

Wenn wir wissen wollen, warum die Stimmung im Land ist, wie sie ist, dann müssen wir uns klar darüber werden, dass wir hier über 5 Millionen Arbeitslose und 7,5 Millionen prekär Beschäftigte reden, also von mehr als 12 Millionen Menschen, ihre Angehörigen noch gar nicht mitgezählt.

Diese Menschen können nicht warten, bis wir mit beherzter Wirtschaftspolitik die Rahmenbedingungen für Wachstum der Wirtschaft und Arbeitsplätzen verbessert habe.

Sie erwarten zu Recht von jeder Partei, die sich bis September um eine politische Mehrheit bemüht, zügig eine Lösung ihrer ganz existenziellen Probleme.

Als Gewerkschafter steht für mich fest: Tarifverträge müssen immer an erster Stelle stehen, wenn es darum geht, Beschäftigten ihren Anteil am Wohlstand zu sichern und sie vor Lohndumping zu bewahren.

Wo wir flächendeckend ordentliche Tarifverträge haben, bin ich sehr dafür, dass sie mit Hilfe des Entsendegesetzes für allgemeinverbindlich erklärt werden.

Wo aber Zustände wie in der Berliner Gastronomie herrschen, ist es natürlich unsere erste Aufgabe als Gewerkschaften, dass wir wieder stärker werden, um die Arbeitgeber zu Tarifverhandlungen zu bewegen. Aber dafür brauchen wir Zeit. Und deshalb brauchen die Menschen in vielen Branchen gesetzliche Mindestlöhne – also der Lage des

jeweiligen Wirtschaftszweiges angemessen.

Die Untergrenze setze ich bei einem Stundenlohn von 7,50 Euro Stundenlohn an, das sind umgerechnet rund 1200 Euro Monatslohn. Es gibt dafür eine Reihe von Gründen:

Die Pfändungsfreigrenze liegt bei einem Nettolohn von 939 Euro. Das entspricht einem Bruttolohn von rund 1200 Euro.

Die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens wird mit 1200 Euro in etwa erreicht. Ich glaube, es gebietet einfach schon der Anstand, dass niemand mit weniger als der Hälfte eines mittleren Einkommen leben muss.

Im Vergleich mit Frankreich und Italien, den Niederlanden und Großbritannien würden sich gesetzliche Mindestlöhne von 7,50 Euro in der Stunde an aufwärts voll im europäischen Rahmen bewegen.

Durch den Vorrang der Tarifautonomie wird die Politik gar nicht umhin können, als die Mindestlöhne nach Branchen zu differenzieren. Dabei sollten die Tarifparteien mit von

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der Partie sein. Freilich: Dazu müssen auch die Arbeitgeber ihre Blockadehaltung gegen Allgemeinverbindlichkeitserklärungen aufgeben. Aber wir werden sie politisch nicht mehr aus der Klammer lassen.

An den Branchen Bau und Gastronomie wird das deutlich: Am Bau ist nicht der Organisationsgrad von Arbeitgebern und Beschäftigten schlecht. Vielmehr stand die Bauwirtschaft unter erheblichem Preis- und vor allem Lohndruck durch Billigkonkurrenz aus anderen europäischen Ländern. Deswegen ist der höchste Mindestlohn mit 2100 Euro im Monat das Ergebnis eines per Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages.

Ganz anders bei den Gaststätten und im Hotelgewerbe. Dort ist die Tarifbindung so schlecht, dass keine anständigen Tarifverträge zustande kommen können. Kurzum: In der Branche herrscht in weiten Teilen Wildwest. Diesen Zuständen muss sich Politik stellen. Wir brauchen also unter Wahrung der Tarifautonomie meines Erachtens nicht eine einzige Lösung. Sondern ganz nach dem Prinzip der Subsidiarität abgeleitete oder ähnliche Systeme.

Der Mensch muss wieder in den Mittelpunkt aller Politik zurückkehren. Die Ökonomie an sich schafft keine Werte. Kann sie ungehemmt ihre Kräfte entfalten, werden sehr schnell aus einzelnen Fehlentwicklungen Flächenbrände. Die Menschen erwarten Antworten auf die zerstörerischen Kräfte des Marktes. Und sie haben ein Recht darauf, dass die

politische Elite sich ihren Primat von der Ökonomie zurückholt. Der Einsatz für angemessene gesetzliche Mindestlöhne kann in der politischen Auseinandersetzung unserer Zeit für Millionen Menschen sehr deutlich machen, welche Partei, welcher Kandidat auf welcher Seite steht. Ob Mindestlohn oder Re-Regulierung der

Finanzmärkte: Ich kann nur allen Politikern raten: Enttäuscht die Menschen nicht!

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