DER JAHRE 1879 BIS 1882
Von Alexandbe Schölch, Berlin
Vier liurze Perioden der Krise und des historisch bedeutsamen Umbruchs
bilden das Gerüst der modernen Geschichte Ägyptens: 1798-1805, 1876-
1882, 1919-1924 und 1952. Die Protagonisten des politischen, gesellschaft¬
lichen und wirtschaftlichen Wandels waren dabei Repräsentanten jeweils
verschiedener sozialer Gruppen, die von unterschiedlichen Motiven geleitet
wurden und die divergierende Ziele verfolgten, auch wenn die Geschichte
heute gerne so dargestellt wird, als ob sie sich geradlinig und mit zwingender
Notwendigkeit auf den Höhepunkt" von 1952 zu entwickelt hätte.
Über die führende, ausschlaggebende Rolle der ' Ulamä' in der Periode von
der napoleonischen Invasion bis zur Machtergreifung Muhammad 'Alis sind
wir relativ gut unterrichtet. Auch das Schicksal der 'Ulamä' als sozialer
Gruppe im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde schon mehrfach
beschrieben, vor allem von Afaf Lutfi al-Sayyid', Daniel Crecelius* imd
Haim Shaked*. Doch blieb die Darstellung ihres Niedergangs in politischer,
ökonomischer und sozialer Hinsicht noch etwas impressionistisch, da einer¬
seits leicht zugängliche Quellen ohnehin relativ rar sind, andererseits aber
zur Verfügung stehendes Material wie die monumentale Dokumentenedition
Amin Sämis noch nicht voll ausgewertet wurde. Über die Rolle der 'Ulamä'
im Verlauf der Krise, die zur britischen Okkupation Ägyptens führte, bietet
die Literatur nur spärUche und unsichere Informationen. Diese Rolle etwas
zu erhellen, soll hier versucht werden.
Zunächst müssen wir die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der 'Ulamä'
klären und diese mit Blick auf die soziale Rangordnung etwas differenzieren.
' A Socio-Economic Sketch of the 'Ulamä' in the 18th Century. Paper für das
internationale Kolloquium zur Geschichte Kairos, März/April 1969; The Role of
the 'Ulamä' in Egypt during the Early Nineteenth Century. In: P.M. Holt
(ed.): Political and Social Change in Modem Egypt. London 1968; The Be¬
ginnings of Modernization among the Rectors of al-Azhar, 1798-1879. In: Wil¬
liam R. Polk und Richard L. Chambers (ed.): Beginnings of Modernization
in the Middle East. Chigaco 1968.
2 The Emergence of the Shaykh al-Azhar as the Pre-eminent Religious Leader
in Egypt. Paper für das intemationale Kolloquium zur Geschichte Kairos, März/
Aprd 1969.
* The Biogi-aphies of 'Ulamä' in Mubärak's Khitat as a Source for the History of the 'Ulamä' in Nineteenth-century Egypt. In: Gabbiel Baeb (ed.) : The 'Ulamä'
in Modem History. Asian and African Studies, vol. 7, Jemsalem 1971.
Die Rolle der 'Ulamä' in der ägyptischen Krise 251
Zuordnungskriterien sind in erster Linie Ausbildung und Amt, wobei eine
entsprechende Ausbildung, vor allem an der Azhar und anderen großen
Moscheeschulen des Landes (fantä, Dasüq, Damiette, Alexandria) in der
Praxis Voraussetzung einer Amtsübertragung war. Im Gegensatz zu Afaf
Lutfi al-Sayyid und Crecclius möchte Shaked* die Häupter der Süfi-Orden
und der ASräf nicht zu den 'Ulamä' zählen. Eine solche Beschränkung ist
aber aus mehreren Gründen unangebracht, zumindest für die hier zu erör¬
ternde Periode. Einerseits waren viele 'Ulamä' gleichsam ,, Wanderer zwi¬
schen zwei Welten", die auch, oder zeitweilig, in den Bannkreis von Süfis
geraten waren; andererseits hatten z. B. Saih 'Abd al-Bäqi al-Bakri und
Saih 'Abd al-Häliq as-Sädät an der Azhar studiert. Darüber hinaus ist
diese Beschränkung auch empirisch unmöglich, weil etwa der Saih al-Bakri^
(der in der hier betrachteten Zeit zugleich Naqib al-asräf war) und der Saih
as-Sädät' stets zusammen mit Azhar-Lehrern, Qädis, Muftis, etc. als die
'Ulainä' auftraten. Der Saih al-Bakri fungierte im April 1879 sogar als
Repräsentant und Sprecher der Gesamtgruppe. Und als die Notabein des
Landes am 26. Juni 1879 dem neuen Hidiw Taufiq huldigten, wurde ihre
Abordnung angeführt vom Saih al-Bakri, vom Qädi Misr und vom Saih al-
Azhar, die in der genannten Reihenfolge vor den neuen Herrscher traten'.
Was die gruppeninterne soziale Differenzierung betrifft, so muß man auch
hier vom empirischen Befund ausgehen. Mai Lutfi al-Sayyid und Crecelius
haben bereits eine Unter-Gruppe an der Spitze der Hierarchie identifiziert,
wobei der Begriff der Hierarchie natürlich nicht in einem theologischen,
sondern im soziologischen Sinn zu verstehen ist. Für die hier zur Debatte
stehende Periode muß die Liste der eminentesten 'Ulamä', der Inhaber
bestimmter höchster Ämter und Funktionen, welche die beiden genannten
Autoren aufgestellt haben, noch etwas erweitert werden. Diese Unter-Grup¬
pe, die in Krisensituationen oder bei feierlichen Anlässen, immer dann, wenn
sich die traditionellen Repräsentanten der umma versammelten, als Vertre¬
tung der 'Ulamä' auftrat bzw. zusammengerufen wm'de, bestand aus dem
Qädi Misr, dem Mufti ad-diyär (nämlich dem Mufti der Hanafiten), den
Muftis der Mälikiten und Säfi'iten, dem Saih al-Azhar, dem Saih al-Bakri
" Op. cit., S. 43.
5 Über das Haus al-Bakri vgl. 'Ali Mubarak: Al-hitat at-taufiqiya al-gadida
li-Mi^r al-qähira wa-mudunihä wa-bilädihä al-qadima wa-s-sahira. 20 Bände,
Büläq 1304-1306, Bd. 3, S. 121-135; Ilyäs Zahüba: Mir'ät al-'a§r fi tärih wa-
rusüm akäbir ar-rigäl Mi^r. 3 Bände, Kairo 1897, Bd. 2, S. 217-224, 224/1-224/
XXXVI; Zaki Muhammad Mugähid: Al-a'läm as-sarqiya fi 1-mi'a ar-räbi'a
'asra al-higriya. 4 Bände, Kairo 1949-1963, Nr. 686; The Eabl of Cbomer:
Modem Egypt. 2 Bände, London 1908, Bd. 2, S. 176 f.
« Über das Haus as-Sädät vgl. Ilyäs Zahüba, op. cit., Bd. 2, S. 185-189;
Cbomeb, op. cit., Bd. 2, S. 177 f.; Zaki Muhammad Mugähid, op. cit., Nr. 691.
' Salim ^alil an-Naqqä§: Mi^r li-l-mi^riyin. Alexandria 1884, Bd. 4, S. 7.
und Naqib al-asräf, dem Saih as-Sädät sowie einigen dem Hof nahestehenden
'Ulaniä' , vor allem den Muftis des Maglis al-ahkäm, des Maglis husüsi und
der Ma'iya. Unter Umständen kamen noch weitere einflußreiche 'Ulamä'
hinzu, wie etwa der ehrwürdige und wohlhabende Saih, Hasan al-TdwI*, der
schon seit 1828 an der Azhar lehrte, oder Saih Ahmad Kab wah", der Saih des Riwäq der Sa'idis. Sie sind aber besser der nächsten hierarchischen Ebene"
zuzurechnen, zu der wir die einflußreichen 'Ulamä' der großen Moscheen des
Landes, die Inhaber relativ wichtiger religiös-jurisdiktioneller Ämter in der
Hauptstadt und den Provinzzentren, angesehene Lehrer an den bedeutend¬
sten staatlichen Schulen {Qädis, Muf tis, Imäms, Naqibs, etc.) rechnen wollen.
Sie sind als Unter-Gruppe historiographisch zu erfassen, weil sie auf der
mittleren Ebene des Verwaltungsapparates in Erscheinung oder aufgrund
eigener Aktionen bzw. durch Berichte über sie ins Licht der Geschichte
traten.
Diese Art von Differenzierung ist keineswegs befriedigend; sie erscheint
aber notwendig, weil sieh die eminentesten 'Ulamä' im Verlauf der Krise
anders verhielten als die so charakterisierte ,, hierarchische Mittelschicht"
oder die Angehörigen der unteren ,, hierarchischen Ebenen", soweit diese ihre
Überzeugimgen zu artikulieren bereit waren oder genötigt wurden.
Wenn wir das Geschehen in den Jahren vor der britischen Okkupation als
eine Krise bezeichnen, dann gilt es freilich hervorzuheben, daß es sich dabei nicht um einen geradlinigen Prozeß politischer und sozialer Neuorientierung
handelte. Zwar kann man von einer Kette der Ereignisse sprechen, doch
traten in verschiedenen Phasen verschiedene Gruppierungen mit unter-
schiedhcher Interessenlage auf'". Die ' Ulamä' erschienen vor allem im März
und April 1879 sowie vom Ende des Jahres 1881 bis zum Einmarsch der
Engländer in Kairo auf der politischen Bühne.
Ende März 1879 unternahm der Hidiw Ismä'il einen letzten Versuch, sich
gegen die verschleierte anglo-französische Kolonialherrschaft über Ägypten
aufzulehnen und seine faktische Entmachtung rückgängig zu machen. Er
wollte dies, um es mit den Worten seines späteren Sekretärs Ibrähim al-
Muwailihi zu sagen, ,,bi-aswäti l-umma"^^ bewerkstelhgen. Ismä'il ver¬
schanzte sich hinter den angeblich spontanen Forderungen der Repräsentan-
* Über Hasan al-'Idwi vgl. 'Ali Mubarak, op. cit., Bd. 14, S. 37; ZakI
Muhammad Muöähid, op. cit., Nr. 396; GAL, "H, 638; A.M. Bboadley: How
We Defended Aräbi and His Friends. London 1884, bes. S. 365 f., 370, 419.
' 'Ali Mubäbak, op. cit., Bd. 9, S. 96.
'" Zum allgemeinen Verlauf dieser Krise siehe die Arbeit des Autors : Ägypten den Ägyptern! Die politische und gesellschaftliche Krise der Jahre 1878-1882 in Ägypten. Zürich 1972.
" Ibaj Apshab und Asghar Mahdavi (ed.): Doeuments In^ts Concemant
Seyyed Jamäl-al-Din Afghani. Tehran 1963, Faksimile 101.
Die Rolle der 'Ulamä' in der ägyptischen Krise 253
ten aller gesellschaftlichen Gruppen, hinter dem „sentiment national"^^, wie
er sich gegenüber den Vertretern der europäischen Mächte ausdrückte. Ne¬
ben seinen Höflingen und weiteren Angehörigen der turko-tscherkessischen
herrschenden Schicht, Beamten, Offizieren, einheimischen Großgrundbe-
.sitzern und Kaufleuten gehörten aueh 60 'Ulainä' aus Kairo, Alexandria und
Damiette zu den Unterzeichnern eines Dokuments", das diesen „sentiment
national" zum Ausdruck bringen sollte. Doch traten sie keineswegs als
unabhängige Repräsentanten einer autonomen sozialen Gruppe auf, \im
deren spontanen Willen zu artikulieren. Ihre Sprecher waren vielmehr zwei
Günstlinge Ismä'ils, Saih 'Ali al-Bakri und Saih al-Halfäwii*, der Mujti des
Marlis al-ahkäm. Sie gehörten gleichsam zur Entourage des Hidiw, der sie
u. a. durch Landschenkungen an sich gebunden hatte'*. Saih 'Ali al-Bakri
war einer der führenden Organisatoren der ganzen Aktion überhaupt, vor
allem der verbal militanteste. Pür Ismä'il war er deshalb wichtig, weil er
notfalls „die Bevölkerung" mobihsieren konnte. Es wird z.B. berichtet, daß
'Ali al-Bakri gedroht habe, er werde, wenn England eine feindselige Haltung
gegenüber Ägypten einnehme, seine 450000 Mann an den Suez-Kanal
schicken und diesen auffüllen lassen'*. In Ismä'ils und in seinem Auftrag
predigte Saih al-'Idwi gegen die europäischen Minister in der ägyptischen
Regierung und ihre Kollaborateure". Zusammen mit anderen Günstlingen
des Herrschers ließ 'Ali al-Bakri später Erklärungen zirkulieren und unter¬
zeichnen, die, besonders als die Absetzung Ismä'ils durch den Sultan bevor¬
stand, die Unterstützung der Bevölkerung für den Hidiw dokumentieren
sollten'*.
Nach der Absetzung Ismä'ils wurde die sog. Dual Control unter dem
kollaborationswilligen Hidiw Taufiq und dem von den Kontrollmächten für
12 Ministere des Affaires Etrangeres, Paris: Correspondance Politique, Egypte (hinfort MAE - Corr. Polit.), tome 63 (Le Caire, 7. 4. 1879).
" Plan Financier delib(§rö et propostS par les Notables, les Hauts Dignitaires et Fonctiormaires religieux, civds et militaires d'Fgypte et accepte par le Gouverne¬
ment de Son Altesse le Khedive. Paris 1879 (gedrucktos Exemplar in MAE - Corr
Polit., t. 63).
'* 'Ali Mubäbak, op. cit., Bd. 16, S. 63.
15 Amin Sämi: Taqwim an-Nil. 6 Bände, Kairo 1913-1936, Bd. III/2 S 561
und 923.
"Alfbed J. Butler: Court Life in Egypt. London 1887, S. 201. Einem
anderen Autor zufolge nahm 'Ali al-Bakri damals für sich in Anspruch, für 70000 Derwische zu sprechen; siehe Mihä'il Särübim: Al-käfi fi tärih Misi- al-qadim wa-l-hadit. Bd. 4, Büläq 1900, S. 210.
" Public Record Office, London : Foreign Office, Series 78, Turkey (Egypt)
(hinfort F.0.78), vol. 3000 (Cairo, 1. 4. 1879); Däb al-Watä'iq, Kairo: Euro¬
päische Abteilung, Kopien aus den österreichischen Archiven (hinfort ÖA),
Karton 110 (Kairo, 4.4.1879).
'» Siehe z. B. F.0.78, vol. 3000 (Cairo, 19. 4. 1879) und vol. 3002 (Damiette, 23. 6. 1879).
dieses Amt erwählten Ministerpräsidenten Riyäd neu etabliert. Während
nun zwei andere Gruppen ihre Stimme gegen die Rückkehr der Kontrolle
erhoben und deshalb zum Schweigen gebracht, verfolgt und verbannt wur¬
den, der Philosoph Gamäl ad-Din und seine Anhänger im Sommer 1879 und
die sog. Hilwän-Gesellschaft, eine Handvoll ehemahger Höflinge und Mini¬
ster Ismä'ils, im Spätherbst 1879 und Frühjahr 1880, war aus den Reihen der
'Ulumä' keine Stellimgnahme zu vernehmen, auch nicht von 'Ali al-Bakri,
der schließlich im Oktober 1880 verstarb. Die Investitur seines Sohnes 'Abd
al-Bäqi al-Bakri nahm Taufiq erst vor, nachdem der neue Saih al-Bakri
zugesagt hatte, das öffentliche Auftreten der Süjis drastisch zu beschrän¬
ken'" und insbesondere die Düsa*" zu verbieten.
Am Sturz der Regierung Riyäd im September 1881 und der Etabherung
einer neuen politischen und sozialen Ordnung im Verlauf der ersten drei
Monate des Jahres 1882 hatten die 'Ulamä' keinen direkten Anteil. Doch
reagierten sie auf die veränderte Situation. Vor allem hofften sie, daß der
Islam bzw. sie selbst wieder den ihm bzw. ihnen gebührenden Platz im
gesellschaftlichen und pohtischen Leben erhalten würden, wobei jedoch
festzustellen ist, daß die panislamische Strömung in der veröffentlichen
Meinung, die sich nun bemerkbar machte, vor allem von außen hereingetra¬
gen wurde, besonders von den aus Algerien und Tunesien emigrierten Jour-
nahsten Hamza Fathalläh*' und Ibrähim Siräg ad-Din al-Madani**.
Die Azhar stand im Herbst 1881 zweimal im Blickpunkt der Öffentlich¬
keit. Studenten und Lehrern war zu Ohren gekommen, daß in einem fran¬
zösischsprachigen Organ des gestürzten Ministerpräsidenten Riyäd, der Zei¬
tung L'Egypte, auf Muhammad mit der Wendung ,, falscher Prophet" Bezug
genommen worden war. Es kam zu einem handfesten Skandal, und die
Aufregung an der Azhar legte sich erst, als die Zeitung verboten worden war
und der Herausgeber, gegen den Morddrohungen laut wurden, das Land
verlassen hatte**.
Außerdem war als Folge der Ereignisse vom September 1881 die Position
1» Vgl. Butler, op. cit., S. 222-225; F.0.78, vol. 3141 (Cairo, 25. 2. 1880) und vol. 3321 (Cairo, 9. und 15. 2. 1881).
2» Vgl. dazu etwa Butler, op. cit., S. 38-44, 155-157, 190 f., 257 f., 262-266,
295-297; Elbert E. Farman: Egypt and Its Betrayal. New York 1908, S. 56-
64; J.W. McPhbbson: The Moulids of Egypt. Cairo 1941, S. 56 und 263 f.
21 Über ihn vgl. MAE - Corr. Polit., t. 69 (Alexandrie, 31.8.1881); Zaki
Muhammad Mugähid, op. cit., Nr. 826.
22 MAE - Corr. Poht., t. 69 (Alexandrie, 31. 8. 1881).
2''' Zu dieser Affäre vgl. Moniteur Egyptien vom 27.10. 1881: L'Egypte vom
28. 10. 1881; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn : Ägypten 3, Bd. 4 (Alexandria, 31. 10. 1881); F.O. 78, vol. 3325 (Cairo 31. 10. 1881) und vol. 3326
(Cairo, 7. 11. 1881); Jules Munieb: La Presse en Egypte. Le Caire 1930, S. 3.
Die Rolle der 'Ulamä' in der ägyptischen Krise 255
des Saih al-Azhar, Muhammad al-Mahdi al-'Abbäsi**, der zugleich Mujti ad-
diyär war, unhaltbar geworden. Er hatte die Gunst Ismä'ils und die Protek¬
tion Riyäds besessen und galt nun als Gegner der von Offizieren und Gro߬
grundbesitzern erhobenen politischen Porderungen. Es liegt jedoch die Ver¬
mutung nahe, daß al-'Abbäsi vor allem auch wegen seiner Reformen un¬
populär war. Für eine solche Annahme spricht z. B., daß der Kandidat seiner
Gegner, d. h. der großen Mehrheit der Studenten und Lehrer, der ultra¬
konservative, puritanische Mufti der Mälikiten, Muhammad 'Ullais** war,
den der Hidiw zu ernennen sich freilich weigerte. Statt dessen wurde Mu¬
hammad al-Inbäbi*» neuer Saih al-Azhar, der zugleich Stoffgroßhändler mit
Geschäftsverbindungen nach Manchester war*'.
Was die politische Entwicklung während dieser und der folgenden Monate
betrifft, so versuchten die 'Ulamä nicht, den Gang der Ereignisse aktiv
mitzubestimmen. Sie beschränkten sich darauf, den Anschluß an Verände¬
rungen der politischen Machtkonstellation nicht zu verpassen, vollzogene
Tatsachen nachträglich zu legitimieren, ihnen die zeremonielle Weihe zu
geben. Die Forderung nach Einberufung der Delegiertenkammer wurde
nachträghch durch den Hinweis auf das ,5Mrä-Gebot** gebilhgt und unter¬
stützt, der Zusammentritt dieses Gremiums und später die Verabschiedung
emes neuen Grundgesetzes ^vurde begrüßt und gefeiert, der Segen Allähs
wurde auf die einander folgenden Regierungen herabgefleht. Selbst al-'Abbä¬
si, welcher Mujti der Hanafiten geblieben war, stellte sich im Februar 1882
vor die neue politische Ordnung*".
21 Übor ihn vgl. 'Ali Mubäbak, op. cit., Bd. 17, S. 12 f.; Ilyäs Zahüba, op.
cit., Bd. 2, S. 225; Zaki Muhammad Muöähid, op. cit., Nr. 501; ÖuEÖi Zaidän:
Maäähir aä-§arq fi l-qarn at-täsi' 'asr. Bd. 2, Kairo «ign^S. 210-213; Ahmad
Taimüb: Tarägim a'yän al-qarn at-tälit 'asr wa-awä'il ar-räbi' 'air. Kairo 1940,
S. 67-80. 'Abd ab-Rahmän ab-Räfi'i: 'Asr Ismä'il. 2 Bände, Kairo i'1948,Bd l'
S. 279-282.
" Über ihn vgl. 'Ali Mubäbak, op. cit., Bd. 4, S. 41-44 und Bd. 8, S. 74; Ilyäs
Zaijüba, op. cit., Bd. 2, S. 196 f.; er war von Ismä'il finanziell und durch
Landschenkungen imterstützt worden: Amin Sämi, op. cit., Bd. III/2 S 519 f
und 921 f.
2« Über ihn vgl. 'AliMubäbak, op. cit., Bd. 8, S. 87 f.; Ilyäs Zahüba, op. cit.,
Bd. 2, S. 194-196; Zaki Muhammad Muöähid, op. cit., Nr. 470; GAL, S II, 742;
Babon de Malobtie : Egypt - Native Rulers and Foreign Interference. London
1882, S. 229, Anm. 761.
" Zu diesem Wechsel an der Spitze der Azhar vgl. ÖA - Karton 117 (Kairo, 5.
und 9. 12. 1881); MAE - Corr. Polit., t. 71 (Lo Caire, 6. und 13. 12. 1881); F.0.78,
vol. 3326 (Cairo, 28. 11. und 12. 12. 1881); Wilfbid Scawen Blunt: Secret
History of tho English Occupation of Egypt. New York 1967 (-1922), S. 126 f.
28 Siehe z. B. al-Waqä'i' al-Mi?riya vom 12. 12. 1881 (Sa'd Zaglül) und vom 24.
und 25. 12. 1881 (Muhammad 'Abduh) ; al-Higäz vom 26. 9. 1881 (Ibrähim Siräö
ad-Din). ■ ^
2« Blunt, op. cit., S. 154-156.
Als im April und Mai 1882 der Hidiw und die Mehrheit der ehedem
exklusiv herrschenden Türke-Tscherkessen auf der einen und die britischen
Repräsentanten in Ägypten auf der anderen Seite den bescheidenen Versuch
ägyptischer Selbstbestimmung zunichte zu machen sich anschickten, mu߬
ten sich die 'Ulamä' entscheiden. Sie mußten sich entweder unter die Gegner
oder die Verteidiger der neuen Ordnung einreihen. Sie konnten nicht zugleich
auf der Seite Taufiqs und auf der Seite 'Uräbis stehen. Äm 27. Mai wurden
sie vom Hidiw zu einer solchen Entscheidung aufgefordert. Nach dem dm-ch
Kanonenboot-Diplomatie erzwungenen Rücktritt der Regierimg suchte
Taufiq alle Macht in seinen Händen zu konzentrieren und sich die Unter¬
stützung der Repräsentanten aller gesellschafthchen Gruppen zu sichern.
Ihre Akklamation sollte seine Legitimation sein.
Während sich nun die eminentesten religiösen Würdenträger fast aus¬
nahmslos auf die Seite des vom Amir al-mu'minin eingesetzten und daher
ihrer Ansicht nach rechtmäßigen Herrschers stellten oder sich „neutral" zu verhalten versuchten, selbst als Taufiq mit dem Feind des Landes paktierte, unterstützte eine große Zahl von weniger erlauchten ' Ulamä' der Hauptstadt
und der Provinzzentren 'Uräbi als den Beschützer von Religion tmd Vater¬
land.
Auf die aktive Unterstützung durch die höchsten Amts-und Würdenträger
mußten die 'Uräbiyün jedoch verzichten. Saih 'Abd al-Bäqi al-Bakri, dessen
Vater 1879 seine ,, Heerscharen" zur Unterstützung Ismä'ils gegen die Eng¬
länder einsetzen wollte, soll nun bedauert haben, daß ihm keine Waffen zur
Verfügung stünden und er deshalb seine Mannen nicht gegen 'Uräbi aufbie¬
ten könne*". Der Qädi Misr, 'Abd ar-Rahmän Näfid, war ein Vertrauens¬
mann Ismä'ils gewesen, welcher dem Sultan das Ernennungsrecht abgekauft
hatte*', und er blieb nun auch Taufiq treu. Gleiches ist zu sagen von al-
'Abbäsi, dem Mufti ad-diyär; von 'Abd al-Hädi Nagä al-Abyäri**, dem
Erzieher der Söhne Ismä'ils, den Taufiq zum Mufti und Imäm der Ma'iya
ernannte; von 'Abd ar-Rahmän al-Bahräwi**, dem ehemaligen Mufti des
Maglis husüsi und jetzigen Mufti im Justizministerimn. Auch der Saih al-
Azhar und der Saih as-Sädät gewährten den ' Urablyin keine Unterstützung**.
*» Malobtie, op. cit., S. 315-317.
*' Genaueres dazu bei Gabbiel Baeb: Studies in the Social History of Modem
Egypt. Chicago 1969, S. 130-132.
*2 Über ihn vgl. 'Ali Mubäbak, op. cit., Bd. 8, S. 29; ÖuEÖi Zaidän, op. cit.,
Bd. 2, S. 181 f.; 'Abd ab-Ra^män ab-Räfi'!, op. cit., Bd. 1, S. 259 f.; ZakI
Muhammad Muöähid, op. cit., Nr. 453; Ilyäs Zahüba, op. cit., Bd. 2, S. 239 f.
Über ihn vgl. 'Ali Mubäbak, op. cit., Bd. 15, S. 11; Zaki Muhammad
Muöähid, op. cit., Nr. 428.
** Siehe u. a. Däb al-Watä'iq. Kairo: Watä'iq at-taüra al-'m-äbiya. Karton
18, Dossier 22; Kart. 19, Doss. 104, 113, 117, 122;' Kart. 20, Doss. 158, 187;
Blunt, op. cit., S. 233, 245, 248, 250.
Die Rolle der 'Ulamä' in der ägyptischen Krise 257
Ledighch Muhammad 'UUaiä, der greise Mufti der Mälikiten, der seit 1818
an der Azhar lehrte, trat von Ende Mai bis Mitte September 1882 als
wortgewaltiger Propagandist des Widerstandes gegen die ungläubigen Ag¬
gressoren und den durch seinen Verrat von der Religion abgefallenen Hidiw
auf. An der Seite von Saih 'UUais war fast immer der bejahrte Saih al-'Idwi
anzutreffen, dem schon im Frühjahr 1879 zugefallen war, seine Stimme
gegen die Anmaßungen der Ungläubigen zu erheben. Außer diesen beiden
wurden von den bekannteren ' Ulamä' nach der Okkupation nur noch Saih al-
Halfäwi und Muhammad 'Abduh von den Straf-und Verfolgungsmaßnah¬
men betroffen**.
Diejenigen 'Ulamä', die zur aktiven Unterstützung der 'Urählyin bereit
waren, hatten am Vorabend der Invasion vor allem die Aufgabe, die militäri¬
schen Maßnahmen zu legitimieren und zur Verteidigung von Religion und
Vaterland aufzurufen. Während des Krieges unterstützten sie die allgemeine
Mobilmachung durch die Proklamation des Öihäd und die Brandmarkung
der Verräter, vor allem Taufiqs, als Feinde der Religion**.
Nach wie vor wollten oder konnten die 'Ulamä' aber den Lauf der Ent¬
wickhmg nicht entscheidend beeinflussen. Die politische Führung lag m den
Händen des Maglis al-'urfi, einer Art Notstandsregierung aus hohen Beam¬
ten und Offizieren, die sich von zwei großen Notabelnversammlungen legiti¬
mieren ließ. Von den 'Ulamä', die an diesen beiden Versammlungen teilnah¬
men, traten neben 'Abduh lediglich die Saihs 'Ullais und al-'Idwi in Er¬
scheinung. Doch schlugen die von ihnen initiierten und unterstützten Ver¬
suche fehl, den Hidiw wegen seines Paktes mit den Ungläubigen für abge¬
setzt zu erklären. Für ein entsprechendes Rechtsgutachten hatten sie die
eminentesten 'Ulamä' nicht gewinnen können*'.
Die Enttäuschung über das Verhalten der höchsten islamischen Würden¬
träger und der Notabein des Landes insgesamt sowie die Ohnmacht ange¬
sichts der europäischen Flut, die schon nicht aufzuhalten gewesen war, als sie
noch, unter Muhammad 'Ali, Sa'id und Ismä'il, in Gestalt friedhcher „Zivih-
sierungs"-bzw. ModernisierungsbemülAingen Ägypten heimgesucht' hatte,
dieses Gefühl der Enttäuschung und der Ohnmacht brach aus 'Ullaiä in
ä5 Siehe u. a. Ahmad 'Izz ad-Din 'Abdallah Halaf alläh: Al-Azhar wa-t-
taura al-'uräbiya. In: Magallat al-Azhar, XXIV ("1952/1953), S. 973; vgl. auch
vom selben Autor in der gleichen Zeitschrift: Al-Azhar wa-tärihunä ad-dustü-
riya, XXIV (1952/1953) und Al-Azhar wa-t-tadhiya al-wataniya min al-hamla
al-faransiya ilä at-taura al-'uräbiya, XXV (1953/1954).
*6 Watä'iq at-taura al-'uräbiya, Kart. 7, Doss. 35, 36, 41; Kart. 8, Doss. 44, 45, 50, 53/IV/2; Kart. 9, Doss. 70, 72; Kart. 10, Doss. 115; Kart. 12, Doss. 182, 193, 205; Kart. 13, Doss. 238, 251, 253; Kart. 14, Doss. 282, 283, 284, 286, 287, 289, 313; Kart. 15, Doss. 344, 346, 355, 370.
*' Watä'iq at-taura al-'uräbiya, Kart. 20, Doss. 187.
18 Or.-Tag 1973
Form einer ikonoklastischen Aktion hervor : Er versammelte eine Schar von
Anhängern um sich und stürzte mit ihnen die Löwen an der Qasr an-Nil-
Brücke und die Reiterstatue Ibrähim Paschas im Uzbakiya-Viertel von den
Sockeln**.
Die übrigen 'Ulamä', die zur Spitze der Hierarchie zählten, zogen sich
derweil in ihre Häuser zurück und traten erst wieder hervor, als die Englän¬
der und mit ihnen Taufiq in Kairo eingezogen waren. Wie führende Mitglieder
der Delegiertenkamraer, vor allem autochthone Großgrundbesitzer und
Kaufleute, und wie die bekanntesten einheimischen Fachleute (z. B. 'Ali
Mubärak und Mahmüd al-Falaki) hatten sie sich aus dem Konflikt herauszu¬
halten versucht oder die Seite des wahrscheinlichen Siegers gewählt. Da die
'Ulamä' nicht mehr, wie zur Zeit der napoleonischen Invasion und in den
Jahren danach, praktisch die einzigen einflußreichen Repräsentanten der
einheimischen Bevölkerung waren, hätten sie zwar sicherlich keine ähnlich
bedeutsame Rolle spielen können wie um die Wende vom 18. zum 19. Jahr¬
hundert. Doch hätte sich niemand dagegen gesträubt, wenn sie sich mit an
die Spitze des hizh Allah gestellt hätten, wie man jene bezeichnete, die zum
Qihäd gegen die ungläubigen Eindringhnge antraten. Stattdessen gehörten
sie zu jenen, die nach der Okkupation die Verteidiger von Religion und
Vaterland als Aufrührer brandmarkten und der Rebelhon gegen den recht¬
mäßigen Herrscher bezichtigten.
38 Aida Greiss-Visconti: L'Egypte d'Orabi Facha d'apres des Doeuments
d' Archives (Dokumentensammlung, College de France, Paris) - Sultän Pascha an
Taufiq, 12. 9. 1882; Camille Moll: Souvenirs Anecdotiques du Blocus du Caire.
Le Caire 1882, S. 43.
ALOYS SPRENGERS BEITRAG ZUM URDU-STUDIUM Von M. H. Zaidi, Heidelberg
Zum XVII. Deutsehen Orientahstentag in Würzburg gab ich einen Bericht
über Hmdustani-Handschriften in Deutschland, m welchem ich eine kurze
Einführung zu 48 Urdu-Manuskripten zu geben versuchte, die ich bis dahin
in deutschen Bibliotheken gefunden hatte. Inzwischen ist aus jenen Anfän¬
gen ein deskriptiver Katalog über Urdu-Handschritten in deutschen Bibho¬
theken* geworden, welcher nunmehr 83 Manuskripte umfaßt und zur Zeit
zum Drucke vorhegt. Die wertvollsten Exemplare aus dieser Zusammenstel¬
lung sind jene 35 Urdu-Handschriften, welche aus der Handschriftensamm¬
lung stammen, die Dr. Aloys Sprenger im Jahre 1856 selbst aus Indien
mitgebracht hatte. Diese Handschriften, welche heute in der Staatsbibho-
thek Preußischer Kulturbositz in Berlin aufbewahrt sind, haben nicht nur
einen hohen Wert hinsichtlich ihrer Authentizität oder kalhgraphischen
Schönheit, sondern einige davon besitzen darüber hinaus einen unschätz¬
baren Seltenheitswert, da sie die einzigen Exemplare ihrer Art überhaupt
darstellen, wovon keinerlei weitere Kopien existieren. Die vortreffliche
Sammlung dieser Handschriften verdanken wir nicht dem oberflächlichen
Sammler-Enthusiasmus eines europäischen Liebhabers von Urdu-Hand¬
schriften, sondern die Qualität der getroffenen Auswahl bezeugt das literari¬
sche Urteilsvermögen eines Mannes, der nieht nur die Urdu-Sprache meister¬
haft beherrschte, sondern sich durch seine überragenden Kenntnisse auch
Zugang zu jenen literarischen Kreisen erworben hatte, welche zur damaligen
Zeit die Maßstäbe für die Urdu-Dichtung und -Literatur auf dem indischen
Subkontinent setzten. In Kreisen der europäischen Orientahsten ist Sprenger
hauptsächlich als Arabist durch verschiedene Arbeiten bekanntgeworden -
seine Bedeutung für den Bereich der Urdu-Sprache ist bisher jedoch kaum
erwähnt worden.
Der bekannteste unter den drei europäischen Orientalisten, welche sich
auf dem Gebiete URDU besonders verdient gemacht haben, war der eng¬
lische Scholar Gilchrist (1759-1841), den zweiten Platz nimmt der Franzose
Garcin de Tassy (1794-1878) ein, und als dritter steht der in Österreich
geborene Dr. Aloys Sprenger (1813-1893), welcher im Orient als „deutscher
Wissenschaftler" bekanntgeworden ist. In meinem Aufsatz möchte ich mich
nach km-zer Erwähnung der wichtigsten Stationen aus Sprengers Lebenslauf
* M. H. Zaidi, Urdu-Handschriften (Verzeichnis der Orientalischen Hand¬
schriften in Deutschland, Bd. XXV) Wiesbaden 1973.