September 30, 2013 1
EINF ¨UHRUNG IN DAS MATHEMATISCHE ARBEITEN
zu 4: Sprechen sie Mengisch?
Michael Grosser Vokabular und Ausdrucksm¨oglichkeiten der
”Mengenlehre“ stellen einen be- quemen Weg zur Verf¨ugung, die meisten Sachverhalte der heutigen Mathe- matik sprachlich darzustellen und zu kommunizieren.
Dazu ist die (sogenannte)
”naive Mengenlehre“ vollkommen ausreichend.
”Naiv“ bedeutet hier allerdings nicht
”einf¨altig, kindlich“ wie in der Alltags- sprache, sondern
”ohne axiomatisch-deduktiven Aufbau“.
Man kann n¨amlich auch f¨ur die Mengenlehre eine passende Kollektion von Axiomen (also Grundannahmen, die nicht weiter hinterfragt oder bewiesen werden) angeben, aus denen dann alle weiteren Tatsachen ¨uber Mengen mit der ¨ublichen mathematischen Strenge als S¨atze abgeleitet werden.
Im Gegensatz dazu operiert die
”naive Mengenlehre“ mit dem Hausverstand, basierend auf Georg Cantors ber¨uhmter Definition (siehe Buch Seite 119)
Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfassung S von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente von S genannt wer- den) zu einem Ganzen.
Aber auch die
”naive“ Herangehensweise enth¨alt schon eine nicht zu ver- nachl¨assigende Herausforderung f¨ur die EinsteigerInnen: Das Resultat einer solchen
”Zusammenfassung“ von mathematischen Objekten (die ja nur ideel- le, aber keine materiellen Objekte darstellen; etwa Zahlen, Funktionen, Punk- te und so weiter) zu einer
”Menge“ erzeugt keine esoterische Seinswolke auf einer h¨oheren außermathematischen Ebene, sondern wiederum ein beinhartes mathematisches
”Ding“, mit dem man dann seinerseits, quasi in der n¨achsten Runde, weitere Konstruktionsschritte und Operatoren durchf¨uhren kann.
Einige Stichworte dazu, großteils als Ausblick gedacht, jeweils mit Angabe der Buchseite, auf der sie auftreten: Man kann Mengen von Mengen bilden, also Mengen, deren Elemente wiederum Mengen sind, die man in einem vor- hergehenden Schritt gebildet hat (p. 119); Rechnen mit Restklassen - man addiert oder multipliziert gewisse Mengen von ganzen Zahlen statt bloße gan- ze Zahlen (p. 199); Potenzmenge - man bildet die Menge aller Teilmengen einer gegebenen Menge (p. 142); der
”Dualraum eine Vektorraums“ (siehe die Vorlesungen ¨uber Lineare Algebra).
EmA: Beweise 30. September 2013 2
Es geh¨ort sicherlich zu den wichtigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben beim Einstieg in ein Studium der Mathematik, die F¨ahigkeit zu entwickeln, die Ergebnisse auch sehr
”abstrakt“ aussehender Denkprozesse in der eige- nen Vorstellung wiederum als
”konkrete“ (wohlgemerkt: wiederum mathe- matische, somit nicht-materielle) Objekte anzusehen, deren Eigenschaften man diskutieren und mit denen man allerhand weitere Verarbeitungs- und Kostruktionsprozesse durchf¨uhren kann, so als w¨urde es sich um so vertraute
”Dinge“ wie nat¨urliche Zahlen im Bereich von 1 bis 20 handeln.
Diese F¨ahigkeit kann man nicht direkt lernen oder ansteuern (es gibt kein Mantra
”Ich lerne jetzt die Resultate mathematischer Konstruktionsprozes- se gedanklich als handfeste Dinge anzusehen“), man erlangt sie nur quasi durch die Hintert¨ur, als einen sich im Lauf der Zeit von selbst einstellenden Nebeneffekt, wenn man sich auf die Sache Mathematik einl¨asst und sich in ausreichendem Ausmass [!] aktiv [!] mit diversen einschl¨agigen Angeboten aus den Lehrveranstaltungen inhaltlich auseinandersetzt.
Wer meint, sich nicht auf diese selbstst¨andige Befassung mit Mathematik einlassen zu k¨onnen oder zu wollen — der erforderliche Zeit- und Energie- aufwand ist nicht zu vernachl¨assigen; er ist im Alltag deutlich merkbar, man lebt irgendwie anders als fr¨uher — hat sich wahrscheinlich selbst schon die T¨ur zu einem erfolgreichen Studium der Mathematik verschlossen.