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Suaheli -nge- = -ngali-.
Von M. Heepe.
Zum Ausdruck der irrealen Bedingungssätze dienen im Suaheli
Verbalformen mit den Bildungssilben -nge- und -ngali-. Nach der
bisherigen Auffassung der Suaheli - Grammatiker besteht zwischen
beiden Formen ein Unterschied der Zeitsphäre : -nge- bedeute einen
6 Irrealis der Gegenwart und -ngali- einen Irrealis der Vergangen¬
heit. Allein, in Wirklichkeit liegt eine solche Unterscheidung
nicht vor; sie ist vielmehr erst unter dem Einfluß europäischer
Vorstellungen in das Suaheli eingetragen und wird auch heute
noch nicht von den Eingeborenen zur Anwendung gebracht, obwohl
10 sämtliche Grammatiken , soweit ich sehe , dem einmal von Krapf
und Steere aufgestellten Schema gefolgt sind.
Anlaß zu dieser irrtümlichen Unterscheidung gab wohl eine
Betrachtung der Zusammensetzung von -ngali-, das ja ohne weiteres
in die beiden Silben nga und li zu zerlegen ist. Da li — ein in
15 Relativsätzen noch häufig selbständig vorkommendes Verbum „sein"
— im Suaheli zum Ausdruck der Vergangenheit beim Verbum
dient, z. B. ni-li-penda, oder n-a-li-penda ich liebte, von penda
lieben, so lag es nahe, eine solche Bedeutung auch den Irrealsätzen mit -ngali- zuzuschreiben. Unaufgeklärt blieb jedoch die Zusammen-
20 Setzung von -nge- , dessen Entstehung auch bislang noch von
niemandem erklärt ist.
Vermutlich sah man in dem e von nge eine Erweichung des
a von nga, deren Ursache man auf sich beruhen ließ (vgl. Steere,
Handbook p. 138, Saleux, Dialectes Swahilis p. 176). Planert, der
»6 offenbar das Unbefriedigende eines solchen Zustandes empfand,
suchte die Sache von der entgegengesetzten Seite aus anzufassen,
indem er nicht nga, sondern nge als Grundform annahm und nga
in irgendeiner Weise aus einer Verschmelzung von nge und einem
anderen Element zu erklären versuchte. Wenigstens scheint mir das
30 aus seinen Worten hervorzugehen: .Auch sehe ich nicht ein, warum
nge bestimmt auf nga zurückgehen soll; seine heutige Anwendung
deutet vielmehr auf das Gegenteil , z. B. a-nge-ku-wa gegenüber
a-nga-wa' (s. Die syntaktischen Verhältnisse des Suaheli, 1907,
S. 21). In dieser Auffassung ist ihm Delius in seiner Suaheli-
4 3 *
Heepe, Suaheli -nge- = -ngali-. 591
Grammatik gefolgt, der S. 27 ngali aus nge -f ali entstehen läßt*).
Aber in beiden Fällen handelt es sich nur um Vermutungen.
Denn weder Planert's nga •< nge + ku, noch Delius' ngali
<C nge + ali sind ohne weiteres einleuchtend, da ein analoger
Vorgang im Suaheli nicht nachzuweisen ist. Außerdem ist mit 5
diesen beiden Vorschlägen die Frage der Entstehung des e von
nge noch um keinen Schritt gefördert. Man könnte ja wohl nach
Meinhofs Urhantu nge als Grundform mit altem Mischvokal e auf¬
fassen ; aber wenn daneben in der Sprache auch die Formen mit a
(nga und ngali) vorkommen, so ist für den, der sich mit den 10
Gesetzen der Vokalveränderungen im Bantu etwas näher beschäftigt
hat , sofort klar , daß nga die Grundform und nge die abgeleitete
sein muß. Und so hat denn Meinhof (Grundriß einer Lautlehre
der Bantusprachen ", S. 241) durchaus das Richtige getroffen, wenn
er das auch in anderen Sprachen nachweisbare nga als Urform 15
ansetzt. Aber wie ist daraus nun nge entstanden?
Darüber gibt ein Vergleich der drei heute noch tatsächlich
vorkommenden Formen angawa, angekuwa und angalikuwa ebenso
interessanten wie sicheren Aufschluß. Die erste Form angawa
unterscheidet sich zunächst von den beiden andern durch das «o
Fehlen des infinitivischen Icu. Wie die Verbalformen der ein¬
silbigen Stämme im Suaheli mit Sicherheit zeigen, gebraucht man
den Infinitiv zur Bildung von Präsens, Imperfekt, Perfekt und
Futur mit den Bildungssilben -na-, -Ii- und -ali-, -me-, -ta-. Dagegen liegt der reine Stamm vor z. B. in den mit -a-, -ki-, -ka- gebildeten is
Verbalformen. Zu diesen ist, wie das Beispiel angawa lehrt, auch
die Bildungssilbe nga zu stellen. Aus der Verschiedenheit der
beiden Formen angawa und angekuwa ist sodann zu schließen,
daß nga und nge nicht ohne weiteres identifiziert werden dürfen.
Vielmehr muß in dem e noch ein Element enthalten sein, welches 30
die Setzung des infinitivischen ku bedingte. Daß dafür von den
obigen vier Formen -na-, -li-, -me- und -ta- nur li in Betracht
kommen kann, ist für den sofort klar, der sich vergegenwärtigt,
daß nach bekannten Suahelilautgesetzen ein l zwischen Vokalen
(nach der Tonsilbe) vielfach ausfällt, und die Vokale a und i zu e s5
verschmelzen. Wir haben also das interessante Ergebnis, daß nge
nichts weiter ist, als die kontrahierte Form von ngali.
Und so ist es erklärlich, daß die Suaheli beide Formen unter¬
schiedslos zur Bezeichnung der Gegenwart und Vergangenheit ge¬
brauchen. Denn ein Zeitbegriff' ist in diesen Formen nicht enthalten. 40
Sondern der Suaheli verwendet die Silbe nga zur Bezeichnung
einer nicht wirklichen Annahme nur in Verbindung mit den beiden
Verben li und wa ,sein', und die Pormen mit nge und ngali im
Vordersatz und Nachsatz eines konditionalen Satzgefüges sind
eigentlich so zu analysieren: „wenn es so wäre, daß , so 45
1) Vgl. unten 8. 8 und 9 ngdi statt ngali bei Taylor und Burt.
592 Heepe, Suaheli -nge- — -ngali-.
würde es so sein, daß " Wie h in der heutigen Sprache
beim Imperfekt seine selbständige Bedeutung verloren hat und
zum bloßen Bildungselement geworden ist, ganz ebenso sind auch
nyali und nge zu einem Ausdrucksmittel für Irrealsätze geworden,
6 bei denen niemand mehr an das selbständige Verbum li „sein"
denkt. Es ist also auch nicht so, wie Steere meint, daß nga etwa
bei einsilbigen Verben gebräuchlich wäre (Handbook, p. 139).
Formen, wie angaja, angafa, angala habe icb nie gehört. Und
Steere selbst führt auch nur angawa als Beispiel an.
10 Ob es sich im einzelnen Falle bei einem solchen nge- oder
ngali Sa,tie um die Gegenwart oder Vergangenheit handelt, ist nur
aus dem Zusammenhange zu entnehmen.
Nachdem mit der Zurückführung der Form -nge- auf -ngali-
der bisher behauptete Bedeutungsunterschied hinfällig geworden ist,
15 bleibt noch zu untersuchen, wie sich eine solche falsche Auffassung
in fast allen Suaheligrammatiken hat einbürgern können. Ein
Erklärungsgrund dafür ist wohl in dem relativ seltenen Vor¬
kommen dieser Formen im praktischen Gebrauch der Sprache zu
suchen. Der eigentliche Urheber jener irrigen Unterscheidung aber
20 ist Steere , der sich freilich dabei in etwas auf Krapf berufen
konnte. Während jedoch Krapf's Beispiele noch zeigen, daß nge
und ngali in Wahrheit gleichbedeutend sind , hat Steere die
Scheidung in seinem Handbook, p. 138 ff. reinlich vollzogen und
seiner Autorität sind, z. T. unter Heranziehung der von ihm ge-
25 wählten Beispiele, die späteren Autoren gefolgt. Aber auch Steere
selbst hat in seinen Swahili Tales eine Reihe von Beispielen gegeben,
welche einwandfrei beweisen , daß die nge- und ngali- Formen
wirklich gleichbedeutend sind und auch von ihm so aufgefaßt
wurden. Da diese Textsammlung, abgesehen von Übersetzungen,
30 die älteste ist und zu den besten gehört, die wir im Suaheli
haben — mit irgend welchen europäischen Einflüssen ist dabei
kaum zu rechnen, da sie schon im Jahre 1870 erschien —, so
dürfte es für diejenigen , welche der oben gegebenen Erklärung
von nge aus ngali noch zweifelnd gegenüberstehen, vielleicht über-
35 zeugend sein , wenn ich hier einige Beispiele aus Steere's Swahili
Tales mit der von ihm angegebenen Übersetzung folgen lasse, von
deren Richtigkeit im Zusammenhange der Erzählung sich dann
jeder selbst überzeugen kann.
1. a) ngali für die Vergangenheit gebraucht, liegt sicher vor:
40 S. 8, Z. 6 und 9 v. u. : kama ana moyo huyu na maahikiö,
angalikuja tena hapa = If this animal had had heart and ears,
would it have come here a second time ?
b) ngali für die Gegenwart gebraucht, liegt sicher vor:
S. 340, Z. 5: ungalipata maß ya nyoka, ungaliweza ==
45 if you had the serpent's water, you might be able . . . ., ferner
jedesmal am Ende der Absätze in der Goso-Geschichte, z. B.
Heepe, Suaheli -nge- — -ngali-. 593
S. 284, Z. 5 V. u. : ningalizuiwa ni kiyambaza? = Should
I be stopped by a mud wall?
2. a) nge für die Gegenwart gebraucht, liegt sicher vor:
S. 36, Z. 10 V. u. : mama yangu angekuwa hayi, ningekula
wali mwema = If my mother were alive, I should eat good 5
rice.
S. 52, Z. 15: angetaka kununua paa? = Would he want
to buy a gazelle?
b) nge für die Vergangenheit gebraucht, liegt sicher vor:
S. 26, Z. 14: ningekuwa na habari, ningewaita marra ya lo
pili? = if I had heard it, should I have called them a second
time?
S. 166, Z. 10: hatungepona = we should not have escaped.
S. 238, Z. 3: nayote haya hayangewapaia = and none of
these things would have happened. is
Endlich sei auch noch darauf hingewiesen , daß das einzige
Beispiel, das Steere (Handbook, p. 139) zum Beweise seiner Eegel
anführt und im Sinne der Gegenwart übersetzt, von ihm selbst im
Zusammenhange der Erzählung in der Vergangenheit übersetzt ist.
Das Beispiel lautet: 20
{Kama) ungekuwa na akili, maii yako ungedumu nayo
(Swahili tales, S. 294, Z. 9 v. u.; Handbook, p. 139).
Die Übersetzung im Handbook lautet: (If you were with wits,
your property you would continue with it) If you were a man of
understanding, your property would be (or would have been) 2s
yours still.
In den Swahili tales, S. 295, Z. 11 v. u. heißt es: ,if you had
been wise, you would have had it still".
Für die ursprüngliche Bedeutung von nga = ,wie" im Suaheli,
wie sie auch Meinhof annimmt (Grundriß^, S. 241), vgl. Swahili so
tales, S. 54, Z. 12 si kwamba nga maskini = not as though they
were poor. Doch kann man es hier auch prädikativ fassen. Für
den weiteren Gebrauch vgl. S. 106, Z. 10 v. u.; S. 114, Z. 12 v. u.
Ferner für die Poesie: S. 458, Z. 4. 9. 16; S. 456, Z. 5 v. 0.,
Z. 7 V. u.; S. 460, Z. 1; S. 464, Z. 9 v. 0., Z. 3 v. u. ss
Über den Gebrauch von nge und ngali könnte man vermuten,
daß jede Form vielleicht einmal Charakteristikum eines bestimmten
Dialekts, sei es von Mombasa, von Zanzibar, oder eines andern Ortes
gewesen sei. Aber es war mir nicht möglich. Sicheres darüber fest¬
zustellen , und ich bezweifle , daß es bei dem heutigen lebhaften 40
Verkehr noch möglich ist. Genaueres darüber zu sagen.
Zum Schluß sei hier noch angeführt, wie Krapf vor, und
die späteren Suaheli - Grammatiker nach Steere die Sache auf¬
gefaßt haben.
Krapf (Outline 1850) gibt S. 56 f. als Present Perfect Tense 45
ningependa = I may, can have loved und ningalipenda als Past
594 Heepe, Suaheli -nge- =• -ngali-.
Perfect Tense = I might or would have loved. In der Übersicht
im Appendix, S. 140 führt er dieselben Formen unter V. Potential
als Perfekt und Plusperfekt auf. In den Satzbeispielen, S. 110,
übersetzt er (unter Beibehaltung seiner Orthographie) hangewesa
t ku temhea == he could not walk, dagegen S. 129, No. 5 c) singeketi
nti hi — I would not have dwelt in this country. Unter d) gibt
er „hange or hangali kuffa', also beide Formen als gleichwertig;
und unter 1) entspricht einem ngali im Vordersatz, ein nge im
Nachsatz : Jamba hamgaliketa hapa, hamgeona feida hi. In allen
10 diesen Sätzen, welche im Nachsatz die w^e-Form zeigen, steht wie
auch S. 129, No. e im Bedingungssatz die Vergangenheit, wonach
die gleiche Zeitsphäre auch für den Nachsatz anzunehmen ist. Der
Satz S. 110, kuamba mtu hakua msima, hange wesa ku tembea,
würde daher genauer zu übersetzen sein: angenommen (wörtlich:
15 zu sagen) dieser Mensch war nicht gesund, so hätte er nicht gehen
"können (anders v. St. Paul Illaire, Lehrbuch, S. 143). Die Scheidung
der beiden Pormen hinsichtlich ihrer Bedeutung steht also mit den
gegebenen Beispielen im Widerspruch. Beide Formen sind als
Vergangenheit aufgefaßt. Daran hat er auch im Dictionary 1882
so festgehalten (pag. XXVII nge Perfect Tense = I should , would
love, ngali Past Perfect Tense = I would, should have loved),
wo er p. XXIX oben, unter No. 6 den Steere'schen Satz kuamba
or kama ungekua naakili, maliyako ungedumu nayo (s. u.) in
folgender Übersetzung bringt: „if you were a man of understanding,
25 your property would have continued with you, i. e. your property
would be, or would have been yours still.' Man muß aber beachten,
daß seine Benennung der Formen , insbesondere der Ausdruck
„Perfekt' an seiner Übersetzung gemessen, von der üblichen ab¬
weicht.
so Steere hat in seinen Swahili exercises (ob im Bewußtsein der
Unsicherheit?) die «^e-Form ganz unterdrückt (vgl. S. 29, 32).
Darin ist ihm Büttner in seiner ersten Bearbeitung (Hilfs¬
büchlein 1877, S. 33, 36) zunächst gefolgt, hat dann aber in der
zweiten Auflage (1891) beide Formen in der Steere'schen Unter-
J5 Scheidung eingefügt. V. St. Paul-Illaire bringt in seinem Hand¬
buch (1890) nach dem Schema Steere's nge als Konditional I des
Präsens und ngali als Konditional des Perfektums (vgl. S. 50, 55, 62)
und führt diesen Unterschied auch in seinen , größtenteils Krapf
und Steere entnommenen, Beispielen durch (vgl. S. 143, 186, 191).
40 Auch Seidel befolgt, wie schon angedeutet, Steere's Schema und
unterscheidet Bedingungssätze der Nicht-Wirklichkeit in der Gegen¬
wart und in der Vergangenheit (vgl. Konversationsgrammatik, S. 113,
prakt. Gramm., S. 88). Aber er verwirrt wieder die von Steere
klargestellte Beschränkung der nge- und ngali-Qkize auf irreale
45 Fälle, wenn er § 206, 5 der Konversationsgrammatik der n^e-Form
auch die Bedeutung der Möglichkeit zuschreibt. — In Über¬
einstimmung mit Steere befinden sich femer bis in die neueste
Heepe, Suaheli -nge- =■ -ngali-. 595
Zeit Delaunay, Grammaire 1885, S. 51 f., Taylor, Ground¬
work 1898, der merkwürdigerweise n^e/i'statt w^aZj gibt, wohl
um damit die Ableitung von nge anzudeuten, Velten, Gram¬
matik 1905, S. 79 ff. (freilich im Widerspruch mit seinen Bei¬
spielen), Planert, Die syntaktischen Verhältnisse, S. 21 (1907), s
Meinhof (Die Sprache der Suaheli, 1910, S. 82), und Delius
(Grammatik 1910, S. 27). Auch Sacleux folgt noch der alten
Teilung in conditionnel present und conditionnel pass6 (1909,
Dialectes Swahilis, S. 179), gibt aber ebenda schon die wichtige
Bemerkung, daß im Kiamu- nnd Kigunya-Dialekt nur ngali in lo
beiden Bedeutungen im Gebrauch ist (während mir erst kürzlich
von mehreren Eingeborenen nge als im wesentlichen Mombasa- und
Lamuform , ngali als Zanzibarform bezeichnet wurde), und S. 293
fuhrt er unter 2°, freilich ohne jede erklärende Bemerkung, den
Gebrauch der Ti^c-Form für die Vergangenheit als einfache Tat- is
Sache auf Ebenso hat dann auch Velten in der dritten Auflage
seiner Grammatik (1910) zwar den Gegensatz, in dem sich seine
Einteilung mit seinen Beispielen befindet, erkannt, aber doch keine
Aufklärung gegeben, wenn er sagt (S. 81): „Der Suaheli hält beide
Formen, wie die Beispiele zeigen, nicht genau in ihrer Bedeutung 20
auseinander. Er gebraucht nge häufig in der Bedeutung von
ngali.'^) Erst bei Burt, Swahili Grammar 1910, findet sich der
weitere Schritt, die vollständige Gleichsetzung beider Pormen, nge
und (wie Taylor) ngeli, als Conditional Mood past tense in der
Bedeutung z. B. „I should or might have* (vgl. S. 32, 42, 52. a
Auf S. 57 einmal abweichend Konditional Present bezeichnet, aber
in gleicher Bedeutung).
Somit dürfte auch die Erklärung von nge, als aus ngali ent¬
standen, dem allmählich wieder zur Anerkennung gekommenen
wirklichen Tatbestand allein gerecht werden. »0
1) In der kürzlich erschienenen 4. Auflage hat sich V. Übrigens auch Delius' unwahrscheinliche Ableitung von ngali aus nge ali zu eigen gemacht.
596
Semitische Sprachprobleme.
Von H. Bauer.
4. Zum Verständnis des Status constructus und Verwandtes.
Die Syntax des Status constructus weist eine Reihe von Er¬
scheinungen auf, deren sprachwissenschaftliche Erklärung noch dahin
steht. Dahin gehört zunächst die Art, wie eine Status constructus-
6 Verbindung determiniert wird , nämlich durch Determinierung des
zweiten Gliedes , während das erste (der Stat. constr.) niemals den
Artikel bekommen kann. Aber wamm ist es nicht möglich, wenn
n-'an (o^I) ,das Haus' heißt und ']b«rT (ySUtl!) »der König«,
zu sagen "^bttn n-ian (u5UUI o^!) n^as Haus des Königs", wie
10 das doch im Griechischen , in den germanischen und romanischen
Sprachen der Fall ist? Unsere Grammatiken sagen einfach, ein
Nomen werde u. a. bestimmt durch einen determinierten Genetiv;
aber das ist Deskription , ein sprachwissenschaftliches Verständnis
ist damit noch nicht gegeben. Die Doppelsetzung der Artikel ist
15 auch keineswegs eine Tautologie, wie man wohl gemeint hat, denn
in »Haus des Königs" ist »Haus" keineswegs determiniert, der
König kann ja mehrere Residenzen haben, erst wenn ich sage »das
Haus des Königs" ist eine bestimmte gemeint. Wie kommt es
also, daß "jbttn n^a («5ÜLtl o<^) für den Semiten determiniert ist,
20 während er umgekehrt »ein Haus des Königs* nur durch eine Um¬
schreibung (u5üUt Ojju ^yi oyo) ausdrücken kann? Diese Er¬
scheinung wird noch seltsamer , wenn wir bedenken , daß bei der¬
artigen Genitivverbindungen vielfach gerade dasjenige Wort den
Artikel erhält, das in Wirklichkeit unbestimmt bleibt. Es heißt
26 msnbw »Kriegsmann", dagegen »der Kriegsmann" nwnbwrt
wo das unbestimmte riWnbu äußerlich determiniert wird ; desgleichen fflN-i IHD »hoher Priester", aber BNin -jriD (2 Kön. 25, 18) »der hohe Priester"; ja sogar ■'3i'nin-l3 (Ri. 3, 15) »der Benjaminit",
■'i^nbirna »der Bethlehemit" usw. Diese Beispiele zeigen, daß in
so solchen Verbindungen der Artikel dem Sprachgefühl nach gar nicht
zum Bestimmungswort (Genitiv) gehört, sondern zum ganzen zwei-