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Der Genozid von Srebrenica 1995

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Der Genozid von Srebrenica 1995

Eine geschichtswissenschaftliche Analyse der Dokumentarfilme

„Die Schatten von Srebrenica- 20 Jahre nach dem Krieg“, „Srebrenica 360°“

und „Srebrenica. Wunden, die niemals verheilen“

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von René Andreas Kettler

Am Institut für Geschichte

Begutachter: O.Univ.-Prof. Dr.phil. Karl Kaser Graz, 2021

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„Es ist die wichtigste Kunst des Lehrers, die Freude am Schaffen

und Erkennen zu wecken.“

(Albert Einstein)

Meinen Eltern in Dankbarkeit gewidmet.

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Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher weder in gleicher oder ähnlicher Form einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektroni- schen Version.

Graz am ________________________ ______________________

(Unterschrift)

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1

1. Historischer Kontext 10

1.1Innenpolitische Situation vor dem Bosnienkrieg 10

1.2Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992-1995) 22

2. Der Genozid in Srebrenica 32

2.1 Der Begriff Genozid – Entstehungsgeschichte und gesetzliche Bestimmungen 32 2.2 Fallbeispiele von genozidalen Verbrechen im 20. Jahrhundert 40

2.3 Der Ursprung der bosnischen Muslime 43

2.4 Das Massaker in Srebrenica – Vorgeschichte, Chronologie der Ereignisse und Auswirkungen 44

3. Der Dokumentarfilm 58

3.1 Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms 58

3.2 Filmgenres und ihre Charakteristika 60

3.3 Kriegsfilm 65

3.4 Der Kriegsdokumentarfilm 67

4. Analyse dreier Dokumentarfilme über Srebrenica 72

4.1 Analyse des Dokumentarfilms „Die Schatten von Srebrenica – 20 Jahre nach dem Krieg“ 73

4.1.1 Inhaltliche Analyse 73

4.1.2 Formale Analyse 78

4.1.3 Entstehungsgeschichte des Films 84

4.2 Analyse des Dokumentarfilms „Srebrenica 360°“ 85

4.2.1 Inhaltliche Analyse 85

4.2.2 Formale Analyse 91

4.2.3 Entstehungsgeschichte des Films 94

4.2.4 Experteninterview zum Film mit Regisseurin Renate Metzger-Breitenfellner 95 4.3 Analyse des Dokumentarfilms „Srebrenica. Wunden, die niemals verheilen“ 99

4.3.1 Inhaltliche Analyse 99

4.3.2 Formale Analyse 106

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4.4 Analyseverfahren zu den Dokumentarfilmen 110

4.5 Authentizitätstendenzen in den drei Dokumentarfilmen 111

5. Linguistische Diskursanalyse der drei Dokumentarfilme 118

5.1 Strukturanalyse 119

5.2 Feinanalyse 123

5.3 Zusammenfassung 126

Fazit 127

Literatur- und Quellenverzeichnis 132

Anhang 140

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1

Einleitung

„Isque habitus animorum fuit, ut pessimum facinus auderent pauci, plures vellent, omnes pater- entur“

Tacitus, Historien I, 281

Die Auseinandersetzungen, die zum Zerfall Jugoslawiens führten, mündeten schließlich in einen Krieg, der auf mehreren Schauplätzen auf dem Territorium des ehemaligen Jugosla- wien ausgetragen wurde. Einer der Schauplätze war auch Bosnien-Herzegowina. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina von 1992 bis 1995 geschah vor dem Hintergrund eines ethnischen Konflikts, der die Gesellschaft spaltete. Die Kampfhandlungen erreichten ihren traurigen Hö- hepunkt im Juli 1995, als serbische Einheiten in Srebrenica einen Völkermord an bosnischen Muslimen verübten. Der Genozid von Srebrenica jährte sich 2020 zum fünfundzwanzigsten Mal. Er gilt als der erste juristisch anerkannte Genozid auf europäischem Boden seit dem Zwei- ten Weltkrieg (Calic 2010, 322). Die planmäßige Durchführung des Massenmordes und dessen Brutalität unterstrich auch die damalige UN-Botschafterin Madeleine Albright in ihrer Stel- lungnahme vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 10. August 1995:

„Wir dürfen nicht vergessen, was in Srebrenica und Žepa geschah, weil es gute Gründe gibt, zu glauben, insbesondere was Srebrenica betrifft, dass die Serben[...] viele derer, die vor der Ge- walt fliehen wollten, geschlagen, vergewaltigt und ermordet haben. Diese Toten starben nicht

‚im Eifer des Gefechts’; Sie wurden nicht aus Notwehr getötet; sie wurden nicht versehentlich getötet; sie wurden systematisch auf Befehl der Führung der bosnischen Serben abgeschlach- tet.[...]“ (Heinrich-Böll-Stiftung 2005, 41)

Die Aufarbeitung der Ereignisse von damals ist nach so vielen Jahren immer noch nicht abgeschlossen und Untersuchungsgegenstand vieler Studien und wissenschaftlicher Arbeiten.

Immer wieder stand die internationale Gemeinschaft in der Kritik, untätig gewesen zu sein und den Völkermord nicht verhindert zu haben. Insbesondere die Rolle der UNO-Soldaten, die die Bevölkerung in Srebrenica hätten schützen müssen, wurde und wird immer noch hinterfragt.

In meiner Arbeit steht der Genozid an der bosniakischen Bevölkerung in Srebrenica im Juli 1995 im Fokus der Untersuchung. Dieses Themas nahmen sich verschiedene Medien, unter

1 So war eben die Stimmung, dass das scheußliche Verbrechen wenige wagten, mehr es wollten, alle es geschehen ließen.

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2 anderem auch Dokumentarfilme, an. Das filmische Geschehen stellt eine Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her, was das Erinnern ermöglicht. Somit sind Dokumentarfilme auch als Erinnerungsmedium beziehungsweise Medien des kollektiven Gedächtnisses zu be- zeichnen.

Inhaltlich konzentrieren sich die Filme, die als Primärquellen dienen, auf die Ereignisse rund um das Massaker und beleuchten auch seine Begleitumstände. Ihre Wirkungsdimension ist unbestritten, sie erschüttern und machen sichtbar, was alles in einem Krieg möglich ist. Die Beweggründe, die zur Auswahl der Filme geführt haben, waren, möglichst viele verschiedene Aspekte des Massakers abzudecken.

Der erste Dokumentarfilm „Die Schatten von Srebrenica – 20 Jahre nach dem Bosnien- krieg“ konzentriert sich auf verschiedene genozidale Verbrechen in Srebrenica. 20 Jahre nach dem Genozid berichten Augenzeugen und Augenzeuginnen über Erschießungen und Abtrans- port der Frauen, Kinder und alten Menschen. Des Weiteren wird auch die Vorgehensweise der UN-Soldaten kritisch hinterfragt. Es handelt sich um eine TV-Dokumentation, die zum 20. Jah- restag des Massakers von Srebrenica im bayrischen Fernsehen im Juli 2015 ausgestrahlt wurde.

In fünf Portraits wird das grauenhafte Geschehen von der Journalistin Susanne Glass noch ein- mal reflektiert.

Der Titel des zweiten Dokumentarfilms lautet „Srebrenica 360°“. Im Fokus steht das Leben der Rückkehrer, die 14 Jahre zuvor vor dem Genozid flüchteten und versuchen nun ein normales Leben, das von Armut und Arbeitslosigkeit begleitet wird, in ihrer Heimat zu führen.

Es kommen aber auch Frauen zu Wort, die die Zeit der Kriegswirren in Srebrenica verbrachten.

Sie betrauern ihre Männer, Söhne und Brüder und bringen ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit zum Ausdruck. Die Schweizer Filmemacherinnen Renate Metzger-Breitenfellner und Conny Kipfer produzierten den Film im Jahr 2009.

Der dritte Dokumentarfilm „Srebrenica. Wunden, die niemals verheilen“ rückt die Aus- sagen der Augenzeugen und Augenzeuginnen der Ereignisse im Juli 1995 ins Zentrum des Filmgeschehens. Die chaotischen Zustände in der Stadt Srebrenica mit Tausenden von Flücht- lingen bilden den Hintergrund, vor dem eine humanitäre Katastrophe geschah. Der Film der Regisseurin Birgit Wuthe wurde im Jahr 2015 im deutschen Fernsehen das erste Mal ausge- strahlt.

Ziel meiner Diplomarbeit stellt eine Dokumentarfilmanalyse unter gesellschaftspoliti- schen, historischen und linguistischen Aspekten dar, unter welchen die Forschungsfragen der Arbeit, wie folgt, formuliert werden:

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3

• Welche genozidale Verbrechen werden in den drei Dokumentarfilmen vergegenwär- tigt?

• Auf welche Weise bemühen sich die Dokumentarfilme um die Authentizität der Ereig- nisse rund um das Massaker von Srebrenica?

• Welche Intentionen der Regisseurinnen Susanne Glass, Renate Metzger-Breitenfellner und Birgit Wuthe lassen sich aus den Dokumentarfilmen ableiten?

Die Forschungsfrage der linguistischen Diskursanalyse lautet:

• Inwiefern lassen sich charakteristische Elemente im Sprachgebrauch in den Dokumen- tarfilmen ausmachen und wie wirken sie sich auf die Rezeptionsebene aus?

Zum Stand der Forschung, die Bestrafung der Kriegsverbrecher betreffend, wäre zu er- wähnen, dass der serbische Ex-General Ratko Mladić im Berufungsverfahren zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Richter verkündete das Urteil am 8. Juni 2021 (https://kurier.at/po- litik/ausland/urteil-gegen-ex-general-ratko-mladic-rechtskraeftig/401400495). Viele andere Verfahren sind jedoch immer noch nicht abgeschlossen.

Zu den neueren Publikationen, die sich seriös mit dem Thema der Aufarbeitung des Genozids widmen, gehören drei Bücher. Das erste, das unter dem Titel „Das Zeitalter der Ge- nozide. Ursprünge, Formen und Folgen politischer Gewalt im 20. Jahrhundert“ herausgegeben wurde und Verwendung in meiner Arbeit findet, stammt aus dem Jahr 2017 von Olaf Glöckner und Roy Knocke, die einen transdisziplinären Überblick über die Genozide im 20. Jahrhundert bieten. 2019 ist das Buch „The Last Refuge: A True Story of War, Survival and Life under Siege in Srebrenica“ von Hasan Nuhanović erschienen, das sich der Situation der Betroffenen in der belagerten Stadt Srebrenica widmet. Den jüngsten und aktuellsten Beitrag zu dieser The- matik stellt der „Jahresbericht 2020 zur Leugnung des Völkermordes von Srebrenica“ dar, der im Mai 2020 erschienen ist und von Monica Hanson Green verfasst wurde.

Aktuelle längere Dokumentarfilme über Srebrenica sind rar. Erwähnenswert wäre die Dokumentation „Srebrenica – Leben nach dem Völkermord“ von Marlon Herrmann, die aber schon 2010 entstand, sowie der Dokumentarfilm „Überall nur nicht hier“ aus dem Jahr 2009 von Tamara Milošević. Es gibt jedoch eine Reihe kürzerer Dokumentationen neueren Datums im Umfang von lediglich einigen Minuten. 2020 erschien ein Film, der sich mit der Srebrenica- Thematik befasst und von der Regisseurin Jasmila Žbanić produziert wurde. Es handelt sich allerdings um einen Spielfilm mit dem Titel „Quo Vadis, Aida?“, der auf der literarischen

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4 Vorlage „Unter der Flagge der Vereinten Nationen. Die Staatengemeinschaft und der Völker- mord von Srebrenica“ (2007) von Hasan Nuhanović basiert.

In der Auseinandersetzung mit den sprachlichen Mitteln, die in den Dokumentarfilmen eingesetzt werden, sind zwei Beiträge von Bedeutung. Der wissenschaftliche Artikel „Lexik und Grammatik der Agonalität in der linguistischen Diskursanalyse“ vom Germanisten Ek- kehard Felder, der sich vorwiegend der Lexik und Grammatik widmet, ist als theoretischer Zu- gang zu meinem Thema zu nennen. Der zweite Aufsatz, der sich unter dem Titel „Idiom, Phra- seologismus oder Phrasem? Zum Oberbegriff eines Bereichs der Linguistik“ von der Germa- nistin und Historikerin Elke Donalies mit der Idiomatik im Sprachgebrauch auseinandersetzt, liefert bedeutende Impulse für die Diskursanalyse in meiner Diplomarbeit.

Die Sekundärquellen, die die Geschichte Jugoslawiens darlegen, sind umfangreich. Es erscheint wichtig, einen Überblick über die innenpolitische Entwicklung seit Titos Tod bis zum Zerfall Jugoslawiens sowie über den Krieg in Bosnien zu vermitteln, um die Geschehnisse, die zum Völkermord führten, besser zu verstehen. Zu den Standardwerken, die sich mit der Ge- schichte des Balkan auseinandersetzen und auf die ich zurückgreifen möchte, zählen vor allem die „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“ (2010) von Marie-Janine Calic, „Die drei Jugoslawien: Eine Geschichte der Staatsbildung und ihrer Probleme“ (2011) von Sabrina P.

Ramet, sowie „Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011“ (2014) von Holm Sund- haussen und „Krieg und Frieden in Bosnien-Herzegowina“ (1996) von Marie-Janine Calic.

Den theoretischen Rahmen zum Thema Genozid bilden die rechtlichen Bestimmungen, die den Genozid als solchen definieren und die in der Konvention über die Verhütung und Be- strafung des Völkermordes dargelegt sind. Es handelt sich um ein offizielles Dokument, das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1951 in Kraft trat. Die gewonnenen Er- kenntnisse werden auf den Genozid im Allgemeinen und den Genozid in Srebrenica angewen- det und ausführlich beleuchtet.

Eine Reihe von Veröffentlichungen untersucht detailliert das Massaker in Srebrenica und zieht Rückschlüsse daraus. In meiner Diplomarbeit beziehe ich mich auf einige Werke, die mir als repräsentativ erscheinen: David Rohde ist ein US-amerikanischer Investigativjournalist und Autor des Buches „Endgame. The Betrayal and Fall of Srebrenica, Europe’s Worst Mas- sacre since World War II“ (2012), für das er mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde. Die Publikation bietet eine Chronologie der Ereignisse der denkwürdigen Tage zwischen dem 6.

und 16. Juli 1995, an denen die Bosniaken systematisch ermordet wurden. Die Rekonstruktion der Ereignisse basiert auf den Aussagen von etlichen Betroffenen, Soldaten sowie bosnischen Männern und Frauen. Eine weitere Publikation „Chronologie eines Völkermordes oder Was

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5 geschah mit Mirnes Osmanović“ (2015) stammt von Matthias Fink. Darin bezieht er sich an- hand von Beweisdokumenten und Zeugenaussagen auf die Vorgeschichte und den Ablauf der Gewalteskalation in Srebrenica. Er beleuchtet die Ursachen der „ethnischen Säuberung“ in Srebrenica und nimmt Stellung zum Vorwurf, dass nicht nur die bosnische Armee, sondern auch die internationale Gemeinschaft und die UN-Schutztruppen tatenlos die Gräueltaten ge- schehen ließen. Als besonders aussagekräftig erscheint mir das Buch „Srebrenica. Ein Prozess.

Dokumente aus dem Verfahren gegen General Radislav Krstić vor dem Internationalen Straf- gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag“ (2002). Die Belgrader Reporterin Ju- lija Bogoeva und die deutsche Balkan-Korrespondentin Caroline Fetscher geben Einblicke in das Verfahren, das gegen den General der bosnischen Serben, Radislav Krstić, wegen Kriegs- verbrechen geführt wurde. Weitere Werke, die man diesbezüglich anführen kann, sind „Schlim- mer als Krieg: Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist“ (2009) vom amerikani- schen Politologen Daniel Johann Goldhagen, der die Entstehungsgeschichte des Völkermords untersucht und Möglichkeiten aufzeigt, wie man dieses Verbrechen frühzeitig erkennen und möglicherweise verhindern kann.

Die theoretischen Grundlagen zum Thema Dokumentarfilm, auf die ich mich in meiner Arbeit stützen möchte, liefern Werke zweier bekannter AutorInnen. Eva Hohenberger gilt als eine herausragende Medienwissenschaftlerin. Mit ihrem Buch „Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms“ (1998) deckt sie ein breites Spektrum zum Thema des Do- kumentarfilms ab. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von filmtheoretischen Texten von mehreren Autoren. Das Werk bietet einen historischen Überblick über die Entwicklung des Dokumentarfilms. Darüber hinaus werden das Verhältnis zum nichtfiktionalen Film sowie die Wirkung des Dokumentarfilms auf den Zuschauer und Zuschauerinnen untersucht. Insgesamt ist es ein fundierter Beitrag zu den aktuellen Fragen des Genres. Mit dieser Publikation schuf Eva Hohenberger eines der deutschsprachigen Standardwerke der Dokumentarfilmtheorie. Der Germanist und Theaterwissenschaftler Manfred Hattendorf spezialisiert sich in seinen Arbeiten auf das Thema Dokumentarfilm und Authentizität. In seiner Publikation „Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung“ (1995) untersucht er unter anderem, in- wiefern der Film seine authentisierende Wirkung entfalten kann und von welchen Faktoren diese abhängt. Seine Arbeit schließt auch Formen und Funktionen des Dokumentarfilms ein, die mit Hilfe von zahlreichen Beispielen analysiert werden.

Die wissenschaftliche Literatur, die sich dem Diskurs und der Diskursanalyse widmet, schließt die Werke von Rainer Keller et al. „Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse Band 1: Theorien und Methoden“ (2006), Siegfried Jäger „Kritische Diskursanalyse“ (2015)

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6 und Uwe Flick „Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung“ (2016) ein. Sie bieten mit der Darlegung ihrer Methoden eine gute theoretische und praktische Basis für die Durchführung meiner Diskursanalyse.

Für die Beantwortung der Forschungsfragen verwende ich vorrangig die Methode der Literatur- und Internetrecherche sowie der Inhaltsanalyse. Spezielle Methoden, derer sich die Filmanalyse zunutze macht, sind die „empirisch-sozialwissenschaftliche Methode“ und die

„hermeneutische Methode“. Die erstere beruht vor allem auf der Inhaltsanalyse. Ihr Ziel ist es, quantitative Ergebnisse, die sich aufgrund der Fragestellung ergeben, zu sammeln und auszu- werten. Diese Methode geht auf den Medienwissenschaftler Gerd Albrecht zurück (Hickethier 2001, 31). Bei der Filmanalyse stütze ich mich auf die hermeneutische Methode, die Knut Hi- ckethier in seinem Buch „Film- und Fernsehanalyse“ (2001) darlegt. Diese Methode fand ihren Eingang in die Geisteswissenschaften, vor allem in die Literatur. Im Rahmen der Literaturwis- senschaften begann in den 60er Jahren die Beschäftigung mit Film und Fernsehen, aus der sich später die Medienwissenschaft entwickelte. Diese Herangehensweise ist die Grundlage der Textauslegung, in der Literatur wird sie in der Werkinterpretation angewendet. Sie ermöglicht jedoch auch eine Filmanalyse. Im Gegensatz zur linearen beruht die hermeneutische Methode auf einer „zirkulären“ Herangehensweise, das heißt, je öfter man auf den Text zurückgreift und neue Fragen formuliert, desto besser wird er verstanden. Auf diese Weise kann man nicht nur Details erkennen, sondern auch den Text in seiner Komplexität verstehen. Die Interpretation eines Textes umschließt mehrere Ebenen und ist als Interaktion zwischen dem Text und seiner Rezeption durch den Betrachter oder die Betrachterin erkennbar (Ebenda, 32-34). Der Medien- wissenschaftler Thomas Koebner erklärt die Charakteristika der hermeneutischen Filmanalyse folgendermaßen:

„Wiederholte Anschauung und wiederholte Kontrolle der Beschreibung durch den Blick auf den Gegenstand, […]die Fähigkeit zur Einfühlung und Abstraktion, der ausreichenden Begründung und der Veranschaulichung am Beispiel“ (Ebenda, 33).

Mit der hermeneutischen Methode ist es möglich, Sinnzusammenhänge zu erkennen und sie zu verstehen. Die Bedeutung der Sätze wird nicht isoliert, sondern im Zusammenhang wahrgenommen. Die Hermeneutiker setzen voraus, „[…] dass man das Einzelne nur durch das Ganze verstehen kann und umgekehrt“ (Kornmeier 2021, 130). Zur Filmanalyse trug auch der Medienwissenschaftler Werner Faulstich mit seinen Methoden, die er schon 1988 beschrieb, wesentlich bei. Ihm zufolge ermöglichen sechs verschiedene Ebenen den Zugang zur Filmana- lyse. Neben der eher allgemeinen „strukturalistischen“ Filmanalyse, weist er auf spezifische

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7 Methoden wie „biographische“, „literatur-filmhistorische“, „soziologische“, „psychologische“

und „genrespezifische Methode“ hin. Der unterschiedliche Zugang, den diese Methoden dar- stellen, hängt nicht nur von der Betrachtungsperspektive, was den Film anbelangt, ab, sondern er zeigt sich auch in den Arbeitsschritten, in die eine Analyse eingeteilt wird und dem Material, der zusätzlich als sekundäre Quelle angeboten werden muss. So wird zum Beispiel bei der „bi- ographischen“ Annäherung an den Film auf die Biographie des Regisseurs/des Kameramanns oder der Regisseurin/Kamerafrau zugegriffen.

Weitere Ansätze zur Filmanalyse liefert der Medienwissenschaftler Helmut Korte in seiner „Einführung in die systematische Filmanalyse“ (2004). Seine Methode, nach der sich meine Untersuchung der drei Dokumentarfilme richtet, wird in Kapitel vier näher dargelegt.

Das von mir durchgeführte Interview mit Regisseurin Renate Metzger-Breitenfellner erfolgte auf der Basis eines qualitativen Experteninterviews, das als spezielle Methode im Rah- men eines Leitfadeninterviews eine gängige Praxis bei der Befragung von Personen darstellt und auf die ich mich im Interview stütze. Beim Leitfadeninterview konzentriert sich der oder die Interviewführende auf einen Erzählstrang, den er oder sie selbst entwickelt hat. Er basiert auf Fragen und Erzählanreizen und dient vor allem dazu, das Gespräch am Laufen zu halten (Flick 2016, 210). Die explorative Methode der Soziologen Alexander Bogner und Wolfgang Menz wird wie folgt beschrieben: Beide geben eine genaue Definition an, nach welcher ein Experte auf seinem spezifischen Gebiet fachlich bewandert und praxisbezogen sein muss. Je nach Zielsetzung können Interviews zur Untersuchung eines Feldes eingesetzt werden, um The- men zu strukturieren und Hypothesen zu sammeln. Eine zweite Möglichkeit führt dazu, dass durch Systematisierung Informationen aus anderen Analysen erhalten werden können. Der dritte Typus zielt darauf ab, auf der Basis des Wissens diverser Experten zu einer Theorie zum untersuchten Gegenstand zu gelangen. Der Einsatz des Experteninterviews wird als eigenstän- dige Methode betrachtet, um die Inhalte des ExpertInnenwissens zu untersuchen (Ebenda, 216).

Die SozialwissenschaftlerInnen Michael Meuser und Ulrike Nagel gehen beim Experteninter- view davon aus, dass das Interesse am Befragten als ExpertInnen in einem bestimmten wissen- schaftlichen Bereich liegt. Sie weisen jedoch darauf hin, dass die Kriterien, nach denen jemand als Experte oder als Expertin ausgewiesen werden kann, nicht genau festgelegt werden (Ebenda, 214).

Auch der Soziologe Uwe Flick hat sich einen Namen auf dem Gebiet der qualitativen Forschungsanalyse gemacht. Da die Umsetzung von Leitfadeninterviews auf verschiedene Probleme stößt, plädiert Uwe Flick für eine Kombination des offenen Interviews mit anderen Methoden, um einen Gegenstand zu untersuchen, der zu untersuchende Gegenstand wird aus

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8 verschiedenen Perspektiven betrachtet. Somit ist es möglich, eine umfassende Information zu erhalten (Ebenda, 202).

Da im letzten Kapitel der Diplomarbeit eine Diskursanalyse durchgeführt wird, gilt es auch hier, eine Methode festzulegen. Diesbezüglich gibt es mehrere Ansätze, die im Folgenden dargestellt werden. Auf dem Gebiet des Diskurses und der Diskursanalyse gehören der franzö- sische Wissenschaftler Michel Foucault, der Soziologe Rainer Keller oder auch der Sprachwis- senschaftler Siegfried Jäger zu den führenden Persönlichkeiten. Michel Foucault gilt als der Begründer der macht- und wissenschaftstheoretischen Diskursanalyse. Im Wesentlichen ver- steht Foucault Diskurse als Praktiken, die bestimmten Regeln unterliegen. Methodisch wird sein Diskursbegriff in der „Archäologie des Wissens“ verankert. Nach seinen Vorstellungen umfasst der Diskurs alle Äußerungen in einer Gesellschaft und bestimmt so ihre Realität. Die Verbindung zwischen Macht und Diskurs steht im Zentrum seiner theoretischen Überlegungen (Keller et al. 2006, 264). In linguistischer Hinsicht kommt den Aussagen eine wichtige Bedeu- tung zu, Foucault sieht den Diskurs als „Kette von Aussagen“ beziehungsweise spricht er von

„Atomen des Diskurses“ (Jäger 2015, 14). Eine Fülle an Veröffentlichungen verschiedener WissenschaftlerInnen weist darauf hin, dass die Diskussion über Foucaults theoretische Über- legungen zum Diskurs noch nicht abgeschlossen ist und fortgesetzt wird (Ebenda, 17).

Meine Diskursanalyse stützt sich auf die Anweisungen von Siegfried Jäger, die, wie folgt, dargestellt werden. Der Gesamtverlauf seiner Diskursanalyse gliedert sich in einzelne Schritte, die er transparent darlegt:

1. Zunächst ist das Ziel der Untersuchung bekannt zu geben.

2. Als nächster Schritt erfolgt die Definition des Untersuchungsgegenstandes.

3. Die Materialauswahl ist in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand vorzunehmen.

4. Die Strukturanalyse ermittelt die im Text(material) getätigten Aussagen, die zu analy- sieren sind und deren Inhalte sowie die formalen Elemente erfasst werden müssen. Zu- dem dürfen auch die sprachlichen und nicht-sprachlichen Merkmale nicht außer Acht gelassen werden.

5. Der Strukturanalyse folgt die Feinanalyse, die sich einerseits auf den institutionellen Kontext und die Text-Oberfläche konzentriert, andererseits auch die sprachlich-rhetori- schen Mittel und inhaltlich-ideologischen Aussagen untersucht.

6. Im sechsten Schritt erfolgt die Ermittlung des diskursiven Kontextes, die sich auf Zeit, Raum und Herrschaftsform beziehen.

7. Die zusammenfassende Diskursanalyse präsentiert die Ergebnisse der Struktur- und Feinanalyse.

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9 8. Kritik, die im Laufe der vorangegangenen Schritte immer wieder geäußert wird, soll in

dieser Phase der Diskursanalyse erweitert werden.

9. Vorschläge, die dazu führen, die kritisierten Diskurse zu bekämpfen, beziehungsweise zu vermeiden, werden im vorletzten Schritt gemacht.

10. Schließlich sind Überlegungen, ob die Analyse vollständig und gültig ist, anzustellen (Ebenda, 90 -99).

Die Diplomarbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem historischen Kontext, der sich auf die Situation in Jugoslawien vor dem Massaker bezieht.

Der Fokus des darauffolgenden Kapitels liegt auf dem Genozid aus historischer Sicht und seiner Chronologie, Ursachen und Auswirkungen des Genozids werden einer Analyse unterzogen.

Das dritte Kapitel widmet sich der Charakteristik des Dokumentarfilms im Allgemeinen, wobei die Kriegsberichterstattung im Dokumentarfilm im Vordergrund steht. In Kapitel vier werden die drei ausgewählten Dokumentarfilme analytisch bearbeitet. Die Diskursanalyse im letzten Kapitel bezieht sich auf die Untersuchung der sprachlichen Ebene in allen drei Filmen. Den Abschluss der Arbeit stellt ein Fazit dar, das die einzelnen Forschungsfragen beantwortet und die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfasst.

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1. Historischer Kontext

Die Erinnerungen vieler Menschen an das sozialistische Jugoslawien zeigen, wie ver- schieden Wahrnehmungen sein können. Für viele war die Zeit während der Ära Titos ein gol- denes Zeitalter, aber nicht wenige empfanden den kommunistischen Weg als einen, der in die Katastrophe führte. Unbestritten ist bis heute jedoch nicht nur der nachhaltige Einfluss auf ge- schichtliche Ereignisse, sondern auch auf Menschen, die der Führer Jugoslawiens hinterließ.

Über Jahrzehnte wurde Titos Slogan des jugoslawischen Volksbefreiungskampfes

„Brüderlichkeit und Einigkeit “ (bratstvo i jedinstvo) (Calic 2010, 151) hochgehalten und einte Nationalitäten sowie nationale Minderheiten, bis die Stimmung in nationalen Hass und Gewalt gegen eigene Mitbürger umschlug. Die Vermischung von religiösen, ökonomischen und ethni- schen Problemen führte schlussendlich zu kriegerischen Auseinandersetzungen und Massa- kern, wie jenem in Srebrenica.

1.1 Innenpolitische Situation vor dem Bosnienkrieg

Nach dem Tod des Staats- und Parteiführers Josip Bros Tito am 4. Mai 1980 begann eine neue Ära in der Geschichte Jugoslawiens. Die vorhandenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme verschärften sich und Jugoslawien durchlief mehrere krisenhafte Pha- sen, die in einen erbitterten Bürgerkrieg mündeten und schließlich zum Zerfall des Staates führ- ten (Calic 1996, 35).

Bis zu Titos Tod machte das Land nach innen und außen den Eindruck eines gefestigten Staates, der eine positive Entwicklung verzeichnete. Die sozialistische Selbstverwaltung des Vielvölkerstaates sowie Titos blockfreie Außenpolitik brachten ihm ein hohes nationales An- sehen. In den letzten Lebensjahren konnte er seine Autorität jedoch nicht mehr behaupten.

(Melčić 1999, 203).

Seit 1946 bestand die Föderation aus sechs Republiken: Slowenien, Kroatien, Bosnien- Herzegowina, Serbien, Montenegro und Makedonien. Die autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo entstanden innerhalb Serbiens. Die Völker und Ethnien verfügten zwar über Grup- penrechte, hatten jedoch kaum Mitspracherechte in der Bundespolitik. Durch die Selbststän- digkeitsbestrebungen auf nationaler und regionaler Ebene setzte sich schrittweise Föderalisie- rung durch. 1974 garantierte die Verfassung den Republiken und autonomen Provinzen

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11 weitgehende Kompetenzen. Der Grundkonflikt in den 80er Jahren beruhte darauf, dass sich die Republiken wirtschaftlich und politisch stark unterschiedlich entwickelten (Calic 1996, 16-17).

Nach dem Ableben Titos übernahm das Staatspräsidium, das sich aus je einem Mitglied der Republiken und Provinzen sowie dem Präsidenten des BdKJ2 zusammensetzte, die Füh- rungsaufgaben. Nach dem Rotationsprinzip lösten sich die jeweiligen Vertreter der Republiken und Provinzen ab und blieben ein Jahr lang in der Funktion des Staatsoberhaupts. Die Aufga- benteilung wurde zwischen Bund und Ländern vorgegeben und bezog sich vor allem auf die Sicherung einer einheitlichen Politik im gesamten Staat (Sundhaussen 2014, 210-211).

Jugoslawien war immer schon ein Vielvölkerstaat. Vor Ausbruch des Bosnienkrieges lebten in Slowenien 90 Prozent SlowenInnen, in Kroatien machten 75 Prozent der KroatInnen der Bevölkerung aus, und der Anteil der SerbInnen an der Bevölkerung in Serbien betrug 66 Prozent. In Montenegro lebten 68 Prozent Montenegriner, und Makedonier machten kaum 67 Prozent der Bevölkerung in Makedonien aus. Aber so vielfältig wie in Bosnien-Herzegowina war die Bevölkerung in keiner der Republiken. 1991 lebten in Bosnien-Herzegowina 44 Pro- zent Muslime, 31 Prozent Serben und 17 Prozent Kroaten. (Calic 1996, 17-19).

Abgesehen von inneren Streitigkeiten sah sich die politische Spitze bald vor schwierige Aufgaben gestellt: Ende der 70er Jahre war nicht nur Jugoslawien, sondern ganz Europa von massiven wirtschaftlichen Problemen betroffen, die es zu bewältigen galt. Dem zweiten Öl- preisschock folgte eine globale Rezession. Der massive Ausbau der Schwerindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg brachte Jugoslawien Wohlstand, Wachstum und Modernisierung. Die Glo- balisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft forderte jedoch eine Anpassung und Umstellung auf neue Technologien. Die jugoslawische Führung verabsäumte es jedoch, notwendige Schritte zu setzen. Infolgedessen waren jugoslawische Erzeugnisse auf dem internationalen Markt nicht mehr wettbewerbsfähig, und die Bürokratie erschwerte die Lage noch zusätzlich.

Die Wirtschaftskrise war von einer Finanzkrise begleitet. 1983 betrug die Inflation 45 Prozent, ab 1985 sogar 100 Prozent. Die Staatsverschuldung erreichte zwischen 1976 und 1981 21 Mil- liarden US-Dollar. Im Jahr 1982 nahm die Regierung 1,8 Milliarden US-Dollar auf, allein um die Schulden zu bedienen. (Calic 2010, 264-265). Mit der Zeit übertrafen die Inlandsschulden sogar noch die Auslandsschulden. Im Juni 1980 wurde der Dinar um 30 Prozent abgewertet, zwei Jahre später kam es zur nächsten Abwertung von 20 Prozent. 1987 musste man für 1 US- Dollar 1244,5 Dinar bezahlen. Grundlegende Reformen waren dringend notwendig, deshalb

2 Bund der Kommunisten Jugoslawiens

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12 sollte eine Kommission mit dem Slowenen Sergej Kraigher an der Spitze noch 1982 einen Plan für eine langfristige wirtschaftliche Stabilisierung in Jugoslawien vorstellen. Nur wenige Punkte des vorgeschlagenen Programms wurden jedoch umgesetzt (Sundhaussen 2014, 216- 218).

Ökonomische Probleme gingen mit sozialen Problemen einher. 1984 waren mehr als eine Million Menschen arbeitslos, junge Bevölkerungsgruppen unter 24 Jahren, insgesamt 60 Prozent der Bevölkerung, waren besonders betroffen. Viele wanderten aus ihrer ärmeren Re- gion in besser entwickelte Landesteile ab und versuchten in Slowenien und Mittelserbien Fuß zu fassen. Viele Jugendliche blickten auch deshalb einer düsteren Zukunft entgegen, weil sie keine entsprechende Ausbildung hatten. 1974 wurde eine Bildungsreform eingeleitet, sie wurde jedoch nicht zu Ende geführt. Die Bildung war in der Kompetenz der Länder, dies hatte zur Folge, dass sich immer weniger jugoslawische Bildungsinhalte in den Lehrplänen fanden. Eine Schlüsselrolle blieb der ideologischen Erziehung sowie der Erinnerung an heldenhafte Zeiten vorbehalten. Die vielen Universitäten boten keine fundierte Ausbildung, sodass die Absolven- ten keine guten Berufschancen hatten. Als Begleiterscheinung der beruflichen und privaten Perspektivlosigkeit stiegen der Drogenkonsum und die Jugendkriminalität an (Calic 2010, 264- 266; Sundhaussen 2014, 217-218).

Nach Titos Tod bildeten sich überall im Land nationalistische Bewegungen. 1981 er- weckten die blutigen Auseinandersetzungen im Kosovo großes Aufsehen. Die albanische Be- völkerung war daran interessiert, ihre Provinz als die siebte Republik anzuerkennen, wogegen Serbien scharf protestierte. Die Situation verschärfte sich deutlich, als im Mai 1986 Slobodan Milošević zum Führer der serbischen Kommunisten gewählt wurde und eine extrem national ausgerichtete politische Linie vertrat. 1989 wurden die Selbstverwaltungsrechte der früheren autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina aufgehoben, womit die Minderheitenrechte auf- hörten zu existieren (Calic 1996, 35).

Anfang der 80er Jahre überrollte eine Welle von politischen Prozessen das Land. Nur einige seien hier erwähnt: 1981 wurde eine Gruppe kroatischer Nationalisten vor Gericht ge- stellt, darunter auch Franjo Tudjman, der spätere Präsident Kroatiens. Seine Äußerungen über die Diskriminierung der Kroaten in Jugoslawien und über die übertrieben hohe Zahl der Opfer im Konzentrationslager Jasenovac resultierten in einer zweijährigen Haftstrafe. (Calic 2010, 268). 1983 wurde der spätere bosnische Präsident Alija Izetbegović mit einer Gruppe von Jung- muslimen verhaftet und verurteilt. Man warf ihnen feindliche Propaganda vor und dass sie ge- plant hätten, einen islamischen Staat zu errichten. Aus heutiger Sicht handelte es sich um einen Schauprozess mit erfundenen Anklagen, um auf eine islamische Bedrohung aufmerksam zu

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13 machen und die Existenz eines muslimischen Nationalismus zu unterminieren. Zugleich war es auch eine Geste der bosnisch-herzegowinischen Führung, um zu zeigen, dass man dem Natio- nalismus in ihrer Republik keinen Platz einräumen würde (Sundhaussen 2014, 247-248). Ein aufsehenerregender Vorfall ereignete sich 1984, als in Belgrad sechs Professoren, Sympathi- santen des Alt-Dissidenten Milovan Djilas, angeklagt wurden. Der Prozess wurde jedoch in ein Tribunal umgewandelt, bei dem es um die Unterdrückung der Meinungsfreiheit ging. Durch solche Prozesse wurde die Öffentlichkeit gegen das Regime mobilisiert. Ähnliche Wirkung zeigte auch die Verurteilung des bosnisch-serbischen Soziologen Vojislav Šešelj zu einer acht- jährigen Haftstrafe im Jahr 1985. Sein Vorschlag zum Umbau Jugoslawiens bezog sich auf die Reduzierung der Republiken auf nunmehr vier, nämlich Slowenien, Kroatien, Serbien und Ma- kedonien. Die autonomen Provinzen sowie Bosnien-Herzegowina und Montenegro hätten nach seiner Auffassung kein Recht zu existieren (Calic 2010, 268-269).

Die politischen Prozesse verfehlten ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit nicht, und vor allem immer mehr Intellektuelle traten für demokratische Rechte ein. Das „Komitee für Gedan- ken- und Meinungsfreiheit“, das sich 1984 um den serbischen Schriftsteller Dobrica Ćosić for- mierte, trat für die Abschaffung des Einparteiensystems, für freie Wahlen und Medien sowie für ein unabhängiges Rechtswesen ein. 1986 unterstützte das Komitee mit einer Petition die Freilassung der bosnischen „Islamisten“ (Ebenda, 269).

Die ökonomische Krise wurde von einer politischen begleitet. Der Erfolg des Sozialis- mus war bis zur globalen Krise des Industrialismus und dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft auf dem industriellen Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit aufgebaut. Diese Tat- sache erwies sich in den 1980er Jahren als überholt. Auf Veranstaltungen wurden die Inkom- petenz und Verschwendungssucht der politischen Elite und anderer Funktionäre angeprangert.

Allgemein herrschte die Auffassung, dass der wirtschaftliche Niedergang nicht die Ursache, sondern Folge einer tiefen Systemkrise war und zwar nicht nur innerhalb der Gesellschaft, son- dern auch in der Politik. Der Bund der Kommunisten stand besonders heftig in der Kritik, da es dessen acht Landesverbänden jahrelang nicht gelungen war, eine gemeinsame Linie in der Politik zu finden. Die Unfähigkeit und Uneinigkeit der politisch Verantwortlichen bewirkten, dass 1983 nur 8 von 25 wichtigen Gesetzten verabschiedet wurden. Darüber hinaus vertrat die kommunistische Partei nicht mehr vorrangig die Interessen der Bauern und Arbeiter, sondern sie übte einen starken Einfluss auf staatliche Institutionen und gesellschaftliche Organisationen aus. Strukturelle Reformen konnten nicht durchgesetzt werden, weil die Verflechtung von Staat und Partei zu eng war. Immer weniger SlowenInnen, KroatInnen und SerbInnen entschieden

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14 sich für den Parteibeitritt. Versuche, Reformen zur wirtschaftlichen Sanierung einzuleiten, gab es immer wieder, doch sie waren wenig nachhaltig (Calic 2010, 268-270).

Erst am 13. Kongress des BdKJ3 im Juni 1986 wurde die Notwendigkeit, ein langfristi- ges, wirtschaftliches Sanierungsprogramm zu erstellen, erstmals offen eingeräumt. Bevor je- doch Sanierungsmaßnahmen eingeleitet werden konnten, musste man ein wichtiges Dilemma des Wirtschaftssystems lösen, nämlich ob sich Jugoslawien gänzlich vom Weltmarkt abkoppeln und sich nur am Ostblock orientieren, oder es sein Wirtschaftssystem grundlegend umbauen sollte, was weitreichende soziale Folgen hätte. Weder die Kroatin Milka Planinc, die kurzfristig Ministerpräsidentin wurde, noch ihr Nachfolger, der bosnische Kroate Branko Mikulić, der von 1986 bis 1989 als Ministerpräsident tätig war, konnten dieses Problem lösen. Seine Bestrebun- gen, die Staatsausgaben zu reduzieren, scheiterten. Im Dezember 1988 trat er von seinem Pos- ten zusammen mit seinem Kabinett zurück und hatte dennoch bis 1989 die Funktion als Minis- terpräsident inne. Immerhin gelang es dem Parlament Ende November 1988, 39 Verfassungs- änderungen zu beschließen. Durch diese sollte die Einheit des jugoslawischen Marktes geför- dert, das gesellschaftliche Eigentum dem privaten gleichgestellt und die Bedingungen für aus- ländische Investoren leichter gemacht werden. In der Verfassung von 1974 waren die Rechte der „Arbeiterklasse und aller Werktätigen“ sowie „freiwillig zusammengeschlossenen Völ- kern“ fest verankert. Sie waren Träger der Souveränität des jugoslawischen Staates. Nun waren sie aus den Gesetzesnovellen verschwunden, und das staatliche System hatte sich aufgelöst.

Seit Jahren stand der Staat am Rande des Ruins, 1988 betrug die Inflationsrate 251 Prozent, die Auslandsverschuldung betrug 22 Milliarden US-Dollar (Sundhaussen 2014, 223-225).

Auf Ante Marković, der 1989 Regierungschef wurde, ruhten viele Hoffnungen, dass er Jugoslawien aus der Krise führen könnte. Vor allem die gemäßigte Mittelschicht und die west- lichen Diplomaten sahen bei seinem Amtsantritt Vorzeichen einer weiteren positiven Entwick- lung. Sein Reformprogramm kam jedoch zu spät. Angesichts der sich verschärfenden politi- schen Krise gelang es auch Marković nicht, eine signifikante Wende herbeizuführen (Melčić 1999, 339-340).

Die Macht im Staat, die sich in den Jahren nach Titos Tod maßgeblich gegen Reformen stellte, war die Armeeführung. Sie war von Tito verwöhnt, hatte einen Sitz im Bundespartei- präsidium und verfolgte eine dogmatische Linie. Die Armee war somit nicht nur eine militäri- sche, sondern auch eine politische und wegen der Rüstungsindustrie auch eine wirtschaftliche

3 Bund der Kommunisten Jugoslawiens

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15 Macht. Verleumdungen und erpresserische Kampagnen seitens des Altpartisanenverbands, die sich gegen neue Ideen und ihre Träger richteten, waren in der Öffentlichkeit weit verbreitet.

Den Armeevertretern im Parteipräsidium und Zentralkomitee gelang es immer wieder, mit Dro- hungen und erpresserischen Mitteln zu arbeiten (Melčić 1999, 206).

Einen besonderen Stellenwert im serbisch-nationalen Bewusstsein nahm Kosovo ein, wo es immer wieder zu Konflikten kam. 1981 brach in Kosovo eine Revolte aus, die für das Schicksal Jugoslawiens weitreichende Folgen haben sollte. Demonstrationen an der Universität in Priština am 11. März breiteten sich auf alle größeren Städte Kosovos aus und brachten schließlich das ganze jugoslawische System ins Wanken. Mit der Parole „Kosova Republika!“

verlangten die jungen, meist intellektuellen Albaner die Gründung einer unabhängigen Repub- lik für alle AlbanerInnen in Jugoslawien. Durch die Verfassung von 1974 war dem Kosovo nämlich eine umfassende Autonomie, aber kein formal ebenbürtiger Status gegenüber einer Republik garantiert. (Calic 2010, 271). Schlussendlich waren es nicht die Demonstrationen der Albaner, welche das Kosovo zum unüberwindbaren Problem für den jugoslawischen Staat machten, sondern wie die serbische Führung unter Milošević ab etwa 1985 die Kosovo-Frage behandelte (Melčić 1999, 206).

Für viele Serben stellt Kosovo auch heute noch einen symbolischen Ort, eine Art My- thos, dar. Bis in die 1980er Jahre hinein war es eine Region, die als arm und rückständig galt.

Die Ergebnisse der Volkszählung von 1981 zeigten, dass in Kosovo nur 2,6 Prozent aller im damaligen Jugoslawien ansässigen Serben lebten (Sundhaussen 2014, 233).

Mit fortschreitender Krise fand die serbische Öffentlichkeit in den 1980er Jahren in Ko- sovo ihren Sündenbock, der für alle Missstände im Staat verantwortlich gemacht wurde. Der Forderung, die Autonomie für Kosovo abzuschaffen und rechtsstaatliche Verhältnisse herzu- stellen, schlossen sich in einer Petition serbische Politiker, aber auch Belgrader Intellektuelle an. Mitglieder aller politischer Lager unterstützten die Forderung. Die früheren Bemühungen, Meinungsfreiheit und Bürgerrechte durchzusetzen, nahmen nun eine deutliche nationalpoliti- sche Färbung an (Calic 2010, 272-273).

Im September 1987 betrat ein neuer Akteur die jugoslawische politische Bühne. In einer zweitägigen Sitzung des 8. Plenums des Zentralkomitees der Serbischen Kommunistischen Par- tei setzte sich Slobodan Milošević gegen seinen politischen Ziehvater Ivan Stambolić durch. In ihrem Buch „Der Jugoslawienkrieg“ zeichnet Dunja Melčić ein verheerendes Persönlichkeits- profil Miloševićs: Es zeigte sich schon während des Plenums, wie rücksichtslos Milošević seine Ziele verfolgte. 1986 war er dank seines Freundes Stambolić zu dessen Nachfolger als Partei- chef Serbiens gewählt worden. Eine seiner wichtigsten Eigenschaften war sein Hunger nach

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16 Macht. Eines musste man zugeben, seine Fähigkeit, die Stimmungen in der Bevölkerung zu erkennen und sie zum richtigen Zeitpunkt für sich zu nutzen, war Teil seiner politischen Bega- bung. Vieles spricht dafür, dass sich das Schicksal Jugoslawiens anders entwickelt hätte, hätte beim 8. Plenum ein Vertreter des gemäßigten Flügels den Machtkampf gewonnen. (Melčić 1999, 332-335).

Wie er Massen mobilisieren und radikalisieren konnte, zeigte sich deutlich bei seinem Einsatz für die Kosovo-Serben. Am 24. April 1987 hielt Milošević in Kosovo Polje, einem Vorort der Provinzhauptstadt Priština, eine öffentliche Rede (Ebenda, 332-335). Er fuhr nach Priština, um zwischen den aufgebrachten Serben und der albanischen Führung in der autono- men Provinz zu verhandeln. Er sprach vor aufgebrachten Demonstranten und sein bekannter Satz, dass niemand die Serben in Kosovo schlagen dürfe, löste unter den Serben eine Welle an Sympathie aus (Sundhaussen 2014, 256-258).

Die regelmäßige Abwanderung vieler Serben aus Kosovo und die sinkenden Geburten- zahlen unter der verbliebenen serbischen Bevölkerung in der Provinz lösten Befürchtungen aus, dass das Gebiet an die Albaner verloren gehen würde. Man deutete es als „demographischen Genozid“ an den Serben im Kosovo. (Melčić 1999, 334). In einem Memorandum der Serbi- schen Akademie der Wissenschaften vom September 1986 hieß es:

„Das Schicksal des Kosovo ist eine Lebensfrage für die gesamte serbische Nation. Der physi- sche, politische, rechtliche und kulturelle Genozid an der serbischen Bevölkerung in Kosovo und Metohija ist eine der schwersten Niederlagen seit den serbischen Freiheitskämpfen von 1804 bis 1914“ (Melčić 1999, 335).

Des Weiteren wurde im Memorandum die „Herstellung der vollen nationalen und kul- turellen Identität des serbischen Volkes, unabhängig in welcher Republik oder Region sie le- ben“ verlangt. Unmissverständlich verstanden sich hier die Serben als Opfernation. Das Me- morandum hatte allerdings keine konkreten Auswirkungen, seine Schlagkraft lag in der drama- tischen Behauptung, die Serben wären bedroht und benachteiligt (Ebenda, 335).

In den 1980er Jahren waren politisch gesehen die Beziehungen zwischen den Republi- ken schwer angeschlagen. Jede von ihnen verfolgte eigene Ziele, womit sie sich von gesamt- staatlichen Interessen zunehmend entfernten. Die Slowenen wandten sich gegen die Zentrali- sierung, und zum ersten Mal tauchte die Frage nach slowenischer Unabhängigkeit auf. Die slo- wenische Jugend kritisierte offen das kommunistische System. Die Jugendzeitschrift „Mladina“

sparte nicht mit Angriffen auf die Armee. Man befürwortete die Einführung des Zivildienstes als Alternative zum Militärdienst, was wiederum zu einem Konflikt mit den Serben führte, da in Serbien der Militärdienst hohes Ansehen genoss (Mønnesland 1997, 325-328).

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17 1986 wurde Milan Kučan zum Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Sloweniens gewählt. Reformwillige Kräfte in dieser Partei befürworteten demokratische Machtstrukturen und traten für ein Mehrparteiensystem sowie freiere Marktwirtschaft ein (Ebenda, 325-328).

Im Jänner 1989 veröffentlichte das slowenische Zentralkomitee einen Beschluss, der sich gegen ein kommunistisches Machtmonopol richtete. Während der Sitzung des Zentralko- mitees der Bundespartei kam es im Februar 1989 zwischen Kučan und Milošević zu einem Eklat. Während Milošević jede Änderung des Systems scharf verurteilte, machte Kučan deut- lich, dass nur ein demokratisches, dezentralisiertes Jugoslawien, das sich an Europa orientierte, akzeptiert werden kann (Ebenda, 325-328). Die slowenischen Intellektuellen (nicht aber die slowenischen Politiker) empfanden den jugoslawischen Zentralismus als existenzielle Bedro- hung, weil sie befürchteten, im zentralistischen Jugoslawien zu einer Minderheit degradiert zu werden (Sundhaussen 2014, 279). Als die Slowenen eine Kundgebung abhielten, die die serbi- sche Unterdrückung der Albaner verurteilte, sah Serbien dies als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Im April 1989 brachten die ersten freien, direkten Wahlen in der Geschichte Jugoslawiens demokratische Reformen in der Gesellschaftsstruktur in Slowenien. Der Partei- enpluralismus wurde eingeführt, was dazu führte, dass sich verschiedene politische Gruppen formierten und weitere Reformen einforderten. Die ersten Oppositionsparteien wurden gegrün- det. Eine Reihe neuer Gesetze schuf die Möglichkeit eines Austritts Sloweniens aus der jugo- slawischen Föderation. Proteste in Serbien und Montenegro waren die Folge. Politiker in Slo- wenien wurden des Landesverrats und Separatismus beschuldigt. Als am 1. Dezember 1989 eine Massendemonstration mit zehntausenden Demonstranten aus ganz Serbien in Ljubljana stattfinden sollte, brachte es das Fass zum Überlaufen. Aus Angst vor Gewalt beschloss die slowenische Regierung, die Demonstration zu verbieten, worauf Serbien mit dem Abbruch aller wirtschaftlichen Beziehungen zu Slowenien drohte. Der slowenisch-serbische Konflikt be- herrschte Ende der 80er Jahre die politische Szene Jugoslawiens (Mønnesland 1997, 325-328).

Wie unterschiedlich die Wege waren, die Serbien und Slowenien einschlugen, zeigte sich am 11. November 1989, als in Serbien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, wie immer auf Einparteienbasis (allerdings mit mehreren Kandidaten), stattfanden und Milošević mit 80.4 Prozent erstmals in einer Direktwahl zum Präsidenten Serbiens gewählt wurde. In Slowenien dagegen trat der BdK Sloweniens auf seinem Parteikongress für ein Mehrparteiensystem sowie für freie Wahlen und für die Trennung von Partei und Staat ein (Sundhaussen 2014, 287).

Die Krise der 1980er Jahre verstärkte bei vielen das Gefühl der Unsicherheit und Zu- kunftsangst. Landflucht bedeutete für Millionen eine soziale und emotionale Entwurzelung. Sie lebten nun an den Peripherien der Städte und fanden kaum Arbeit. Darüber hinaus verstärkte

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18 die Krise die soziale Ungleichheit, was die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Systems auf- warf. Vor allem die Privilegien der Elite waren vielen ein Dorn im Auge. Die zentralen Ver- sprechungen des Sozialismus wie garantierte Arbeitsplätze, leistbare Wohnungen und Lebens- mittel, Recht auf gute Bildung und Gesundheitsvorsorge entpuppten sich in der Krise als nicht einlösbar (Calic 2010, 278-280). 1989 war nur Slowenien in der wirtschaftlichen Entwicklung anderen Republiken weit voraus. Ihm folgte Kroatien, weit abgeschlagen waren Bosnien-Her- zegowina, Makedonien und Kosovo. Das Wohlstandsniveau in der Vojvodina hatte sich stark verbessert (Ebenda, 266-267).

Beim 14. außerordentlichen Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens tra- ten die Slowenen für die Umwandlung des BdKJ in einen Bund der Bünde (Savez Saveza) ein.

Jugoslawien sollte aus selbstständigen nach demokratischen Prinzipien aufgebauten Parteien bestehen. Weitere Vorschläge beinhalteten die Aufgabe des „demokratischen Zentralismus“

und die Beibehaltung des Konsensprinzips bei wichtigen Entscheidungen. Der Kongress lehnte die meisten Vorschläge der slowenischen Delegierten ab. Aus Protest verließen die Slowenen anschließend die Tagung. Nach einem Versuch, die Sitzung zu „unterbrechen“ und nach vielen hitzigen Diskussionen, kam das definitive Ende der kommunistischen Bundespartei. Miloševićs Versuch, die Sitzung auch ohne die slowenischen Delegierten fortzusetzen, scheiterte am Wi- derstand der übrigen Republiken (Sundhaussen 2014, 287-290). Titos Partei, ein jahrzehntelan- ger Garant für „Brüderlichkeit und Einheit“ im Vielvölkerstaat, war Geschichte (Calic 2010, 298).

Einen großen Einfluss auf die politischen Ereignisse in Jugoslawien hatten auch Verän- derungen in der internationalen Politik. Ende der 1980er Jahre kam es zu Umwälzungen im ganzen Ostblock. Der Kommunismus war am Ende und den Kalten Krieg gab es nicht mehr.

All das, worauf Jugoslawien in den Jahrzehnten davor aufbaute, zerbröckelte. 1990 beschloss die politische Führung Jugoslawiens, Wahlen abzuhalten. Jedoch bildeten sich Parteien nicht nach politischen, sondern ethnischen Prinzipien. Viele Menschen glaubten, dass nur ihre nati- onale Partei sie entsprechend vertreten würde. Die einzigen gesamtjugoslawischen Parteien wa- ren nur die „Allianz der Reformkräfte“ unter dem Vorsitz von Ante Marković und die „Liga der Kommunisten“. In Slowenien trat das Mehrparteienbündnis DEMOS4 in den Vordergrund, in Kroatien war die stärkste Partei die „Kroatische Demokratische Gemeinschaft“ (HDZ) unter Franjo Tudjman, der Präsident wurde, und Stipe Mesić stieg zum Regierungschef Kroatiens

4 Demokratische Opposition Sloweniens

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19 auf. Makedonien brachte die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ hervor, die national orientiert war. In Serbien und Montenegro blieben Sozialisten an der Macht. Im De- zember 1990 erhielt Miloševićs „Sozialistische Partei Serbiens“ 194 von 250 Parlamentssitzen.

Kompliziert war die Lage in Bosnien-Herzegowina. Mandate wurden unter drei ethnopoliti- schen Parteien verteilt: 87 Mandate erhielt die muslimische SDA5, 71 die serbische SDS6 und 44 Mandate fielen auf die kroatische HDZ-BiH. Alle drei teilten sich die Macht und bildeten eine Koalition (Ebenda 299-301).

Tudjman stützte sich unter anderem auch auf die Stimmen der ausgewanderten Kroaten, seine Partei bekam finanzielle Hilfe von Exilkroaten aus den USA und Kanada. Alija Izetbego- vićs Partei „Partei der Demokratischen Aktion“ (SDA) forderte die nationale Einheit der Mus- lime, es ging vor allem um die Mobilisierung der slawischen Muslime im Sandžak, der von SerbInnen und MontenegrinerInnen besetzt war. Für den Sandžak verlangte er einen autonomen Sonderstatus. Die SDA begann mithilfe von religiösen Ritualen und Symbolen, Einfluss auf die weitgehend säkularisierten Muslime auszuüben. Diese Bemühungen zeigten ihre Wirkung, denn die soziale Desintegration bot den Muslimen keinen anderen Halt (Ebenda, 299-301).

Auch in Bosnien griff der Nationalismus um sich. Im Laufe des Jahres 1989 gaben bos- nische Beamte zu, dass es unüberwindbare interethnische Probleme zwischen ortsansässigen Serben und Kroaten, aber auch zwischen Serben und Muslimen gab. Der serbische Präsident Milošević und der kroatische Präsident Tudjman dachten mittlerweile laut über Grenzverschie- bungen auf Kosten Bosniens nach. Die Dominanz der Serben in Bosnien und Herzegowina war nicht zu übersehen. Das bosnische Ministerium für Volksverteidigung sowie das Föderations- ministerium für innere Angelegenheiten waren überproportional mit Serben besetzt (Ramet 2011, 492-493).

Zu gefährlichen Spannungen kam es auch im ostbosnischen Srebrenica. Im August 1990 fuhren die Anhänger der serbischen SDS durch die Stadt und provozierten mit serbischem Gruß. Der Spitzenkandidat der Serbenpartei, Miodrag Jokić, proklamierte in einer Wahlrede, dass seine Heimatstadt serbisches Gebiet sei. Die Anhänger der muslimischen SDA fanden sich wiederum vor dem Kulturzentrum ein und riefen nach Waffen. Die Stimmung war bedrohlich aufgeheizt. (Calic 2010, 302-303).

5 Serbische Demokratische Partei

6 Partei der Demokratischen Aktion

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20 Auch in Makedonien gab es Anzeichen für einen wachsenden makedonischen Nationa- lismus. Damit wuchs die Angst vor der politischen Destabilisierung im Land. Die neue make- donische Verfassung vom Mai 1989 deklarierte Makedonien als „Nationalstaat des makedoni- schen Volkes“, ohne auf albanische und türkische Nationalitäten Rücksicht zu nehmen. In der Vojvodina strebten ortsansässige Serben, die nicht von Belgrad abhängig sein wollten, nach einer Autonomie. In Kroatien flackerte der alte Nationalismus im Laufe des Jahres 1989 plötz- lich wieder auf (Ramet 2011, 493-494).

Gleich nach den Wahlen begann in Slowenien, Kroatien und Kosovo die Planungs- phase, die in die Unabhängigkeit führte. Das slowenische und das kroatische Parlament verab- schiedeten am 2. Juli 1990 ihre Souveränitätserklärungen. 88,5 Prozent der Slowenen entschie- den sich in einem Referendum für die Unabhängigkeit des Landes. Der slowenische und der kroatische Präsident schlugen vor, Jugoslawien in einen Staatenbund umzuwandeln. Ante Mar- ković, der Ministerpräsident Jugoslawiens, rief im Dezember 1990 die Führungen der Repub- liken das letzte Mal zusammen, um sich über die Reform des Staatswesens zu beraten. Es gab jedoch nichts zu retten. Im Kosovo entstand ein eigener Parallelstaat mit allen Institutionen wie der Regierung, der Präsidentschaft, des Steuer-, Bildungs-, und Gesundheitssystems. Im Sep- tember 1990 wurde eine Verfassung vorgelegt, die die Souveränität der Republik Kosovo ga- rantierte (Calic 2010, 303).

Die voranschreitende Auflösung Jugoslawiens stellte auch die Armee vor neue Ent- scheidungen, wie man mit der Situation umgehen sollte. Die systemkonservative Haltung des Militärs resultierte auch aus der Verpflichtung gemäß der Verfassung von 1974, das Verfas- sungssystem zu verteidigen. Das Militär war gegen ein Mehrparteiensystem und sprach sich dafür aus, dass der BdKJ weiterhin die führende ideologische und politische Macht in der Ge- sellschaft bleiben müsse. Obwohl das Militär beteuerte, nicht in die Entwicklung eingreifen zu wollen, konfiszierte es im Mai 1990 die Waffen der Territorialverteidigungskräfte (TO), nach- dem die Kommunisten in Slowenien in den freien Wahlen entmachtet worden waren. Es gelang den Slowenen, den Großteil der konfiszierten Waffen zurückzubekommen (Ramet 2011, 495- 498).

In Kroatien wurden die Milizen kurz nach dem Wahlsieg von Tudjman entwaffnet, und die kroatische Regierung stand bei Amtsantritt ohne bewaffnete Streitkräfte da, die unabhängig von der JV7 eingesetzt werden konnten. Stimmen wurden laut, die Parteiapparate innerhalb des

7 Jugoslawische Volksarmee

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21 Militärs sofort abzuschaffen, und auch die vollständige Entpolitisierung der JVA war ebenfalls eine Forderung (Ebenda, 495-498). Nach und nach wurde die Volksarmee eine Armee ohne Staat. Ausländische Spenden unterstützten Slowenien und Kroatien beim Aufbau ihrer Streit- kräfte und Ankauf von Waffen. Im April 1990 drohte General Kadijević öffentlich mit einer Intervention seitens der Volksarmee, um die territoriale Integrität Jugoslawiens zu bewahren (Calic 2010, 303-304).

Im Frühjahr 1991 spitzte sich die Situation wieder einmal zu, als die Serben und Mon- tenegriner verhinderten, dass der Kroate Stipe Mesić die Bundespräsidentschaft übernehmen konnte. Die wichtigsten Elemente jugoslawischer Staatlichkeit existierten nicht mehr, es gab kein Staatsoberhaupt mehr. Die politische Ordnung löste sich nach und nach auf, die multieth- nischen Räume zerfielen und das staatliche Gewaltmonopol ging verloren. Man konnte bereits ahnen, dass das so entstandene Vakuum von jenen genutzt würde, die einen offenen Konflikt anstrebten (Ebenda, 303-304).

In Serbien wuchs die Überzeugung, dass man in dieser historischen Situation die natio- nale Einheit des serbischen Volkes verteidigen müsse. Die „serbische Frage“, also die Vereini- gung aller serbischen Kräfte in einem Staat, rückte in den Vordergrund des Interesses. Mehr als ein Viertel der 8 Millionen Serben lebte 1991 außerhalb der eigenen Republik: 580.000 lebten in Kroatien und 1,4 Millionen in Bosnien-Herzegowina. Der historisch bedeutende Kosovo, in dem 200.000 Serben lebten, drohte auch noch mit der Abspaltung (Ebenda, 304).

Serben in Kroatien waren verbittert, weil sie sich in Kroatien nicht beachtet fühlten. Die neue Verfassung ihrer Heimat definierte Kroatien als „Nationalstaat der Kroaten“ und berück- sichtigte andere Volksgruppen nicht. Einige Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung des kroatischen Parlaments beschlossen Serben am 25. Juli 1990 die „Souveränität und Autonomie des serbischen Volkes in Kroatien“. Im August 1990 kam es in Knin zu einem bewaffneten Konflikt. Im Mai 1991, nachdem Kroatien ein Referendum für die Unabhängigkeit organisiert hatte, riefen die kroatischen Serben zum Verbleib in Jugoslawien auf. Daraufhin kam es zu weiteren bewaffneten Ausschreitungen. (Ebenda, 305)

Eine bedeutende Rolle kam in dieser Zeit den Medien zu. Der jugoslawische Präsident Borislav Jović beklagte den Hass und die nationalen Vorurteile sowie den Propagandakrieg zwischen den einzelnen Republiken. Auch das Mediensystem befand sich im Stadium des Zer- falls. Da es keine Koordination bei den TV-Sendern gab, fingen die Republiken an, ihre eigenen Nachrichten zu senden. Als Slobodan Milošević seine Rede während der 600-Jahr-Feier der Amselfeldschlacht hielt, verbreiteten die vielen BerichterstatterInnen ihre eigene Version der Feierlichkeiten (Ebenda, 306).

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22 Es gab aber auch eine andere Seite: Ein Teil der Öffentlichkeit trat für Normalität ein.

Protestveranstaltungen von Frauen-, Jugend- und Veteranenverbänden wandten sich gegen Hass und traten für Toleranz ein. In dieser Situation existenzieller Bedrohung, in der sich keine Seite mehr bewegen wollte, wuchs die Kriegsbedrohung schleichend. Die kroatische Führung lehnte es ab, Verhandlungen zu führen, wenn sie nicht in die Unabhängigkeit führen sollten.

Serbien war fest entschlossen, seine nationalen Interessen durchzusetzen (Ebenda, 307).

Rückblickend lässt sich sagen, dass als Milošević an die Macht kam, Bedingungen ge- schaffen wurden, die den Zusammenbruch des Systems besonders begünstigten: die katastro- phale wirtschaftliche Lage mit immer größer werdendem Schuldenberg, wachsender Arbeits- losigkeit und steigender Inflation. Hinzu kamen noch die zerrütteten Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen, das Fehlen aller Bundesautorität nach Titos Tod und die Unfähigkeit der verantwortlichen Politiker zu begreifen, dass Miloševićs Machtansprüche nicht auf auto- nome Provinzen begrenzt waren. Es gab de facto niemanden, der ihn aufhalten hätte können.

Diese vorhin genannten Umstände bildeten Rahmenbedingungen, unter welchen ein nach Macht strebender Politiker das System stürzen konnte. Krieg schien zunehmend die einzige Option, die Frage war nur, wann er ausbrechen würde (Ramet 2011, 486).

1.2 Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992-1995)

Infolge der sukzessiven Auflösung Jugoslawiens wuchsen in den Jahren 1990 und 1991 auch die Spannungen zwischen den Volksgruppen. Die drei Konfliktparteien, die bosnischen Serben, die bosnischen Kroaten und die bosnischen Muslime verfügten über verschieden starke militärische Truppen. Die Privatarmee der bosnischen Serben, welche dem Generalstab in Bel- grad unterstellt war, war am besten ausgerüstet und hatte im April 1994 eine Stärke von rund 100.000 Mann. Sie wurde von Freiwilligen und Angehörigen von Spezialeinheiten aus Serbien unterstützt. An ihrer Seite kämpften außerdem auch Kriegsfreiwillige aus anderen Ländern (Calic 1996, 99).

Auch die Kroaten Bosnien-Herzegowinas hatten ein eigenes Militärkommando, den

„Kroatischen Verteidigungsrat“ (HVO), welchem sich später auch reguläre Truppen der Armee Kroatiens, Polizeikräfte und Freiwilligenverbände anschlossen. Ende 1992 unterstanden dem

„Kroatischen Verteidigungsrat“ rund 45.000 Soldaten, die von weiteren 5.000 Freiwilligen un- terstützt wurden (Ebenda, 99).

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23 Im krassen Gegensatz zur kroatischen und serbischen Armee stand die mangelhafte mi- litärische Macht der Muslime am Anfang des Krieges. Jedoch gelang es den Muslimen mit der Zeit, ihre eigene Armee aufzubauen. Ende April 1992 verfügten die Muslime über 50.000 Sol- daten, und am 14. Mai nahm die neu aufgebaute Armee Bosnien-Herzegowinas ihre Kampf- handlungen auf. Neben den Truppen der bosnischen Regierung bekamen die Muslime auch Unterstützung von lokalen Milizen, aber auch Freiwillige aus den islamischen Ländern betei- ligten sich an den Kämpfen im Bosnienkrieg. Obwohl die Truppen etwa 80.500 Mann zählten, waren sie nur ungenügend mit Rüstungsgütern ausgestattet und verfügten nur begrenzt über schweres Gerät (Ebenda, 100).

Schon 1991 gelang es den Kriegsparteien trotz eines UN-Waffenembargos ein großes Kontingent an Militärausrüstung aus dem Ausland zu bekommen. Mit fortschreitenden Kämp- fen erzielten die muslimischen Einheiten immer mehr Erfolge. Im Verlauf des Krieges änderten sich nicht nur die militärischen Gewichte, sondern auch die Zahl der am Krieg Hauptbeteiligten.

Seit April 1992 wuchs die Anzahl der Milizen, Bürgerwehren und paramilitärischen Verbände aller Richtungen. Viele paramilitärische Gruppen wiesen rechtsradikalen bis faschistischen Charakter auf. In Kroatien operierten zum Beispiel die „Wölfe von Vukovar“, die dem rechten Flügel der „Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft“ (HDZ) nahestanden, oder aber die rechte „Kroatische Verteidigungsunion“ (HOS) (Ebenda, 101-103).

An der Seite der Serben waren es die „Serbische Freiwilligengarde“ unter dem Kom- mando von Željko Ražnjatović, genannt „Arkan“, die „Radikale Partei“ von Vojislav Šešelj, oder die „Weißen Adler“. Sie alle gingen mit äußerster Brutalität vor. Viele Mitglieder der serbischen Freiwilligenverbände erhielten ihre Ausbildung und Waffen in den Kasernen der Jugoslawischen Volksarmee. Die Vielfalt und Verflechtung der verschiedenen Kampftruppen machte es schwierig, ihre Strukturen zu identifizieren (Ebenda, 104).

Der offizielle Auslöser des Krieges in den Teilrepubliken waren ihre Sezessionserklä- rungen und die Anerkennung dieser durch die internationale Gemeinschaft (Ebenda, 104-105).

Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Die Absicht Slowe- niens, eine internationale Grenze gegenüber Kroatien einzuführen, hatte einen bewaffneten Konflikt mit der jugoslawischen Volksarmee zur Folge, der zehn Tage dauerte. Die besorgte Europäische Gemeinschaft ergriff die Initiative und bewog Slowenien und die Volksarmee am 10. Juli 1991 einen Waffenstillstand zu vereinbaren, welche sich am 18. Juli zurückzog und somit war der Konflikt beigelegt (Calic 2010, 308).

Neue Kämpfe setzten schon kurz nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens zwi- schen den serbischen Einheiten und den kroatischen Sicherheitskräften ein. Regionen in

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24 Dalmatien, Slawonien und in Banija wurden heftig umkämpft. Am 14. September 1991 be- schloss die kroatische Regierung, die Kasernen der Volksarmee anzugreifen, worauf die jugo- slawische Armee mit einem Angriff ihrerseits reagierte. Die Stadt Vukovar geriet unter Dauer- beschuss. Serbische paramilitärische Banden verübten in der Stadt selbst und in ihrer Umge- bung Gräueltaten an der Bevölkerung. Nachdem die Serben die umkämpften Gebiete unter Kontrolle gebracht hatten, begannen sie die kroatische Bevölkerung systematisch zu vertreiben.

Über eine halbe Million Menschen verlor ihre Heimat. Am 19. Dezember 1991 wurde die „Ser- bische Republik Krajina“ mit der Hauptstadt Knin ausgerufen (Ebenda, 309).

Die internationale Staatengemeinschaft reagierte unterschiedlich auf die Ereignisse. Es galt immer noch als unzulässig, sich in die inneren Angelegenheiten eines Drittstaates einzu- mischen. Deutschland unterstützte das Recht Sloweniens und Kroatiens auf Selbstständigkeit.

Auf der anderen Seite standen England, Frankreich und die USA, die am Erhalt Jugoslawiens interessiert waren (Calic 2010, 308-309). Erst als sich der Konflikt nach den Angriffen auf Vukovar und Dubrovnik verschärfte, begriff auch die EG, dass das Festhalten an der jugosla- wischen Einheit illusorisch sei (Calic 1996, 40-41).

Der Versuch Bosnien-Herzegowinas nach dem Vorbild Sloweniens und Kroatiens un- abhängig zu werden, wurde mit Sorge beobachtet. Bosnien-Herzegowina war ein fester Be- standteil des alten Jugoslawiens in politischer und ökonomischer Hinsicht, deshalb zögerte die bosnische Regierung, was die völlige Auflösung betraf, und war eher für die innere Reform Jugoslawiens. Erst als im Sommer 1991 Slowenien und Kroatien den Bundestaat verließen, wurden immer mehr Stimmen laut, die die Selbstständigkeit befürworteten. Die Angst vor der großserbischen Übermacht in Restjugoslawien bewog die Abgeordneten in Bosnien-Herzego- wina dazu, sich mit den Stimmen der Muslime und Kroaten für die Selbstständigkeit zu ent- scheiden. Dies geschah gegen den Widerstand der serbischen Abgeordneten, die den Beitritt zu einem erneuerten Jugoslawien bevorzugten. Aus diesem Grund boykottierten die bosnischen Serben das Referendum über die Unabhängigkeit und Souveränität der Republik am 29. Feb- ruar und 1. März 1992. Eine Mehrheit von 99.4 Prozent stimmte für die Unabhängigkeit der Republik (Calic 1996, 40-44).

Die Differenzen zwischen den ethnischen Gruppen verschärften sich, und im März 1992 kam es in Bosnien zu schweren Kämpfen. Die Bevölkerung in den bosnischen Gemeinden war durchmischt und es gab keine klaren ethnischen Grenzen. Die Volkszählung von 1991 ergab, dass in der Republik, die 4.4 Millionen Einwohner zählte, knapp 44 Prozent bosnische Mus- lime, 31 Prozent Serben, 17 Prozent Kroaten und 5.5 Prozent „Jugoslawen“ lebten. 2 Prozent fühlten sich zu keiner Nationalität zugehörig. Bei den ersten freien Wahlen siegten die

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