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Sag du! Christian Schanze

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Unterstützte Entscheidungsfindung bei Menschen mit kommunikativen Einschränkungen (bei geistiger

Behinderung, Mehrfachbehinderung, Autismus-Spektrum-Störung)

Christian Schanze

Sag’ du!

Ein fragender Blick, beharrliches Schweigen oder stereotypes Ja- oder Neinsagen, dieser Art der Kommunikation begegne ich in der psychia- trischen Behandlung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behin- derung und Autismus-Spektrum-Störungen täglich. »Sag’ du!«, heißt es dann oft, und allzu bereitwillig habe ich früher diese Bitte um stellvertre- tendes Sprechen als umfassenden Auftrag interpretiert. Als Auftrag, nicht nur etwas zu verbalisieren, sondern darüber hinaus auch entsprechende Entscheidungen zu treffen oder die Entscheidung anderer durch meine Stellungnahme zu beeinflussen. Diagnostische Interpretationen, Empfeh- lungen zu pädagogischen Betreuungskonzepten, geeigneten Wohnformen oder Arbeitsstellen oder auch in ganz alltäglichen Situationen wie: »Wo soll ich mich hinsetzen?«, »Soll ich den roten oder blauen Pullover an- ziehen?« »Ich will nicht Zähneputzen«, »Ich will im Bett liegen bleiben!«,

»Ich will keine Tabletten nehmen!« oder »Ich will nicht im Krankenhaus bleiben. Ich will heim!« etc.

Sicherlich, in Bezug auf die wesentlichen Entscheidungen gibt es immer auch andere Personen wie die Eltern, Mitarbeitende aus der Behinderten- hilfe, gesetzliche Betreuerinnen und Betreuer, mit denen ich mich als Arzt abspreche, aber das ist nicht das eigentliche Problem. Am Anfang meiner beruflichen Karriere habe ich mich oft vom Halo-Effekt der Diagnose

»geistige Behinderung« zu sehr blenden lassen und nicht immer erkannt,

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dass scheinbar teilnahmsloses Schweigen, stereotype oder fragende Ant- worten nicht bedeuten, dass die betreffenden Personen keine eigene Meinung hätten und entsprechend keinen eigenen Willen zeigen könnten.

Dies gilt nicht nur für Menschen mit Lernschwierigkeiten, sondern vor allem auch für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen.

All diese stellvertretenden Entscheidungen habe ich natürlich immer mit bestem Wissen und Gewissen, ganz zum Wohle des jeweiligen Patienten getroffen, versteht sich. Aber sie bleiben, trotz aller Fürsorge und eines vielleicht zugrunde liegenden Schutzgedankens, Fremdentscheidungen.

So getroffen vertreten sie meist nicht das Wollen des Gegenübers. Es sind Entscheidungen, die aus einem hierarchischen Verständnis von Entscheidungskompetenz abgeleitet werden. Sie sind insofern eigentlich Ergebnis eines Abwertungsprozesses und in ihrer pädagogischen Prägung bestenfalls autoritativ. Guter Vater (paternalistisch) oder gute Mutter (maternalistisch) sein zu wollen, diesem Rollenverständnis bin ich bei Mitarbeitenden der Behindertenhilfe sehr häufig begegnet: »Ich bin auf deiner Seite. Ich weiß, was gut für dich ist!«

Wenn eine solche Einstellung, die sich unmittelbar im eigenen Betreu- ungsstil niederschlägt, unreflektiert bleibt, führt sie zur Entmündigung und Entmutigung von Menschen mit Behinderungen. Oftmals sind re- gressiver Rückzug oder aufbegehrende »Verhaltensauffälligkeiten« die Folge davon. Das eine ist dann ein ruhiger und »guter« Bewohner, das andere jemand, der eventuell aus Sicht mancher Teams sogar medika- mentös »eingestellt werden« sollte.

Entscheidungsfindung im stationär- psychiatrischen Behandlungssetting

Nach der Psychiatrieenquete und der darauf folgenden Enthospitalisie- rung von bundesweit ca. 27.000 Menschen (18.000 in der BRD, 9000 in der DDR) mit geistiger Behinderung aus der Psychiatrie, haben sich bis heute 32 akutpsychiatrische Spezialbereiche für diese Personengrup- pe in Deutschland entwickelt. Aus Erhebungsdaten der Arbeitsgruppe

»Geistige Behinderung« der Bundesdirektorenkonferenz aus dem Jahr 2002 haben diese durchschnittlich 19 Betten, mit denen ca. 154 statio- näre Aufnahmen pro Jahr erfolgen. Hochgerechnet ergibt dies für die

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heutige Zeit ca. 5000 stationär-psychiatrische Behandlungen jährlich (Schanze & Schmitt 2014). Das Spektrum der gestellten Diagnosen erstreckt sich über alle psychiatrischen Störungsgruppen und beinhaltet zusätzlich schwere Verhaltensauffälligkeiten mit selbst- und fremdver- letzendem Verhalten. In den Spezialbereichen erfolgt in der Regel auch die Behandlung von den Menschen mit frühkindlichem Autismus, die in ihrer Kommunikationsfähigkeit deutliche Beeinträchtigungen zeigen.

Menschen mit Asperger-Autismus und frühkindlichem Autismus ohne Intelligenzminderung und mit vorhandener Sprachkompetenz (hoch- funktionaler Autismus) werden meist außerhalb dieser Spezialbereiche psychiatrisch behandelt.

Die Besonderheiten in der psychiatrischen Diagnostik und Therapie sind bei sind bei den genannten Personengruppen vielfältig. Vor allem die Tatsache, dass die Patientinnen und Patienten fast alle unter Betreuung stehen, macht das Aufgabenfeld in besonderer Weise herausfordernd.

Meist sind in der gesetzlichen Betreuung sämtliche Aufgabenbereiche des alltäglichen Lebens abgedeckt und nur für einen kleineren Teil ist die Betreuung auf einzelne Aufgabenbereiche begrenzt. Psychiatrisches Handeln bedeutet also in diesem Kontext eine permanente Beschäftigung mit der Beurteilung, ob freier Wille und Einwilligungsfähigkeit bei den Patienten vorliegen oder nicht. So müssten aus den Spezialbereichen heraus eigentlich schon längst Impulse hervorgegangen sein, die das Thema der Unterstützten Entscheidungsfindung (UE) im Spiegel der UN-Behindertenrechtskonvention in der Psychiatrie zur selbstkritischen Diskussion gestellt haben sollten. Doch geht es uns noch allzu sehr um Methoden, wie man die eventuell vorliegenden kommunikativen De- fizite kompensieren kann. Die Entscheidungsfindung selbst, die ja aus einer eventuell gestärkten kommunikativen Kompetenz erwächst, wird viel zu wenig problematisiert. Die Tatsache, dass fast alle Patienten der psychiatrischen Spezialbereiche unter gesetzlicher Betreuung stehen, erklärt die Entstehung dieses »blinden Flecks« teilweise. Psychiatrische Störungen verschärfen zwar manchmal das Ausmaß der Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit, aber Betreuungen werden in diesem Fachbereich so gut wie nie wegen der psychischen Störung eingerichtet. Allenfalls erweitert oder um den Aspekt des Einwilligungsvorbehalts ergänzt.

BEISPIEL Bei einem 32-jährigen Mann mit leichter geistiger Behinderung besteht eine bipolare affektive Störung. In manischen oder hypomanen

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Phasen schließt er verschiedene Handyverträge gleichzeitig ab und bestellt alles, was er so braucht (sich aber mit seinem geringen Werkstattgehalt nicht leisten kann) bei Online-Versanddiensten. Bislang hat er eine Be- treuung ohne Einwilligungsvorbehalt. ô

Mögliche Ursachen für die Häufung von Betreuungsmaßnahmen bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Autismus-Spektrum-Störungen könnten auch in Folgendem liegen (Lachwitz 2012):

In der Gutachtenerstellung wird die geistige Behinderung unter rein medizinisch-defizitären Gesichtspunkten eingeschätzt.

Für viele Träger der Behindertenhilfe gilt das Bestehen einer Betreuung weiterhin als Bedingung für die Aufnahme eines Interessenten in eine Wohneinrichtung.

Es bestehen außerhalb des familiären Umfelds keine Strukturen und Angebote für den Aufbau alternativer Unterstützungsmaßnahmen, wie z. B. Microboards in Kanada (Mayrhofer 2013; Browning u. a. 2014;

Stainton 2016; www.velacanada.org) oder der persönliche Ombud in Schweden (Mayrhofer 2013; Tøssebro 2016; siehe auch S. 222 ff.).

In der gutachterlichen Auslegung und praktischen Umsetzung des BGB wird die Existenz eines auf Einsicht basierenden Willens bei Menschen mit geistiger Behinderung grundsätzlich in Zweifel gezogen und ihr Wol- len als unvernünftig eingestuft und somit die im Art. 12 Absatz 2 UN-BRK berücksichtigungswürdigen Präferenzen einem abstrakten »Wohl« und einer vollständig stellvertretenden Entscheidungsfindung untergeordnet (Staatliche Koordinierungsstelle nach Art. 33 UN-BRK 2017).

In der medizinischen Diagnostik und Therapie kann sich ein solches Vor- gehen unmittelbar negativ auf den Behandlungserfolg auswirken. Wie angloamerikanische Untersuchungen gezeigt haben, hängt eine erfolgreiche somatische oder psychiatrische Behandlung von Menschen mit Behinde- rungen im Krankenhaus vor allem von der Frage ab, ob eine adäquate Kommunikation zwischen Pflegenden und Patienten gelingt oder nicht (Dörscheln u. a. 2013; Balandin u. a. 2007; Budroni 2006).

Die Verständigung kann durch Störungen der rezeptiven oder expressi- ven Sprachkompetenz des jeweiligen Menschen mit Behinderung extrem erschwert sein. Die Ursache hierfür kann im Schweregrad der geistigen Behinderung, der motorischen oder neurologischen Beeinträchtigungen des körperlichen Sprechapparates oder in der autismustypischen Blocka- de der exekutiven Funktionen liegen. Bevor man sich in der somatischen

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oder psychiatrischen Diagnostik und Therapie mit Menschen mit Ein- schränkungen der kommunikativen Kompetenzen also über den per- sönlichen Willen oder die Einsichtsfähigkeit Gedanken machen kann, muss das Problem der Verständigung gelöst werden. Seit den frühen 1970er-Jahren hat sich in Deutschland in der Heilpädagogik das Fach- gebiet der »Unterstützten Kommunikation« etabliert.

Unterstützte Kommunikation

Unterstützte Kommunikation (UK; englisch: Augmentative and Alter- native Communication), orientiert sich an einem humanistischen Men- schenbild. Das Recht eines jeden Menschen auf Selbstbestimmung und Partizipation (Art. 1 UN-BRK) steht im Zentrum. Die Annahme, dass jeder Mensch ein Bedürfnis nach sozialem Kontakt und Kommunikation hat, ist die Basis für dieses Konzept. UK versucht, Menschen mit Ein- schränkungen in der verbalen Lautsprache oder auch in der nonverbalen Kommunikation bei der Kontaktaufnahme mit dem sozialen Umfeld und bei der unmittelbaren Kommunikation zu unterstützen.

Ausgehend von aktuellen Kompetenzen der jeweiligen Person werden individuelle Maßnahmen und Konzepte für eine bessere Verständigung entwickelt. Für die jeweilige Person sind im Alltag damit wachsende Möglichkeiten zur Selbstbestimmung verbunden und so kann die be- troffene Person ihre Wünsche, Bedürfnisse und Nöte zum Ausdruck bringen. Die Kommunikation wird hierbei auf verschiedenen Ebenen unterstützt:

Körpereigene Kommunikationsformen Mimik, Gestik, Gebärden (auch idio- synkratische Gebärden = persönliche Gebärdensprache), Blickkontakt (z. B. Ja/Nein-Antworten), Lautierungen (Ausdruck innerer emotionaler Befindlichkeit; idiosynkratische Bedeutung) und Vokalisierungen (z. B.

unvollständige Aussprache von Worten), die die jeweilige Person von sich aus anbietet, werden aufgegriffen und zu einer Kommunikationsebene organisiert und eventuell auch schrittweise erweitert.

Nicht-elektronische Kommunikationshilfen Nutzung von Kommunikations- tafeln (z. B. Bliss-Tafel), -karten, Kommunikationsbücher (z. B. Ich-Buch), Fotos, Symbole, exemplarische Gegenstände. Durch sie kann eine ge- meinsame Bezugsebene der Kommunikation geschaffen werden. Nutzer

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dieser UK-Hilfsmittel können z. B. über ein gemeinsam erstelltes Ich-Buch auch unbekannten Menschen über die eigene Person »erzählen« und so in Kontakt treten. Es entsteht eine gemeinsame Bedeutungszuschreibung (Objekt – Begriff), ähnlich der ersten im sozialen Miteinander (Kind – Eltern) erlernten Worte.

Elektronische Kommunikationshilfen Die elektronischen Sprachausgabe- geräte (Talker) werden von diversen Herstellern in einer Palette von einfachen bis äußerst komplexen Modellen angeboten.

Gesprochener Text wird von einem einfachen Talker aufgenommen und auf Knopfdruck wiedergegeben. So kann z. B. die Kommunikation zwischen verschiedenen Lebensbereichen (Familie, Wohneinrichtung, Schule, Arbeits- oder Beschäftigungsbereich) mit der jeweiligen Person quasi als Informationsübermittler (transportiert Talker von einem in den anderen Bereich und initiiert durch Knopfdruck die Sprachausgabe) gefördert werden. Mithilfe des Talkers kann die Person auch einfache Bedürfnisse artikulieren. Dies soll vor allem stärker beeinträchtigte Men- schen zur Kommunikation motivieren und ihnen Erfolgserlebnisse im dialogischen Miteinander ermöglichen.

Erweiterte Sprachfunktionen: Verschiedene Symbole werden mit ein- schiebbaren Karten (4 bis 20 oder mehr Symbole) in das Tastenfeld eines Sprachausgabegeräts eingelegt. Jedes Symbol wird jeweils mit einer Sprachaufnahme hinterlegt und auf Tastendruck ausgeben.

Geräte mit dynamischem Display: Diese eröffnen durch eine differenzier- te »baumartige« Strukturierung von Worten, Begriffskombinationen und Sätzen, durch vernetzte Bedeutungscluster sowie Tastenkombinationen einen nahezu unendlichen Wortschatz mit nur einem Gerät. Je nach Komplexität bedarf es einer höheren intellektuellen Leistungsfähigkeit des Nutzers, wie dies z. B. bei Menschen mit Cerebralparesen oder Au- tismus-Spektrum-Störungen der Fall sein kann.

Die gezielte und stabile initiatorische Ansteuerung bzw. Bedienung der Ausgabegeräte (Talker) stellt dabei eine zusätzliche technische Heraus- forderung dar. So muss jeder Talker an die individuellen motorischen Möglichkeiten der jeweiligen Nutzer und Nutzerinnen genau angepasst werden. Inzwischen gibt es, von der einfachen ergometrisch-modifizierten Handbedienung bis hin zu differenzierten Möglichkeiten der Steuerung des Talkers mittels Augenbewegungen, eine Vielzahl technischer Innova- tionen, die den Menschen mit eingeschränkter verbaler Kommunikations- fähigkeit und motorischen Einschränkungen unterstützen können.

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Unterstützte Entscheidungsfindung bedeutet bei Menschen mit körper- lichen, autistischen oder geistigen Beeinträchtigungen der Kommunika- tionsfähigkeit immer auch, auf einer basalen Ebene eine gemeinsame

»Sprache« zu finden. Dies ist die Voraussetzung, um das eigenen Wün- schen und Wollen mitteilen zu können und somit Selbstbestimmung im Dialog verhandel- und durchsetzbar zu machen.

Besonderheiten bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen

Um die besondere Art der kommunikativen Einschränkungen von Men- schen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) verstehen zu können, müssen einige Grundbegriffe erläutert werden. Menschen mit einer Dia- gnose aus dem autistischen Spektrum zeigen summative Symptome in folgenden Bereichen (ICD-11, beta-draft):

bleibende Defizite in der Fähigkeit, reziproke soziale Interaktion und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten;

verschiedene begrenzte, repetitive und unflexible Verhaltensmuster, In- teressen und Aktivitäten.

Im ICD-11 und DSM-5 werden nicht mehr wie früher frühkindlicher, atypischer und Asperger-Autismus unterschieden, sondern alle bisherigen Untergruppen in einem autistischen Spektrum zusammengefasst. Es gibt darin jedoch zwei Unterscheidungsmerkmale:

autistische Störung mit oder ohne intellektueller Entwicklungsstörung und

autistische Störung mit eingeschränkter oder gänzlich fehlender funk- tionaler Sprachkompetenz.

Diese neue und sinnvolle Differenzierung weist direkt darauf hin, dass bei Menschen mit ASS zusätzlich auch eine geistige Behinderung be- stehen kann, die – je nach Behinderungsgrad – die Sprachentwicklung beeinträchtigt. Der Anteil einer komorbid bestehenden kognitiven Ent- wicklungsstörung wird heute bei frühkindlichem Autismus nur noch auf 30 bis 55 Prozent geschätzt (Fombonne 2003; Sappok u. a. 2010; Baio u. a. 2018). Für diese Menschen gelten im Prinzip alle geschilderten Be- sonderheiten in der UE für geistig behinderte Menschen.

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Manche Menschen mit autistischen Störungen verfügen zwar über Spra- che, aber sie können in der dialogischen Kommunikation nur auf repe- titive, echolalische oder stereotype Weise auf diese zurückgreifen. Oft gelingt es ihnen deshalb nicht, das zum Ausdruck zu bringen, was sie eigentlich sagen wollen. Auch bei ihnen kann die kognitive Leistungs- fähigkeit unbeeinträchtigt sein. Sprachprobleme (eingeschränkte oder nicht vorhandene expressive Sprachkompetenz) bestehen insgesamt bei ca. 48 Prozent der autistischen Jugendlichen (Joshi u. a. 2013).

Allerdings kommen bei der Verwendung von Hilfsmitteln der Unter- stützten Kommunikation (UK) weitere neuropsychologische Phänomene erschwerend hinzu (Sappok 2014):

Beeinträchtigung der Entwicklung der Theory of Mind, der Fähigkeit, sich selbst und anderen mentale Zustände, wie z. B. Gefühle oder Ab- sichten, zuzuschreiben;

Beeinträchtigung der zentralen Kohärenz, der Fähigkeit, Teilaspekte der Wahrnehmung zu einem Ganzen zusammenzusetzen und in einen Gesamtzusammenhang einordnen zu können;

Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen, der Handlungsfähigkeit zum Zweck der Verhaltenssteuerung und Selbstregulation unter Berücksich- tigung der Umweltbedingungen.

Diese drei neuropsychologischen Bereiche charakterisieren das Den- ken, das Wahrnehmen und die kognitive Informationsverarbeitung von Menschen mit Störungen aus dem autistischen Spektrum in unterschied- lichem Maße und prägen das individuelle Kommunikationsverhalten.

Das Wissen über diese Besonderheiten kann helfen, Missverständnisse zu vermeiden und die oftmals daraus resultierenden interaktionalen und kommunikativen Probleme zu beheben.

BEISPIEL Ein 29-jährige, geistig nicht behinderte Frau mit Autismus ohne aktive Sprachkompetenz ist nicht in der Lage, aus eigenem Antrieb ihren Hosenknopf zu öffnen, die Hose herunterzuziehen und sich auf die Toilette zu setzen. Von Mitarbeitenden der Wohngruppe wurde diese autismustypische Störung der Exekutivfunktionen jedoch als pro- vokantes Verhalten missdeutet und ihr Einnässen lange Zeit mit Strafen sanktioniert. ô

Bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen müssen also verschie- dene Aspekte berücksichtigt werden:

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Bei bestehender geistiger Behinderung ist die kognitive Einschränkung und der erreichte emotionale Entwicklungsstand (siehe S. 55 ff.) zu be- rücksichtigen, entsprechend muss die Wahl des geeigneten Hilfsmittels der Unterstützten Kommunikation (UK) an die kognitive Leistungsfähig- keit angepasst werden.

Durch ungewohnte oder überfordernde soziale Situationen kann darüber hinaus das Kommunikationsverhalten des autistischen Menschen stark beeinträchtigt sein (Kommunikationsblockade durch Unsicherheit und Angst). Soziale Kommunikation muss insofern möglichst stressfrei ge- staltet werden.

Bei Störung der Exekutivfunktionen (»Blockade« der expressiven Spra- che) muss einerseits die kognitive Fähigkeit berücksichtigt werden. An- dererseits müssen im Einzelfall unterstützende Maßnahmen zur Überwin- dung der neuropsychologischen Blockade gemeinsam erarbeitet werden, z. B. über Facilitated Communication (siehe Kasten) oder Eye-Tracking kombiniert mit unterschiedlichen Techniken der UK.

Wenn nur wenig kommunikative Aktivität vonseiten des autistischen Menschen her erfolgt, dann muss durch eine individualisierende phä- nomenologische Beobachtung von Verhalten versucht werden, Rück- schlüsse auf die bestehenden Präferenzen dieses Menschen zu ziehen.

Facilitated Communication (FC) (gestützte Kommunikation)

Ein Kommunikationshelfer (Stützer) gibt einer kommunikationsbeeinträchtigten Person mit Autismus (Schreiber/Nutzer) am Ellenbogen bzw. Schulter motorische Impulse, um die Handlungsblockade beim Schreibakt auf einer Schreibtastatur oder -tafel zu überwinden. Der Schreiber drückt dann die Tasten des Schreibgeräts und kann somit Texte verfassen. Voraussetzung: Lesen und Schreiben können. Problem:

Authentizität. Bisherige wissenschaftliche Untersuchungen zeigten nur in 1 bis 30 Prozent der regelmäßigen FC-Nutzer Hinweise auf Authentizität des geschriebenen Textes (Biermann 1999; Bundschuh & Basler-Eggen 2000; Emerson u. a. 2001; Sa- loviita u. a. 2014 u. v. m.). Die Unterstützungstechnik wird deshalb äußerst kontrovers diskutiert, dabei teilweise vonseiten der Gegner von FC auf extrem polemische Art und Weise (Stubblefield 2011). In Einzelfallstudien konnte mittels Eye-Tracking die Übereinstimmung von geschriebenem Buchstaben und Blickrichtung verifiziert werden (z. B. Grayson u. a. 2012). Zusammenfassung: Trotz berechtigter Zweifel darf FC nicht in Bausch und Bogen verurteilt werden. Denn man würde den – zugegebe- nermaßen wenigen – authentischen FC-Nutzerinnen und -Nutzern die Möglichkeit

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nehmen, ihre Gedanken, ihren Willen, ihre Bedürfnisse und ihre eigenen Präferenzen kundzutun. Ziel der gestützten Kommunikation ist es, unabhängig von der Stützung, selbstständig schreiben und damit kommunizieren zu erlernen (Fleischmann 2013).

Einige derjenigen, die dieses Ziel über FC erreicht haben, kämpfen heute für einen vorurteilsfreien Umgang mit FC (Stubblefield 2011). Im Sinne der UN-BRK müssen wir diese Kommunikationstechnik zwar kritisch hinterfragen, aber dennoch für potenzielle Nutzerinnen und Nutzer zugänglich machen (Zugangskriterien: autis- tische Blockade der Exekutivfunktionen; Lese- und Schreibfähigkeit).

Wille im Zusammenhang mit Kognition, Bedürfnissen und emotionaler Entwicklung

Wille und Kognition

Auch wenn z. B. durch Unterstützte Kommunikation eine kommunikative Verständigung möglich wird, so ist noch nichts darüber gesagt, inwieweit die betroffene Person damit auch wirklich ihren Willen für eine mög- lichst selbstbestimmte Lebensführung kundtun kann bzw. ihr für dessen Umsetzung der Raum gegeben wird bzw. ihre Willensäußerungen vom sozialen Umfeld überhaupt ernst genommen werden.

In meiner ambulant-psychiatrischen Zusammenarbeit mit Betreuerteams der Behindertenhilfe habe ich beim Auftreten von Verhaltensauffälligkei- ten bei den zu Betreuenden folgende Kommentare erstaunlich oft gehört:

»Der will mich ja nur provozieren!«, »Die will ja nur meine Aufmerk- samkeit!«, »Der will ja nur im Mittelpunkt stehen!«, »Die macht das mit Absicht!«, »Der könnte auch anders, wenn er wollte!«. Sätze also, bei denen es nicht mehr um Pädagogik geht, sondern nur noch Stigma- tisierung und vor allem grenzsetzende Maßnahmen daraus abgeleitet werden. Sie setzen als Annahme voraus, dass der jeweils betreute Mensch durch sein auffällig gewordenes Verhalten versucht, planvoll den eigenen Willen durchzusetzen. Diese Einschätzung konstatiert also generell das Vorhandensein eines Willens. Allerdings mit der Zuschreibung, dass dieser Wille vor allem egoistische Interessen verfolgt und der betreffende Mensch eigentlich nicht weiß, was gut für ihn ist. In Bezug auf das nur ideell bestehende »Wohl« wird dann der jeweiligen Person aufgrund der bestehenden kognitiven Beeinträchtigung im gleichen Atemzug die

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Existenz eines willentlichen Handelns wieder abgesprochen, weil es nicht der Vernunft gehorcht.

Stellvertretende Entscheidungen werden demnach häufig mit dem Argu- ment der Fürsorgepflicht begründet. Dieser Argumentation folgend ist eine vollständige Stellvertretung erforderlich, da das Wissen um das Pro und Kontra einer Entscheidung und die kognitiven Möglichkeiten, die Folgen der eigenen Entscheidung abzusehen, bei Menschen mit geistiger Behinderung fehlen würden. Aber treffen diese Vernunftkriterien denn für unsere eigenen Entscheidungen zu? Sind dem Glauben an die reine Vernunft in unserem Handeln nicht bereits mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse die Grenzen aufgezeigt worden? Menschen mit geistiger Behinderung soll es anscheinend durch unsere fürsorgliche Stellvertretung besser gehen als uns selbst und darüber hinaus müssen sie ja auch noch von uns Stellvertretern vor den eigenen, vermeintlich niederen Motiven wie Selbst- und Geltungssucht behütet werden.

Die Frage, in welchem Umfang ein Mensch mit kognitiven Einschränkun- gen Entscheidungen für sich selbst treffen kann, wird im Schatten der Für- sorgepflicht oftmals gar nicht mehr diskutiert: Dieser Mensch kann es nicht und deshalb muss ich ihm »pädagogisch« den richtigen Weg weisen.

Wille und emotionale Entwicklung

In den letzten zwanzig Jahren haben sich in der psychiatrisch-heilpädago- gischen Arbeit die Hinweise darauf verdichtet, dass Verhaltensauffällig- keiten bei Menschen mit Lernschwierigkeiten weniger mit dem Grad der Intelligenzminderung (Kognition), als vielmehr mit der jeweils erreichten emotionalen Entwicklungsstufe zu tun haben. Die ersten Grundlagen für das Konzept der emotionalen Entwicklung hat Anton Došen in seinem 1997 ins Deutsche übersetzten Buch zu »Psychischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung« formuliert.

Aufbauend auf den klassischen Entwicklungstheorien von Sigmund Freud, Margaret Mahler, Jean Piaget und John Bowlby fasste Došen die neueren Erkenntnisse zur sozioemotionalen Entwicklung, u. a. von Sroufe, Rutter, Izard & Harris und LeDoux, zu einem schlüssigen Erklärungsmodell für viele Formen von Verhaltensauffälligkeiten zusammen (Došen 2010).

In der Tabelle 1 auf S. 58 sind die jeweiligen emotionalen Phasen der kindlichen Entwicklung und ihre Charakteristika aufgeführt. Fast alle erwachsenen geistig behinderten Menschen befinden sich innerhalb der

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ersten fünf emotionalen Phasen. Höhere Entwicklungsstufen (Phase 6, 13. bis 17. Lebensjahr, zweite Sozialisierungsphase; Phase 7, 18. bis 25.

Lebensjahr, zweite Individuationsphase) werden nach Došen (2010) kaum stabil erreicht. Für die Einschätzung der individuellen emotionalen Entwicklungsstufe liegt mittlerweile die Skala für Emotionale Entwick- lung (SEED) von Sappok u. a. (2018) vor.

Während das Kind in den ersten beiden Entwicklungsstufen in einer körperlich-psychischen Einheit mit den versorgenden Eltern oder ande- ren Bezugspersonen lebt, bilden sich mit den wachsenden motorischen und kognitiven Fähigkeit allmählich die Möglichkeiten heraus, sich aus dieser engen Verbindung zu lösen. Die erste Phase der Individuation (Phase 3; siehe Tabelle 1, S. 58) beginnt. Entwicklungsmeilensteine wie die Selbst- und Fremddifferenzierung, die Objektpermanenz und eine wachsende Kompetenz zur Affektregulation werden bei einer un- gestörten Entwicklung vom Kind durchlaufen. Sie sind die Basis für die Entfaltung eines autonomen Ichs. Wobei die Besonderheit der weiteren Autonomieentwicklung in ihrer Einbindung in einen sozialen Kontext besteht (Rössler 2017). Das anarchische anmutende »Ich-will-aber«

des Trotzalters (Phase 3) ist insofern nur ein Durchgangsstadium zur Ausdifferenzierung der Individuation und der Autonomie. Die Sprache ist zwischen der 2. und 4. Phase Abbild des immer komplexer werdenden Verhältnisses des Individuums zur Umwelt. Die Regeln im sozialen Mit- einander werden jetzt schrittweise erlernt (Identifikation, Phase 4) und auch sprachlich kommuniziert. Anfänglich braucht das Kind aber noch die Anwesenheit einer Identifikationsfigur, um diese Regeln verlässlich umsetzen zu können (Mischel 1973; Mischel u. a. 1989).

BEISPIEL Die Lehrerin in der ersten Klasse der Grundschule hat uns bei- gebracht, im Klassenzimmer während des Unterrichts still zu sein. Das funktionierte meist ganz gut. Aber was passierte, wenn die Lehrerin den Raum verlassen hat? Chaos – obwohl wir alle die Regel kannten! Wenn die Lehrerin nun wieder ins Klassenzimmer zurückgekommen war, war es schlagartig wieder ruhig. Das war wie ein »Automatismus« und wir konnten uns gar nicht anders verhalten. Mit steigendem Alter (Phase 5, siehe Tabelle 1, S. 58) ist die stabile praktische Umsetzung von Regeln nicht mehr von der Anwesenheit bzw. Abwesenheit von Identifikationsfi- guren abhängig, sondern wird vom heranwachsenden Kind selbstständig aktiviert und auf den jeweiligen sozialen Kontext abgestimmt. ô

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TABELLE 1 Emotionale Entwicklung nach Doåen 2010, Sappok u. a. 2018

Entwicklungsstufen und Prozess

Charakteristikum

0.–6. Lebensmonat Phase 1

Adaptionsphase

Regulation körperlicher Prozesse (aus eigener Kraft atmen, Regulation der Körpertemperatur, Nahrungsaufnahme, Ver- dauen, Schlaf-Wach-Rhythmus);

sensorische Stimuli in allen Sinnesqualitäten integrieren lernen; dadurch allmähliche Strukturierung der Wahr- nehmung von Raum und Personen.

7. – 18. Lebensmonat Phase 2

Erste Sozialisierungsphase

Erste soziale Interaktionen mit den Eltern / Bezugsperso- nen, verbunden mit emotionalen Reaktionen;

Unterscheidung zwischen fremden und bekannten Personen (Sieben-Monatsangst, »Fremdeln«);

Zunahme der sensomotorischen Aktivitäten in Richtung Bindungsperson; Ausprobieren von Fähigkeiten;

gezielter Einsatz des Körpers; beginnende Erkundung der Umgebung;

erste Anfänge der Entwicklung von Objektpermanenz.

19. Lebensmonat – 3. Lebensjahr Phase 3

Erste Individuationsphase

Bedürfnis nach körperlichem Kontakt zur Bindungsperson wird geringer; Wunsch nach eigener Aktivität entwickelt sich; Anbahnung von Autonomie (Selbst- und Fremd- differenzierung); Durchsetzung des eigenen Willens im sozialen Umfeld; erstes logisches Denken;

Objekte stabilisieren die Autonomie des Kindes (z. B. Über- gangsobjekte);

Objektpermanenz entwickelt sich vollständig.

4. – 7. Lebensjahr Phase 4

Identifikationsphase

Identifikation mit einem Elternteil / einer Bezugsperson;

dadurch Übernahme von sozialen Regeln und Normen;

Anwesenheit der Identifikationsfigur erforderlich zur stabilen Umsetzung der Regeln;

Vermischung realer und imaginärer Erfahrungen und Objekte.

8. – 12. Lebensjahr Phase 5

Realitätsbewusstseinsphase

Eigenständige Erfahrungen im sozialem Umfeld;

Erfahrung des »Allein-in-der-Welt-Seins«;

logisches, rationales Denken und Handeln;

Impulse entstehen durch Erfolg und Frustration in der Realität, Aktivität nach Plan, inhaltliches Leistungsdenken;

Einsichts- und Kompromissfähigkeit moralisches Ich.

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Menschen mit geistiger Behinderung durchleben prinzipiell die gleichen emotionalen Entwicklungsstufen, doch kann dieser Prozess verzögert oder unvollständig verlaufen. Die jeweiligen Personen zeigen dann im Erwachsenenalter ein Verhalten, das in seinen Grundzügen bestimmten früheren Phasen der emotionalen Entwicklung entspricht. Dabei kann die kognitive Fähigkeit durchaus weiter entwickelt sein als die emotio- nale Reife. Die Personen werden dann meist in ihrer sozioemotionalen Kompetenz überschätzt, was zur inadäquaten Moralisierung und Schuld- zuweisungen führen kann.

Wir haben es bei Menschen mit Lernschwierigkeiten insofern mit einer hohen Heterogenität an Fähigkeiten zu tun, den eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen. So ist für die Grundstufen intentionalen Wol- lens die Entwicklungsphase 3 mindestens erforderlich. Damit jemand jedoch wirklich im sozialen Kontext autonom handeln kann, muss er die Stufe 5 erreicht haben. Erst hier entwickelt sich durch selbst- ständige Erfahrungen und die Reflexion des eigenverantwortlichen Handelns Einsichts- und Kompromissfähigkeit. Erst dadurch entsteht ein moralisches Ich.

Willensäußerungen von Menschen, die in ihrer Entwicklung in Stufe 3 stehen geblieben sind, sind in ihrem Verhalten vor allem durch den Prozess der Individuation selbst geprägt. Sie entwickeln erst das »Ich- In strument« mit dem es ihnen später möglich sein wird, eigenständige Einsichten in Regeln und Normen zu erlangen und ihr Verhalten daran auszurichten.

Wille und Bedürfnisse

Menschen in den Entwicklungsstufen 1 und 2, bei denen sich die Instanz des Ichs durch die Loslösung von den Bindungspersonen (noch) nicht vollständig vollzogen hat, haben noch keinen eigenständigen Willen.

Deren Verhalten und emotionales Empfinden ist vor allem durch die Erfüllung oder Nichterfüllung von Grundbedürfnissen geprägt.

Die Grundbedürfnisse des emotionalen Entwicklungskonzepts nach Došen (Pha- se 1 & 2) sind vergleichbar mit den beiden Grundstufen der Maslow‘schen Bedürf- nispyramide: Physiologische Bedürfnisse und Schutzbedürfnis (Maslow 1970);

aber auch mit dem, was Frankfurt (1971) »Wünsche erster Ordnung« nennt.

TABELLE 1 Emotionale Entwicklung nach Doåen 2010, Sappok u. a. 2018

Entwicklungsstufen und Prozess

Charakteristikum

0.–6. Lebensmonat Phase 1

Adaptionsphase

Regulation körperlicher Prozesse (aus eigener Kraft atmen, Regulation der Körpertemperatur, Nahrungsaufnahme, Ver- dauen, Schlaf-Wach-Rhythmus);

sensorische Stimuli in allen Sinnesqualitäten integrieren lernen; dadurch allmähliche Strukturierung der Wahr- nehmung von Raum und Personen.

7. – 18. Lebensmonat Phase 2

Erste Sozialisierungsphase

Erste soziale Interaktionen mit den Eltern / Bezugsperso- nen, verbunden mit emotionalen Reaktionen;

Unterscheidung zwischen fremden und bekannten Personen (Sieben-Monatsangst, »Fremdeln«);

Zunahme der sensomotorischen Aktivitäten in Richtung Bindungsperson; Ausprobieren von Fähigkeiten;

gezielter Einsatz des Körpers; beginnende Erkundung der Umgebung;

erste Anfänge der Entwicklung von Objektpermanenz.

19. Lebensmonat – 3. Lebensjahr Phase 3

Erste Individuationsphase

Bedürfnis nach körperlichem Kontakt zur Bindungsperson wird geringer; Wunsch nach eigener Aktivität entwickelt sich; Anbahnung von Autonomie (Selbst- und Fremd- differenzierung); Durchsetzung des eigenen Willens im sozialen Umfeld; erstes logisches Denken;

Objekte stabilisieren die Autonomie des Kindes (z. B. Über- gangsobjekte);

Objektpermanenz entwickelt sich vollständig.

4. – 7. Lebensjahr Phase 4

Identifikationsphase

Identifikation mit einem Elternteil / einer Bezugsperson;

dadurch Übernahme von sozialen Regeln und Normen;

Anwesenheit der Identifikationsfigur erforderlich zur stabilen Umsetzung der Regeln;

Vermischung realer und imaginärer Erfahrungen und Objekte.

8. – 12. Lebensjahr Phase 5

Realitätsbewusstseinsphase

Eigenständige Erfahrungen im sozialem Umfeld;

Erfahrung des »Allein-in-der-Welt-Seins«;

logisches, rationales Denken und Handeln;

Impulse entstehen durch Erfolg und Frustration in der Realität, Aktivität nach Plan, inhaltliches Leistungsdenken;

Einsichts- und Kompromissfähigkeit moralisches Ich.

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Diese Grundbedürfnisse (Hunger, Durst, Wachsein, Schlafen, es warm haben, es nicht zu heiß haben, Abwesenheit von Schmerzen, exogene Stimuli bekommen, aber von Reizen nicht überflutet werden) und die in Phase 2 dann zusätzlich intensiv vorliegenden sozialen und körper- lichen Kontaktbedürfnisse sind jedoch nicht Ausdruck eines mehr oder weniger ausgeprägten Wollens, vielmehr artikuliert sich in ihnen ein existenzielles »Müssen«. Die Befriedigung dieser »existenziellen Not«

ist deshalb auch nicht aufschiebbar. Ihre Befriedigung bzw. Nichtbe- friedigung sind mit den Grundemotionen des Wohlbefindens und des Sich-nicht-Wohlfühlens verbunden (Phase 1). Der Mensch, der sich in einer so frühen Entwicklungsstufe befindet, kann selbst an seiner Situa- tion nichts verändern. Er kann eben nicht in die Welt hinein planerisch wirksam werden, sondern ist komplett darauf angewiesen, dass das soziale Umfeld aus seinem Verhalten die zugrunde liegenden Bedürfnisse erschließt und versucht, diese unmittelbar zu befriedigen, z. B. zu essen oder zu trinken geben – allgemein Unwohlsein zu beseitigen und einen Zustand des Wohlbefindens herzustellen.

BEISPIEL Ein 43-jähriger Mann mit einer schweren geistigen Behinderung be- findet sich in der emotionalen Entwicklungsstufe 2 (erste Sozialisierung).

Er möchte fast immer in der Nähe von Betreuern sein und quittiert Kon- taktabbrüche schnell mit Schreien und motorischer Unruhe. Am liebsten ist es ihm, wenn er sich in den Arm eines Betreuers kuscheln kann. Dann erforscht er sein näheres Umfeld mit gezielten Bewegungen (dreht und zupft an den Knöpfen der Jacke des Betreuers; ertastet dessen im Licht glitzernde Armbanduhr etc.). Auch pflegerische Maßnahmen zur Kör- perhygiene genießt er sichtlich. Er spielt in Anwesenheit von Betreuern im Garten der Wohngruppe. Dann sitzt er im dortigen Sandkasten und lässt Sand durch seine Hände rieseln. Auch Wasser fasziniert ihn und Planschen gehört zu seinen großen Leidenschaften.

Das Verhalten des Klienten spiegelt die Bedürfnisse eines Menschen, der in seiner emotionalen Entwicklung in der Phase 2 stehen geblieben ist, wider. Es wäre in diesem Zusammenhang eine völlige Fehleinschätzung, wenn ein Betreuer meinen würde, dass der Betroffene ja nur perma- nent seine Aufmerksamkeit wolle und ihn durch sein Schreiverhalten zu provozieren versuche. Natürlich braucht der behinderte Mensch die Aufmerksamkeit, aber er kann eben seinerseits auf diese Aufmerksam- keit auch nicht verzichten oder sein Bedürfnis länger aufschieben. Das

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Verhalten ist nicht Ausdruck eines planvollen Wollens, sondern eines unmittelbaren Bedürfnisses und muss deshalb auch in der Betreuungs- planung Berücksichtigung und im Alltag Befriedigung finden. ô

Emotionale Entwicklung und

Unterstützte Entscheidungsfindung

Die Diagnose »Intelligenzminderung« schließt also das Bestehen eines durch vernunftgeleitete Einsichts- und Kompromissfähigkeit geprägten Willens (Entwicklungsphase 5) nicht grundsätzlich aus. Auch die Mög- lichkeit des dialogischen Entwickelns von konsistenten Aussagen zu den eigenen Wünschen und Präferenzen, wie dies in der Entwicklungspha- se 4 möglich wird, ist gegeben. Die Phase 3 ist zwar geprägt durch eine

»anarchisch« anmutende Willensexplosion, die noch keine Regeln und Normen kennt, aber in ihr zeigt sich erstmals die Fähigkeit eines Ichs, das lernt, selbstbezogenes Wollen zu generieren. Dieser Selbstbezug ist jedoch nicht als egoistisch zu bewerten, sondern adäquater Ausdruck der emotionalen Entwicklungsstufe 3, der ersten Individuation. Der Umfang der Stellvertretung in der Entscheidungsfindung liegt im Ver- gleich zu den Entwicklungsphasen 4 und 5 hier deutlich höher. Doch der Wille muss andererseits prinzipiell akzeptiert und ernst genommen werden. Vor allem, wenn dieser zeitlich konsistent und nicht nur spon- tan vorgebracht wird. In ihm können sich durchaus ernst zu nehmende Präferenzen zum Ausdruck bringen. Allerdings benötigt der Mensch in dieser Entwicklungsphase ein Umfeld, das seinem Individuationsbemü- hen positiv gegenübersteht. Diese Zugewandtheit und Reziprozität ist die Basis für sein weiteres soziales und erfahrungsgeleitetes Lernen. So ist für Entscheidungsfindungen bei erwachsenen Menschen in der emotio- nalen Entwicklungsstufe 3 zum einen eine kommunikative Atmosphäre mit hoher Reziprozität die Grundlage für jede Wahl von Unterstützung oder Stellvertretung. Zum anderen muss versucht werden, dem Willen des Gegenübers soziale Referenzgrößen gegenüberzustellen (fällt das individuelle Wollen in vergleichbaren Situationen in das Spektrum mög- licher Entscheidungen von Menschen mit vollständig durchlaufener emotionaler Entwicklung?) und gleichzeitig das Wohl (vernunftgeleiteter

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»Entscheidungs-Mainstream«) mit in den Entscheidungsprozess zu in- tegrieren.

BEISPIEL Eine leicht bis mittelgradig geistig behinderte Frau befindet sich in der emotionalen Entwicklungsstufe 3 (erste Individuation). Bei der sprachkompetenten 35-jährigen Frau wurde bei einer gynäkologischen Routineuntersuchung eine Geschwulst in der Brust festgestellt, die sich nach weiteren Untersuchungen als bösartiger Tumor entpuppt. Eine Operation ist dringend erforderlich. Die Patientin reagiert auf die Er- klärungen ängstlich und sagt, dass sie nicht sterben wolle, aber ins Krankenhaus gehe sie auf keinen Fall. Als die Ärztin sie sachlich auf die katastrophalen Folgen ihrer Verweigerung hinweist, beleidigt sie diese massiv und tritt gegen deren Schreibtisch. Dann schaut sie anklagend zu ihrer Schwester (gesetzliche Betreuerin), die sie zu dem Arzttermin begleitet hat. Sie beginnt zu weinen. Die Schwester fragt sie nun, ob sie denn ins Krankenhaus ginge, wenn sie mitkäme und auch bei ihr bleibe.

Die Patientin schnieft und nickt; auf weitere Fragen hin bestätigt sie, dass sie sich auch operieren lassen würde. Jetzt umarmt sie ihre Schwes- ter und diese meint: »Das haben wir gut gemeinsam geklärt! Die Frau Doktor und ich wissen jetzt genau, was du brauchst, damit du das mit der Operation schaffst. Das war wichtig! ô

Stellvertretende Entscheidungsfindung bedeutet also nicht, das Wohl eines Menschen zum alleinigen Maß der Entscheidung zu machen, son- dern erfordert immer den Versuch, eine Brücke zu seinem Wollen zu schlagen. Unter diesen Prämissen erfüllen auch stellvertretende Ent- scheidungen die Grundsätze des Artikels 12 der UN-BRK.

Wenn erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung in ihrer emotio- nalen Entwicklung in einer der ersten beiden Phasen (siehe S. 58) stehen geblieben sind und noch keine Selbst- und Fremddifferenzierung erfolgt ist, hat sich bei ihnen meist kein eigenständiger Wille entwickelt. Sie sind auf vollständige Unterstützung durch ihr soziales Umfeld angewiesen und benötigen umfassende Hilfe, um sich und ihre Affekte regulieren, ihre Angelegenheiten erledigen und z. T. auch ihre Reizverarbeitung modulieren zu können (Sappok & Zepperitz 2016). Der Schwerpunkt der Entscheidungsfindung verschiebt sich insofern hin zur vollständigen Stellvertretung. Die inneren Präferenzen (vgl. Art. 12 Absatz 4 UN- BRK) sind in dieser Entwicklungsstufe vor allem durch die Befriedigung der Grundbedürfnissen geprägt und haben, wie bereits erwähnt, eine

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existenzielle Dimension. Sie in der stellvertretenden Entscheidungsfin- dung zu berücksichtigen, ist oft von großer Bedeutung (z. B. bei der Wahl einer geeigneten Wohneinrichtung: Für einen Menschen in der Phase 1 steht z. B. die pflegerische Versorgung an erster Stelle; heilpädagogische Förderung wird in die Pflege integriert; die Tagesstruktur orientiert sich an der Befriedigung der Grundbedürfnisse; nötig ist eine hohe und struk- turierte Kontaktdichte durch das Betreuungspersonal u. v. m.). Hierbei können die entwicklungstypischen Bedürfnisse jedoch mit persönlichen oder situativen Bedürfnissen konkurrieren und in der Entscheidungsfin- dung sind die im Verhalten zu beobachtenden individuellen Bedürfnisse zu hierarchisieren. Durch eine so geartete subjektivierende phänomeno- logische Betrachtung lassen sich auch diese basalen Präferenzen in den Entscheidungsprozess integrieren.

BEISPIEL Eine 24-jährige Frau mit schwerer Intelligenzminderung und Ce- rebralparese (Tetraspastik) befindet sich vorwiegend in der emotionalen Entwicklungsstufe 1 (Adaptionsphase). Es besteht keine aktive Sprach- kompetenz und passives Wortverständnis liegt nur rudimentär vor; auch die nonverbale Kommunikation ist sowohl durch die schwere kognitive Einschränkung als auch durch die spastische Cerebralparese stark beein- trächtigt; sie ist Rollstuhlfahrerin. Auf die routinemäßig durchgeführten Arztbesuche reagiert sie mit lautem Schreien und selbstverletzendem Verhalten. Blutabnahmen sind nicht möglich. In der letzten Zeit schlägt sie sich massiv ins Gesicht, isst nicht mehr und verweigert die Durchfüh- rung des Zähneputzens. Die Betreuer der Wohneinrichtung haben den Verdacht, dass Zahnschmerzen die Ursache des veränderten Verhaltens sein könnten. Sie benachrichtigen die Eltern der Bewohnerin, die als gesetzliche Betreuer die Entscheidung über die Durchführung einer zahn- ärztlichen Behandlung treffen müssen. Die sind hin und hergerissen. Da ihre Tochter sich ja kein Blut abnehmen lässt und die Durchführung der Zahnarztbehandlung ohnehin ohne Narkose nicht möglich ist, müssen sie als gesetzliche Betreuer sowohl zur Narkose als auch zur freiheits- entziehenden Maßnahme (mechanische Fixierung, um das Legen eines venösen Zugangs für die Anästhesie zu ermöglichen) ihr Einverständnis geben. Eine schreckliche Vorstellung für die Eltern. Sie wissen genau, wie sehr ihre Tochter Arztbesuche und das Festgehaltenwerden hasst.

Die Betreuer geben ihnen Bedenkzeit und sie machen, wie üblich bei Be- suchen, eine Spazierfahrt mit der Tochter im Rollstuhl. Normalerweise

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liebt ihr inzwischen erwachsen gewordenes Kind solche Unternehmun- gen, aber diesmal ist alles anders. Sie ist extrem unruhig, schlägt sich gegen den Kopf und ist durch nichts zu beruhigen. Tränen laufen ihr über die Wangen. So hat sich ihre Tochter nur vor einigen Jahren bei einer eitrigen Mittelohrentzündung verhalten. Die Eltern wissen jetzt aus der Beobachtung heraus, dass das Hauptbedürfnis ihrer Tochter der Wunsch ist, diese quälenden Schmerzen loszuwerden. Die Präferenz liegt insofern als existenzielle Not vor. Die stellvertretende Entscheidung im Sinne des Artikels 12 UN-BRK fiel ihnen jetzt ganz leicht. ô

Kommunikativer Resonanzraum

In der psychiatrischen Diagnostik und Therapie von Menschen mit be- einträchtigter Kommunikationsfähigkeit ist es insofern wichtig, dieses Handicap nicht zum Anlass dafür zu nehmen, nur noch mit Angehörigen, gesetzlichen Betreuerinnen oder Mitarbeitern der Behindertenhilfe über die Patienten und nicht mehr mit ihnen selbst zu sprechen. Immer wieder habe ich deshalb in meinen Patientengesprächen die »Begleiter«, zu deren großen Erstaunen, aus dem Raum geschickt, um auch mit verbal nicht kommunikationsfähigen Patientinnen und Patienten allein im Kontakt sein zu können. Manche von ihnen quittierten das Hinausgehen der Angehörigen oder Betreuer sogar mit einem versteckten Lächeln (diag- nostisch sehr interessant) und bei den meisten änderte sich ihr Verhalten auf die eine oder andere Weise (diagnostisch ebenfalls sehr interessant).

Wir haben dann gemeinsam geschwiegen, etwas getrunken, einen Keks gegessen, gemalt, Musik gehört, mit einem Ball gespielt, zum Fenster hinausgeschaut, stereotyp auf unseren Stühlen gewippt und ich habe versucht, mit meinem Gegenüber in einen gemeinsamen Rhythmus, in eine Art Resonanz zu kommen. Der so entstehende Handlungsdialog schaffte meist die Basis für ein vertrauensvolles zukünftiges Miteinander und ich habe diagnostisch oft mehr über den »eigentlichen Willen« und die inneren Präferenzen des jeweiligen Patienten erfahren, als durch lange fremdanamnestische Gespräche.

Wichtig ist es also, einen Raum der Begegnung zu schaffen, der Möglich- keiten der Entfaltung schafft und so eine Brücke zwischen Innen- und Außenwelt ermöglicht. Dieser kommunikative Resonanzraum ist die

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Grundlage für eine Unterstützte Entscheidungsfindung. Er ist aber auch ein Raum des sozialen Lernens und unterstützt die persönliche Entwick- lung. Wenn die Begegnung durch vorgeformte eigene Meinungen oder Einstellungen und den manchmal eher bevormundenden und kontrollie- renden Erziehungsstil von Angehörigen bzw. Betreuern geprägt ist, bleibt dieser Raum stumm und das eigentliche Wollen meist unerkannt.

Fazit

Das Wohl und der Schutz von Menschen mit eingeschränkten kommu- nikativen Fähigkeiten und Möglichkeiten sind nicht gleichbedeutend mit deren Willen oder ihren Präferenzen. Um Entscheidungsfindung aktiv mitgestalten zu können, braucht jeder Mensch einen sozialen Resonanz- raum, in dem er sich entfalten kann und der ihn durch positive Reize dazu motiviert, in einen dialogischen Kontakt mit der Umwelt zu gehen.

Natürlich setzt die Gewähr von Entscheidungsbefugnis auch voraus, dass überhaupt die Möglichkeit besteht, zwischen verschiedenen Optionen wählen zu können. Im Schatten von Schutz und Fürsorge geht beides in der Behindertenhilfe leider allzu oft verloren. Viele Menschen mit geistiger Behinderung sind deshalb heute nicht mehr gewohnt, dass ihr Wollen Berücksichtigung findet. Sie ziehen sich passiv und abwartend zurück, entwickeln personale Abhängigkeiten, werden zunehmend un- sicher und ängstlich, wenn von ihnen verlangt wird, eigene Entschei- dungen zu treffen.

In der Bemessung des notwendigen Umfangs von Stellvertretung in der Entscheidungsfindung muss das erreichte emotionale Entwicklungsniveau der jeweiligen Person berücksichtigt werden. Das Vorhandensein der Fähigkeit zur Selbst- und Fremddifferenzierung und das stabile Erkennen von Objektpermanenz sind hier, jenseits von juristischen Definitionen, die wesentlichen Entscheidungskriterien für das Bestehen eines eigenen Willens.

Bei Menschen mit Autismusdiagnose müssen darüber hinaus die au- tismustypischen Blockaden der Handlungsfähigkeit durch geeignete technische (UK) und unterstützende Maßnahmen (FC, Eye-Tracking) überwunden werden. Diese besonderen Kommunikationshilfen müssen Menschen mit Kommunikationseinschränkungen barrierefrei zugänglich

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gemacht werden. Die dadurch bedingte »Besonderung« steht nicht im Widerspruch zur Gleichberechtigung aller Menschen mit Behinderung auf allen gesellschaftlichen Ebenen (vgl. Art. 2 und Art. 21 UN-BRK).

Sie ist vielmehr Voraussetzung für die Umsetzung des inklusiven Ge- dankens. Denn nur, wenn der eigentliche Unterstützungsbedarf erkannt und behinderungsspezifische und individuelle Hilfen erreichbar werden, erschließt sich für den behinderten Menschen die Möglichkeit einer un- behinderten Selbstbestimmtheit und Inklusion.

Eine Spezialisierung in der psychiatrischen Versorgung auf die genannten Personengruppen ist entsprechend unverzichtbar, solange dieses Wissen in der pflegerischen und medizinische Ausbildung und der pflegerischen und ärztlichen Weiterbildung wie bisher keine Rolle spielt. Es ist zu hoffen, dass die seit Kurzem entstehenden Medizinischen Zentren für Erwach- sene mit Behinderung (MZEB) und die 32 in Deutschland bestehenden psychiatrischen Spezialbereiche für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Auffälligkeiten zur weiteren fachlichen Qualifizierung beitragen können. Allerdings beinhaltet die Spezialisierung auch immer die Gefahr der Separation, vor allem, wenn von den Spezialisten ihre Fachkompetenz monopolisiert wird oder wenn ihnen in Ausübung ihrer Tätigkeit von der Gesellschaft oder den pflegerischen und medizinischen Fachbereichen diese exklusiv zugewiesen wird. Eine bereits in der Aus- bildung (Pflege, Psychologie, Medizin) beginnende generelle Qualifizierung einerseits und die Ausdifferenzierung der bisherigen curricularen Weiter- bildung im Bereich Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung zu einer anerkannten medizinischen Zusatzqualifikation (z. B.

Zusatzbezeichnung) müssen dringend realisiert werden.

Psychische Störungen können entsprechend den Grad der Stellvertretung in der Entscheidungsfindung variieren lassen. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass viele Störungen einen vorübergehenden Charakter haben und entsprechend muss die eventuell durch den gesetzlichen Betreuer in der »Krankheitsphase« erweiterte Stellvertretung wieder zurückgenom- men werden. Das Erkennen des Zeitpunkts dieser Rücknahme geschieht anhand einer subjektivierenden, phänomenologischen Beobachtung. Doch ist Fachwissen allein weder im medizinischen, im pflegerischen noch im psychologisch-pädagogischen Bereich ein Garant für eine wirk- liche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Inklusion als bloße Einstellung, die wortreich vor sich hergetragen wird, bleibt wir- kungslos. Sie muss, getragen von Akzeptanz und Empathie, sich täglich

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im eigenen Tun realisieren, muss zur inneren Haltung werden. Es ist zwar notwendig, über Unterstützte Entscheidungsfindung zu sprechen und auch zu schreiben, aber sie findet nur in der Praxis ihre Wirklichkeit.

Also, egal ob in der Behindertenhilfe, im somatischen Krankenhaus oder der Psychiatrie, in der Familie oder in der Gesellschaft: Für eine wirklich unterstützende Entscheidungsfindung gilt es immer, den Menschen mit eingeschränkten kommunikativen Möglichkeiten adäquat zu unterstüt- zen. Letztlich ist diese Art von Assistenz einer umfassenden Ermutigung (Empowerment) verpflichtet: Sag’ selbst!

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Unterstützte Entscheidungsfindung bei Depressionen

Martin Zinkler, Brigitte Richter

Wenige Therapeuten und Therapeutinnen werden in der Behandlung von leichten oder mittelgradigen Depressionen auf Schwierigkeiten mit der Entscheidungsfindung treffen. Entscheidungen zur psychotherapeu- tischen Behandlung, zum Einsatz von Psychopharmaka oder zur Teil- nahme an einer Selbsthilfegruppe werden nach Abwägung von Vor- und Nachteilen und den Präferenzen des Patienten getroffen. Manche Patien- tinnen wünschen eine besonders aktive Behandlung, andere eine eher zurückhaltende, manche Patienten misstrauen der Psychiatrie, andere drängen auf eine stationäre Aufnahme. Insoweit eine bestimmte Form der Behandlung geeignet ist, braucht es manchmal kaum Unterstützung.

Manchmal wird durch Beratung unterstützt oder durch Empfehlungen mehr oder weniger persönlicher Art: »Die Leitlinien unserer Fachge- sellschaft empfehlen eine Behandlung mit ...« oder »aufgrund meiner klinischen Erfahrung empfehle ich Ihnen ...«; durch Nachfragen: »Welche Unterstützung brauchen Sie, um sich für oder gegen eine Behandlung mit Verhaltenstherapie zu entscheiden?« oder durch Einwände: »Gegen die Behandlung mit diesem Medikament spricht, dass es die Fahrtauglichkeit beeinträchtigen kann.«.

Erhebliche Schwierigkeiten können jedoch bei schweren Depressionen auftreten, sei es in einer Notaufnahme eines Krankenhauses oder während einer stationären Behandlung, wenn z. B. eine Patientin erklärt, sie möchte allein gelassen werden, nach Hause gehen und ihr Leben beenden; sie sei es schließlich nicht wert, weiterzuleben. Ein eher traditioneller Zugang zu dieser Situation würde zunächst zur stationären Behandlung raten, dann auf die stationäre Behandlung drängen und – nach einem erfolglosen Überredungsversuch für eine stationäre Behandlung – nach der Einwil- ligungsfähigkeit fragen. Schließlich besteht in der Situation die Gefahr, dass die Patientin sich ohne stationäre Behandlung das Leben nimmt.

Entsprechend den Kriterien zur Feststellung der Einwilligungsfähigkeit (Kröber 1998) würde dann geprüft: Ist die Patientin in der Lage, die

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Informationen hinsichtlich ihrer Behandlung zu verstehen, kann sie kritisch Argumente für und gegen eine Behandlung abwägen, kann sie eine Entscheidung treffen und diese kommunizieren?

Würde die Frage nach der Einwilligungsfähigkeit bejaht, so würde das klinische Team den Wünschen der Patientin folgen, sei es dem Wunsch, nach Hause entlassen zu werden, oder eine Behandlung erst gar nicht zu beginnen. Eine Bejahung der Einwilligungsfähigkeit durch den Therapeu- ten oder die Ärztin wird allerdings weniger wahrscheinlich, je drängender der Wunsch, zu sterben, von der Patientin vorgetragen wird. In unserem Szenario dürfte die Frage nach der Einwilligungsfähigkeit meistens ver- neint werden. Damit öffnet sich ein neues Feld der Entscheidungsfindung.

Mit der Feststellung der Einwilligungsunfähigkeit wird der Patientin die Verantwortung für ihre Entscheidung (oder dafür, dass sie sich nicht entscheidet) abgenommen, oder eher: entwendet. Die Ärztin oder der Therapeut übernimmt Verantwortung und die Entscheidung – und ver- anlasst eine Krankenhausbehandlung: ein Beispiel einer stellvertretenden Entscheidung (substituted decision making).

Ob sich die Patientin der Entscheidung des Arztes fügt oder aber auf ihrem Recht beharrt, nach Hause zu gehen (was wiederum bei der Ärztin eine Prüfung der Unterbringungsvoraussetzungen auslöst), das darf hier dahingestellt bleiben. In diesem Kapitel wird gefragt, wie das klinische Team auch in einer solchen Situation bei einer Unterstützten Entschei- dungsfindung bleiben kann, also bei einer Entscheidungsfindung, die dem Willen und den Präferenzen der Patientin folgt.

Zunächst soll festgestellt werden, dass sich die Patientin in dieser Situa- tion anders äußert, als bisher in ihrem Leben, denn sie ist ja am Leben, hat sich also bisher mehr oder weniger durchgehend für ihr Leben ent- schieden. Ihr bisheriges Leben weist auf eine Präferenz für ihr Leben hin.

Nun widerspricht aber ihr aktueller Wille den bisherigen Präferenzen, denn sie möchte sterben. Ihr Leben ist ihr nichts mehr wert. Sie ist ver- zweifelt und resigniert.

Ein erster Schritt für das klinische Team wäre nun, auf diesen Wider- spruch hinzuweisen und daraus einen Klärungsbedarf für die aktuelle Situation herzuleiten.

BEISPIEL »Was war es denn, das Sie nun hat verzweifeln lassen, wo Sie doch bisher mehr oder weniger gerne gelebt haben?« ô

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Waren es Faktoren in der Umgebung, eine Veränderung ihrer gesund- heitlichen Situation, sei es körperlich oder psychisch, oder handelt es sich um eine langsame, allmählich einsetzende Verzweiflung? Bestehen scheinbar unüberwindbare Probleme in der Umwelt (z. B. der Verlust des Partners, Verschuldung) oder innerpsychische Probleme (z. B. eine Suchterkrankung, kognitive Einschränkungen, wahnhafte Gedanken, völlige Antriebslosigkeit), die die Patientin verzweifeln lassen?

Nächste Aufgabe des klinischen Teams wäre es dann, innezuhalten und die Situation, im Sinne einer Unterstützung der Patientin beim Ver- ständnis der Situation, aber auch beim Wissen über Hilfsmöglichkeiten, gemeinsam mit der Patientin und am besten mit den Angehörigen, zu besprechen.

Es geht also gerade nicht darum, der Patientin die Entscheidung über eine Behandlung abzunehmen, sondern darum, sie bei der Entscheidung mit möglichst umfassender Information über die Umgebungsbedingungen und deren Veränderbarkeit, über die psychische Situation (gerade unter Einfluss von Alkohol, Medikamenten, Drogen; mehrere schlaflose Näch- te) und Veränderungsmöglichkeiten (nüchtern werden, Schlaf finden) einschließlich der Information über die Behandelbarkeit der psychischen Störung zu unterstützen.

BEISPIEL »Wir möchten, dass Sie eine Entscheidung über ihre momentane Situation treffen, die sowohl Ihrem Willen, aber auch Ihren bisherigen Einstellungen in Ihrem Leben und zu Ihrem Leben entsprechen. Dabei werden wir Sie so gut wie möglich unterstützen. Wir empfehlen Ihnen, keine voreilige Entscheidung zu treffen, vor allem nicht eine Entschei- dung, die sie nicht wieder korrigieren können, ohne dass Sie alle Um- stände und Hilfsmöglichkeiten bedacht haben.« ô

Dabei gilt es auch, Behinderungen bzw. Hindernisse zu erfassen, die im Hilfesystem angelegt sind. Die Patientin mag eine Behandlung in einer psychiatrischen Klinik vehement ablehnen, weil sie darin die Bestäti- gung dafür sieht, dass sie verrückt ist, oder weil sie sich durch die Zu- schreibung einer psychischen Erkrankung ihrer Umwelt noch machtloser ausgeliefert sieht. Sie mag aber einer vorübergehenden Behandlung in einer internistischen Abteilung zustimmen oder auch einer Behandlung zu Hause (Home Treatment).

Sie mag einem Aufschub der Entscheidung bis zum nächsten Tag zu- stimmen, sie mag eine Vereinbarung mit dem therapeutischen Team

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eingehen, dass sie sich nichts antut, bis alle verfügbaren Informationen erhoben wurden, bis die Angehörigen dazukommen konnten, bis mit der Hausärztin oder dem ambulanten Psychotherapeuten gesprochen wurde, um auch von den Kollegen, die die Patientin viel besser kennen, Informationen zu den bisherigen Einstellungen zu ihrem Leben zu be- kommen.

Was aber, wenn die Patientin klipp und klar erklärt, sie möchte nicht mehr? Nach dem Allgemeinen Kommentar Nr. 1 zu Artikel 12 der Konvention, ist »Unterstützung (...) ein weit gefasster Begriff, der so- wohl informelle als auch formelle Arrangements zur Unterstützung in unterschiedlicher Art und Intensität umfasst« (Deutsches Institut für Menschenrechte 2015, S. 5). Ohne eine genauere Definition, was in einer solchen Situation zu tun ist, wird das therapeutische Team alles unternehmen, um Willen und Präferenzen der Patientin zu erfassen. Denn

»wenn es auch nach erheblichen Bemühungen praktisch nicht möglich ist, den Willen und die Präferenzen des Betreffenden zu erkennen, muss eine ›bestmögliche Interpretation des Willens und der Präferenzen‹ an die Stelle der Vorgabe ›zum Wohl‹ treten« (ebd., S. 6).

Was aber, wenn aktueller Wille und bisherige Präferenzen in verschie- dene Richtungen weisen, wie in unserem Beispiel? Beide sollen beachtet werden, also gilt es, beide zu diskutieren, um zu sehen, wie sie in Über- einstimmung gebracht werden können. Wir, Autor und Autorin dieses Kapitels, sprechen uns dafür aus, dass psychiatrische Dienste für die Zeit, die es braucht, um aus einem Widerspruch zwischen Willen und Präferenzen eine bestmögliche Interpretation zu bestimmen, oder bis Wille und Präferenzen wieder in eine Richtung weisen, Anstrengungen unternehmen, um die Sicherheit der Patientin zu gewährleisten. Sei es eine 1:1-Betreuung in der Klinik oder zu Hause, sei es durch die Präsenz von Angehörigen zu Hause oder in der Klinik, sei es durch den Trost eines Seelsorgers, sei es mithilfe einer angstlösenden und beruhigenden Medikation. Soweit diese Maßnahmen mit Zustimmung der Patientin erbracht werden, liegt nach hiesiger Ansicht eine Unterstützte Entschei- dungsfindung vor, die noch andauert.

Auch an diesem Punkt kann der Wille der Patientin in eine andere Rich- tung weisen, wenn sie sich diesen Maßnahmen aktiv entzieht und ihr dadurch unmittelbare Gefahr droht. Für diese wenigen und erst nach Ausschöpfung der oben genannten Mittel eintretenden Situationen, kann es nach unserer Ansicht gerechtfertigt sein, die Sicherheit der Person

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zu gewährleisten, bis Wille und Präferenzen geklärt sind. Maßnahmen gegen den Willen brauchen dann allerdings eine Genehmigung eines Ge- richts, um den Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Der Eingriff in die Grundrechte könnte medizinisch dadurch begründet werden, dass noch Zeit erforderlich ist, um Willen und Präferenzen zu bestimmen oder zu interpretieren. Aufgabe des Gerichts wäre es dann, den Handelnden im Hilfesystem entsprechende Aufgaben zu geben, um Willen und Präfe- renzen zu bestimmen. Andererseits jedoch käme eine Behandlung, sei es medikamentös oder durch EKT gegen den Willen oder die Präferenzen der betroffenen Person nicht infrage, selbst dann nicht, wenn sie den aktuellen Leitlinien einer Fachgesellschaft entspricht.

Auch im Verlauf einer stationären Behandlung lauern Fallstricke, die eine Unterstützte Entscheidungsfindung beeinträchtigen können. Keinesfalls dürfen ökonomische Erwägungen Entscheidungsmöglichkeiten behin- dern, wenn etwa unsere Patientin durchaus stationär bleiben würde, aber einer medikamentösen Behandlung vehement widerspricht. Wenn dann die Klinik die Entlassung verfügt, mit dem Argument, eine stationäre Behandlung ohne leitliniengerechte Medikation wäre der Krankenversi- cherung gegenüber nicht zu rechtfertigen, so würde erneut stellvertretend entschieden und nicht nach Willen und Präferenzen der Patientin. Ebenso verkehrt wäre es, auf einer medikamentösen Behandlung zu bestehen, wenn die Patientin eine Elektrokrampftherapie (EKT) bevorzugt. Hier wäre es Aufgabe des Klinikteams, die Patientin über verschiedene Be- handlungsoptionen zu informieren, etwa auch mit einer Zweitmeinung zu beraten und wenn sie es wünscht, Verbindung mit einer Klinik auf- zunehmen, die eine EKT anbietet.

Spätestens an dieser Stelle des Verfahrens erscheint es im Sinne der Patientin angebracht, innezuhalten und sich in ihre psychische Lage zu versetzen. Sie steckt in einem Dilemma: Sie soll selbst wollen, was die Behandler zu ihrem Besten wollen, was sie aber aufgrund ihrer schweren Depression nicht will oder nicht wollen kann. Das gewünschte Abrücken vom Sterbewunsch hätte ja gerade zur Voraussetzung, dass die Patientin nicht mehr so krank wäre, wie sie es aktuell ist. Sie könnte sich vom Wunsch der Behandler im besten Fall nicht verstanden, im schlimmsten Fall von den sie von ihrer Qual retten Wollenden zusätzlich gequält bzw. erpresst fühlen: »Wenn Sie Ihren Sterbewunsch nicht aufgeben, werden wir Sie gegen Ihren Willen bei uns behalten müssen.« Das Ge- fühl, die eigenen Bedürfnisse nicht berücksichtigt zu sehen, mündet oft

Referenzen

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