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Archiv "Gesundheits- und Sozialpolitik: Konzentration auf das unbedingt Notwendige Referat des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages zur Eröffnung des 99. Deutschen Ärztetages" (21.06.1996)

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Academic year: 2022

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H

ohe Arbeitslosigkeit, sinken- de Lohnquote und ein da- durch verändertes Beitrags- aufkommen sind die maßgeb- lichen Determinanten in der heutigen Gesundheits- und Sozialpolitik ge- worden. Auch die Ärzteschaft wird sich auf die geänderten Rahmenbe- dingungen einzustellen haben – und sie wird ihren Beitrag leisten, sofern ihr eine politisch überzeugende Kon- zeption vorgelegt wird. Doch statt klarer Analysen und konstruktiver Strukturvorschläge erleben wir ein Feuerwerk öffentlicher Auseinan- dersetzungen um Steueraufkommen und Staatsfinanzen. Politischer Ak- tionismus und eine Inflation von Sparvorschlägen blockie- ren seit Wochen die notwendi- ge, sachliche Diskussion um die 3. Stufe der Gesundheits- reform. Aber die Gefahr für den Sozialstaat ist zu groß, als sich jetzt in parteipolitischem Gezänk zu ergehen.

In Deutschland waren im Mai 1996 knapp vier Millionen, in den 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im März 1996 insgesamt 18,3 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Das entspricht euro- paweit einer Arbeitslosenquo- te von 11 Prozent, wobei Spani- en mit 22,5 Prozent an der Spit- ze, Deutschland mit 9,1 Pro- zent in einem Mittelfeld liegt und Luxemburg mit drei Pro- zent die niedrigste Quote auf- weist. Für die USA beträgt die- se Quote 5,7 Prozent, für Japan 3,5 Prozent. Erhebliche Minde- rungen sowohl des Steuerauf- kommens als auch der Beiträge zu den sozialen Sicherungssy- stemen sind unausweichliche

Folge der Arbeitslosigkeit. Zusam- men mit den demografischen Verän- derungen, der weiter stark zunehmen- den Zahl älterer Menschen und der Tendenz zu kürzerer Lebensarbeits- zeit verschärfen sich die Finanzie- rungsprobleme in der Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie vor allem in der gesetzlichen Krankenver- sicherung erheblich.

Die Finanznot wird durch die zu- nehmende Multimorbidität dauerbe- handlungsbedürftiger älterer Men- schen noch verstärkt, ebenso wie durch den medizinisch-wissenschaftli- chen und technischen Fortschritt, der vielfach vorzeitigen Tod verhindern

läßt. Daraus folgt: Je leistungsfähiger die Medizin wird, um so mehr Men- schen wird es geben, die erfolgreich behandelt werden könne und damit steigen unausweichlich die Kosten.

Die langjährigen, hektischen Bemühungen um Beitragssatzstabi- lität und jetzt sogar eine von oben ver- ordnete Beitragssatzsenkung haben sich inzwischen als Stellvertreteraus- einandersetzung sogenannter politi- scher Sozialprofis entpuppt. Die Fi- nanzprobleme der gesetzlichen Kran- kenversicherung, ebenso wie anderer Krankenversicherungsarten, sind Teil der derzeitigen Schieflage des Sozial- staates geworden.

Bei der Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutsch- land geht es auch um die Sen- kung der Lohnnebenkosten.

Diese sind in Deutschland tatsächlich rapide angewach- sen. Auf je 100 DM Entgelt wurden 1995 im Durchschnitt 80,10 DM in den westlichen Bundesländern und 69,90 DM in den östlichen Bundes- ländern zusätzlich an „Neben- kosten“ bezahlt. Auf die ge- setzlichen Lohnzusatzkosten entfallen dabei jedoch nur 36,20 DM beziehungsweise 35,90 DM, während die tarif- lich und betrieblich von Ar- beitgebern und Arbeitneh- mern oder ihren Organisatio- nen völlig freiwillig vereinbar- ten Lohnnebenkosten 43,90 DM beziehungsweise 34 DM betragen. Daraus wird er- kennbar, daß die Arbeitgeber es zum großen Teil selbst in der Hand hatten und haben, die von ihnen lautstark be- klagten Lohnnebenkosten zu

senken. !

Gesundheits- und Sozialpolitik

Konzentration auf das unbedingt Notwendige

Referat des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages zur Eröffnung des 99. Deutschen Ärztetages

Karsten Vilmar

Vilmar: „Aus unserer täglichen Arbeit und Erfahrung heraus haben wir Ärzte für viele Probleme bereits Lösungsvorschläge vorbereitet.“

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Effizienter Einsatz von Ressourcen

In dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen Sparpaket hat das Gesundheitswesen inzwischen nur noch eine untergeordnete Bedeutung.

Bei einer derzeitigen Staatsverschul- dung von 1 900 Milliarden DM und einer zu erwartenden Neuverschul- dung von rund 70 Milliarden DM im Jahr 1996 ist mit einem Zuwachs der von der Solidargemeinschaft aufge- brachten Finanzmittel für das Ge- sundheitswesen in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Im Gegenteil:

Durch das jetzt vom Deutschen Bun- destag beschlossene Beitragsentla- stungsgesetz wird eine Absenkung des Beitragssatzes um 0,4 Prozent- punkte ab 1. Januar 1997 zu einer Einnahmenminderung der gesetzli- chen Krankenkassen führen. Durch das Sparpaket wird insgesamt ein Einsparvolumen von 7,5 Milliarden DM durch die verschiedenen Geset- zesänderungen angestrebt.

Für die Krankenhäuser wird die von den Arbeitgebern angestrebte BAT-Nullrunde bei gleichzeitig stei- genden Kosten – auch durch viele neue Dokumentationspflichten und die Auswirkungen des zum 1. Januar 1996 dort in Kraft getretenen Arbeits- zeitgesetzes (AZG) – zu Budgetsen- kungen mit allen daraus für Patienten resultierenden Risiken führen müs- sen.

Die Ärzteschaft muß deshalb die zur Verfügung stehenden Ressourcen so effizient wie nur irgend möglich einsetzen. Das erfordert eine Konzen- tration auf das unbedingt Notwendi- ge, Zweckmäßige und Ausreichende;

und das bedeutet: rationale und ratio- nelle Nutzung der Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie sowie eine sparsame Verordnungsweise für Arz- neimittel, Heil- und Hilfsmittel und andere veranlaßte Leistungen. Nur durch Rationalisierungen können vorerst Rationierungen von Gesund- heitsleistungen oder gar Ausgrenzun- gen von Alters- oder Krankheitsgrup- pen aus der Leistungspflicht der ge- setzlichen Krankenversicherung ver- mieden werden. „Vorerst“ muß ein- schränkend gesagt werden, weil es bei Fortsetzung eines harten Sparkurses mittelfristig auch zu Rationierungen

kommen könnte – was wir freilich nicht hoffen wollen.

Zur Rückführung der gesetzli- chen Krankenversicherung auf ihre originären Aufgaben ist der Gesetzge- ber aufgefordert, die sozialen Siche- rungssysteme von versicherungsfrem- den Leistungen zu befreien. Dafür wurden im Jahre 1994 insgesamt 197 Milliarden DM ausgegeben, von de- nen 127 Milliarden DM von den Bei- tragszahlern aufgebracht worden sind.

Diese auch den Krankenkassen aufer- legten Fremdleistungen treiben die Beitragssätze in die Höhe und belasten somit Unternehmen und Arbeitneh- mer gleichermaßen. Aus sozial- und familienpolitischer Sicht durchaus sinnvolle Leistungen von gut drei Milliarden DM für künstliche Be- fruchtung, Empfängsverhütung, nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsab- bruch und nicht rechtswidrige Sterili- sation, Mutterschaftsgeld, Entbin- dungsgeld, Krankengeld bei Erkran- kung eines Kindes, hauswirtschaftliche Versorgung bei häuslicher Kranken- pflege und Grundpflege, Haushaltshil- fe und Sterbegeld sind jedoch Gemein- schaftsaufgaben des Staates. Sie ha- ben, so sinnvoll sie auch sein mögen, besonders in Zeiten knapper finanziel- ler Ressourcen in einer Versicherung gegen Krankheit nichts zu suchen.

GKV ist kein

„Verschiebebahnhof“

Auch darf der Gesetzgeber nicht Ausgabensteigerungen oder Einnah- menminderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung dadurch bewir- ken, daß er diese als „Verschiebe- bahnhof“ zwischen den sozialen Si- cherungssystemen mißbraucht. So führte die Neuregelung für die Kran- kenversicherung der Rentner (KVdR) durch das Rentenanpas- sungsgesetz von 1982 mit Absenkung der Krankenversicherungsbeiträge für die Rentner auf 11,7 Prozent allein im Jahr 1994 zu einem Transfer von über 40 Milliarden DM aus Beiträ- gen der aktiven Beitragszahler in die Krankenversicherung der Rentner. In Vergessenheit geraten ist offensicht- lich auch das von Regierungskoalition und SPD-Opposition im Jahr 1989 ge- meinsam verabschiedete Rentenre-

formgesetz mit einem erst zum 1. Ja- nuar 1995 in Kraft getretenen Kon- zept, durch das allein in diesem Jahr bei der Krankenversicherung ein Ein- nahmeausfall zwischen fünf und sechs Milliarden DM entstanden ist. Das macht etwa die Hälfte des Defizits im Jahr 1995 in der gesetzlichen Kran- kenversicherung aus. Diese Folgen werden allerdings oft vergessen, ver- drängt oder den Leistungserbringern im Gesundheitswesen angelastet, oder sollten sie gar unter die politi- sche Schweigepflicht fallen?

Das Problem ist komplex. Bei den für Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen geradezu routi- nemäßigen Schuldzuweisungen an Ärzte und Krankenhäuser wird eben- so gerne übersehen, daß neben Ge- setz- und Verordnungsgebern auch die Tarifvertragspartner selbst für manche von ihnen beklagte Entwick- lungen verantwortlich sind. Überse- hen wird bei dem inzwischen ausge- brochenen Spareifer allerdings auch, daß allein im Gesundheitswesen zir- ka 2,5 bis drei Millionen Arbeitneh- mer tätig sind. Durch ein „Kaputtspa- ren“ würde also die Zahl der Arbeits- losen weiter steigen mit der Folge, daß noch weniger Sozialversiche- rungsbeiträge bezahlt werden könn- ten. Auch hier kann man nur Franz Volhard zitieren: „Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose ge- setzt.“

Bundesgesundheitsminister See- hofer hat in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages im Septem- ber 1995 völlig zu Recht festgestellt:

„Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht krank – wie es gelegentlich ge- sagt wurde – im Gegenteil: Ich kenne kein besseres System auf dieser Erde.

Was wir ändern müssen, sind nicht die Prinzipien des Gesundheitswesens, sondern die Art und Weise der Ge- sundheitspolitik.“

Dieser Feststellung können wir uneingeschränkt zustimmen, ebenso wie seinen wiederholt öffentlich vor- getragenen Analysen, daß die im Ge- sundheitswesen Tätigen nicht die bis- herigen Kostenentwicklungen verur- sacht haben. Der Minister veränderte mit seinen Aussagen nachhaltig den gesundheitspolitischen Diskurs. Of- fenbar haben noch nicht alle diese Zä- sur bemerkt. Denn sonst ist es kaum

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verständlich, wenn die Bemühungen, tragende Strukturen unserer sozialen Sicherungssysteme vor Überlastung zu schützen, als „Sozialabbau“ in ei- nem „Klima der sozialen Kälte“ ge- geißelt werden. Sollte denn erst ein völliger Zusammenbruch bessere Einsichten ermöglichen?

Neue Definition

des Leistungskatalogs Angesichts der drängenden Pro- bleme ist es für alle, die ihre Verant- wortung wirklich ernst nehmen, gera- dezu unausweichlich, sich wieder auf das zu besinnen, was wirklich not- wendig, zweckmäßig und ausrei- chend ist. Es muß deshalb unter die- sem Aspekt vorbehaltslos über die Ausgliederung finanzieller Bagatel- len aus der Leistungspflicht der ge- setzlichen Krankenkassen nachge- dacht werden, ebenso wie über die Auswirkung von Kostenerstattungs- regelungen in bestimmten Bereichen.

Der Leistungskatalog ist nach solida- risch zu finanzierenden Leistungen und satzungsgemäßen Zusatzleistun- gen zu definieren. Ferner ist eine Trennung von vielem nötig, was mög- licherweise angenehm, vielleicht so- gar nützlich ist, aber nicht der Soli- dargemeinschaft der Beitragszahler aufgebürdet werden darf, sondern in den privaten Lebensbereich gehört.

Das gilt z.B. für viele Kuren, Massa- gen oder gar Arzneimittel mit unbe- wiesener Wirkung. Hier wäre ein Einsparvolumen von über zehn Milli- arden DM möglich. Der Einzelne könnte selbstverständlich auch in Zu- kunft sein Geld für ihm wichtig er- scheinende Leistungen ausgeben – je- doch nicht zu Lasten der Solidarge- meinschaft. Das bis zum Zerreißen gespannte soziale Netz aber darf nicht als Trampolin für Lustbarkeiten mißbraucht werden.

Dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, ist uneingeschränkt zu folgen, wenn er im Handbuch des Verfas- sungsrechts der Bundesrepublik Deutschland ausführt, daß die den Gerichten, unter ihnen das Bundes- verfassungsgericht, „auferlegte Pflicht zur Rechtsgewährung bedeutet, daß sie mit einem knappen, nicht beliebig

vermehrbaren Gut umgehen müssen.

In solcher Lage spielt schon heute die sozialstaatlich und rechtsstaatlich na- heliegende Überlegung eine Rolle, daß es im Falle knapper Ressourcen nicht richtig sein kann, Güter, die den Bedürftigen zukommen sollen, an Nichtbedürftige zu verteilen.“ Zum Thema „Chancengleichheit und so- ziale Umverteilung“ heißt es dort:

„Es ist ein elementares Gebot des So- zialstaates, daß die begrenzten Mittel der Allgemeinheit nicht schematisch ausgestreut, sondern auf diejenigen konzentriert werden, die wirklich hilfsbedürftig sind. Sozialstaatswidrig ist es, wenn Hilfen von denen in An-

spruch genommen werden können, die nicht hilfsbedürftig sind. Die als

„Gießkannenprinzip“ bezeichnete politische Praxis, die wegen der Chan- ce, breite Wählerschichten zu beein- drucken, eine ständige Versuchung darstellt, widerspricht den sozialstaat- lichen Geboten.“

Zum Thema „Staat und Gesell- schaft“ führt Benda unter anderem aus: „Auch die individuelle Eigenvor- sorge und die Übernahme von Ver- antwortung für sich selbst und seine Familie, die den Staat ganz zurücktre- ten läßt, ist keineswegs sozialstaats- widrig; im Gegenteil erscheint die Pflicht, unverschuldete Schäden, für die die Gemeinschaft einzustehen hat, soweit wie möglich und zumut- bar, selbst zu mildern, gerade als ein

Ausfluß des Prinzips der Sozialstaat- lichkeit.“

Lösungsvorschläge der Ärzte

Aus unserer täglichen ärztlichen Arbeit und Erfahrung heraus haben wir Ärzte für viele der heute in der Öffentlichkeit beklagten Probleme bereits Lösungsvorschläge gemacht und sie auf dem 97. Deutschen Ärz- tetag 1994 im Gesundheitspolitischen Programm der deutschen Ärzteschaft bekräftigt. Besonderes Gewicht ha- ben dabei die Vorschläge zur

c Intensivierung der Integration zwischen ambulantem und sta- tionärem Behandlungsbereich

c hausärztlichen Versorgung c Qualitätssicherung

Diese Vorstellungen wurden in den im Januar 1995 auf dem Peters- berg begonnenen politischen Mei- nungsbildungs- und Entscheidungs- prozeß gemeinsam von Bundesärzte- kammer und Kassenärztlicher Bun- desvereinigung eingebracht. Zum Teil wurden sie in Entwürfen für die jetzt vorliegenden Reformgesetze, so insbe- sondere im GKV-Weiterentwicklungs- gesetz (GKVWG) und im Kranken- hausneuordnungsgesetz 1997 (KHNG 1997) berücksichtigt. Es bleibt jedoch abzuwarten, was davon bei den weite- ren Beratungen im Bundesrat und vor Delegierte des Ärztetages bei der Arbeit: Studium von Beschlußvorlagen

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allem im Vermittlungsausschuß übrig bleibt, wenn unterschiedliche, aus dem Föderalismus erwachsende oder par- teipolitisch geprägte Vorstellungen aufeinandertreffen.

Deshalb pflichte ich den Aus- führungen des Ersten Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung, Dr. Winfried Schorre, aus- drücklich bei, der gestern sagte: „Las- sen Sie uns deswegen weiterhin ge- meinsam den Mut aufbringen, die Schwierigkeiten, die sich vor uns auf- türmen, mit der bisherigen Geschlos- senheit zu meistern. Wenn wir jetzt getrennte Wege gehen – und Ansätze dazu gibt es ja bereits – werden wir unsere Handlungsfähigkeit verlieren und uns in die Abhängigkeit von staatlicher oder krankenkassenseiti- ger Bevormundung begeben.“

Das gilt insbesondere für die In- tegration von ambulanter und sta- tionärer Versorgung. Diese muß al- lein schon wegen der Entwicklung der Medizin verbessert werden, vor allem zum Nutzen des Patienten. Nach un- serer Vorstellung sollen dabei Kran- kenhausärzte personenbezogen in die ambulante Versorgung einbezogen werden, wenn hierzu deren besonde- re Kenntnisse, Fähigkeiten und Fer- tigkeiten gefragt sind. Die Ärzte- schaft lehnt dagegen eine institutio- nelle Öffnung der Krankenhäuser für Leistungen der ambulanten Versor- gung geschlossen ab. Sie befürwortet statt dessen verstärkt Zulassungen von Vertragsärzten im Krankenhaus für medizinisch-technische Leistun- gen, den Ausbau des kooperativen Belegarztwesens und personenbezo- gene Ermächtigung qualifizierter Krankenhausfachärzte.

Neben der Förderung des koope- rativen Belegarztwesens und einer kooperativen ambulanten und sta- tionären Nutzung von kostenaufwen- digen medizinisch-technischen Ein- richtungen bietet sich dabei insbeson- dere die persönliche Ermächtigung von Krankenhausfachärzten mit be- sonderen Kenntnissen und Erfahrun- gen zur Erbringung hochspezialisier- ter Leistungen aus folgenden Berei- chen an:

c Interventionelle Kardiologie c Interventionelle Gastroente-

rologie

c Interventionelle Radiologie

c Versorgung spezieller onkolo- gischer Patienten

c Versorgung spezieller Formen der AIDS-Erkrankung Eine Integration zwischen ambu- lantem und stationärem Versorgungs- bereich wird auch für folgende Ver- sorgungsbereiche angestrebt:

c Nachsorge von Transplantati- onspatienten

c Gemeinsames Betreiben von Notfallpraxen/-ambulanzen in Krankenhäusern

c Spezielle nephrologische Ko- operationsformen

sowie ferner für die

c Behandlung von Patienten mit komplexen Verletzungen (analog zum berufsgenossen- schaftlichen Heilverfahren) c Orthopädische Versorgung

geistig und körperlich behin- derter Kinder

c Versorgung schwer psychisch Behinderter

Team-Arzt-System im Krankenhaus

Eine wichtige Voraussetzung für die den Bedürfnissen der Patienten entsprechende personelle Integration zwischen ambulanter und stationärer ärztlicher Versorgung, die auch den Bedürfnissen der Patienten entspricht, ist ein Team-Arzt-System im Kran- kenhaus. In diesem arbeiten mehrere erfahrene Krankenhausfachärzte im Team mit einem gewählten Sprecher zusammen und können dazu auch noch freiberufliche Vertragsärzte inte- grieren. Die Spitzenorganisationen der verfaßten Ärzteschaft sprechen sich also dafür aus, die heute noch zu starre Trennung zwischen ambulanter und stationärer Patientenversorgung durch ein integrierendes System mit offenen Grenzen nach beiden Seiten sukzessive abzulösen.

Eine solche Zusammenführung kann allerdings nur dann gelingen, wenn die derzeitige Bedarfsplanung entweder in dieser Form beseitigt oder zumindest auf Versorgungssitze für die vertragsärztliche Versorgung umgestellt wird, um kooperative Pra- xisstrukturen zu ermöglichen.

Für eine Verbesserung der hausärztlichen Versorgung ist eine

Konzentration der Hausarztqualifi- kation auf den Allgemeinarzt mit ent- sprechender Neugestaltung der Wei- terbildung zu beraten – bei gleichzei- tiger Zuordnung der inneren Medizin zur fachärztlichen Versorgung. Der 99. Deutsche Ärztetag wird sich mit den dazu notwendigen Konsequen- zen für die Weiterbildungsordnung eingehend befassen. Dabei ist zu be- denken, daß die im § 73 SGB V vorge- sehene Gliederung von hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung mög- lichst rasch und plausibel realisiert werden muß, um weitergehende Ent- scheidungen durch die Politik zu ver- meiden. Erinnert sei an Vorstellungen aus der Gesundheitsministerkonfe- renz der Länder (GMK), die auf die Einführung eines Primärarztsystems zielen. In der EG-Richtlinie von 1986 wird eine mindestens zweijährige zu- sätzliche Ausbildung in Allgemein- medizin vorausgesetzt, um in den Sy- stemen der sozialen Sicherheit ärzt- lich tätig werden zu können. Daher dürfen Regelungen in der Weiterbil- dungsordnung in Deutschland nicht zu einer Inländerdiskriminierung führen.

Für die ärztliche Tätigkeit in Zu- kunft ist die Gestaltung der Ausbil- dung zum Arzt durch eine neue Ap- probationsordnung von ebenso großer Bedeutung wie eine Anpas- sung der Strukturen des ärztlichen Dienstes der Krankenhäuser und vor allem der Strukturen der Medizini- schen Hochschulen und Fakultäten.

Hier werden Arbeits- und Verhaltens- weisen für das ganze ärztliche Berufs- leben geprägt. Die sich aus der Ent- wicklung der Medizin ergebenden Differenzierungen und Spezialisie- rungen erfordern vor allem eine ver- stärkte und verbesserte interdiszi- plinäre und interprofessionelle Ko- operation. Medizinische Fakultäten werden daher auch künftig die einzig legitimierten und von der Gesell- schaft dafür ausgestatteten Einrich- tungen ärztlicher Ausbildung – bis zu deren Abschluß – sein. Die damit ein- hergehenden Aufgaben in Lehre, Forschung und umfassender Kran- kenversorgung erfordern eine ausrei- chende Finanzierung mit klarer Zu- ordnung der Finanzmittel für Lehre und Forschung einschließlich der Drittmittelzuwendung sowie eine ko-

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stendeckende Finanzierung der Kran- kenversorgung durch die Versicher- tengemeinschaft.

Leitlinien für

ärztliche Behandlung Eine intensive Integration zwi- schen ambulanter und stationärer Be- handlung sowie eine Verbesserung von Wirtschaftlichkeit und Sicherheit der Patientenversorgung müssen ver- bunden werden mit einer medizi- nisch-wissenschaftlich begründeten Qualitätssicherung, die vor allem bei der täglichen Arbeit in Klinik und Praxis anwendbar ist. Gleiche Tatbe- stände müssen dabei nach gleichen Kriterien und Methoden beurteilt werden, einschließlich der Indikation zu diagnostischen oder therapeuti- schen Verfahren sowie unabhängig davon, ob die Leistungen ambulant von einem Arzt im Krankenhaus, ei- nem Belegarzt in einem Belegkran- kenhaus oder einem Arzt in freier Praxis erbracht werden. Dafür sind heute bedauerlicherweise für GKV- Versicherte drei verschiedene Rechts- grundlagen zu beachten, während es bei Privatpatienten diese Probleme nicht gibt. Die seit nahezu 20 Jahren zunehmenden Qualitätssicherungs- bemühungen der Ärzteschaft werden so durch unklare oder gar wider- sprüchliche Regelungen im Sozial- recht und im ärztlichen Berufsrecht behindert.

Die Gesetzgeber in Bund und Ländern sind aufgefordert, unverzüg- lich die notwendigen Klarstellungen vorzunehmen. In einigen Heilberufs- gesetzen der Länder ist dies bereits erfolgt, zum Beispiel im Heilberufsge- setz Bremen. Dort heißt es in Para- graph 8a: „Die Kammern haben dafür Sorge zu tragen, daß Maßnah- men der Qualitätssicherung im Tätig- keitsbereich der Kammerangehöri- gen entwickelt und umgesetzt wer- den. Sie sind an Qualitätssicherungs- vorhaben Dritter zu beteiligen, soweit Belange der jeweiligen Kammeran- gehörigen betroffen sind.“

Ärztliche Qualitätssicherungs- maßnahmen sind darauf gerichtet, bei den verschiedenen Behandlungsver- fahren Abweichungen festzustellen und die Ursachen dafür zu ermitteln

sowie gegebenenfalls eine Fehlersu- che und -analyse vornehmen zu kön- nen. So kann die medizinische Versor- gung der Patienten verbessert und noch sicherer gemacht werden. Lang- fristig kann dies auch mehr Wirt- schaftlichkeit bewirken, zum Beispiel wenn sich daraus Leitlinien für die ärztliche Behandlung entwickeln las- sen. Allerdings müssen sie regelmäßig der weiterhin sprunghaften medizi- nisch-wissenschaftlichen und medizi- nisch-technischen Entwicklung ange- paßt werden.

Aus solchen Leitlinien kann je- doch für die Ärzteschaft auch ein wei- teres rechtliches Spannungsfeld ent- stehen. Es könnte zum Beispiel er- kennbar werden, auf welche diagno- stischen oder therapeutischen Verfah- ren verzichtet werden kann, weil sie zu wenig Aussagekraft haben oder die Kosten-Nutzen-Relation in einem Mißverhältnis steht insbesondere dann, wenn sich daraus keine Konse- quenzen ergeben. Die Gesellschaft muß sich dann darüber klar werden, welches Restrisiko man zu tragen be- reit ist, damit dem Arzt aus einem Verzicht auf bestimmte Maßnahmen bei späteren Gerichtsverfahren kein Nachteil entsteht.

Keine Zerstückelung der Selbstverwaltung Für die Zukunft unseres freiheit- lichen, beitragsfinanzierten und selbstverwalteten Gesundheitswe- sens ist es entscheidend, ob der Ge- setzgeber künftig auf Dirigismus, Re- glementierung und Paragraphen- dickichte verzichtet und sich statt des- sen auf die Festlegung von Rahmen- bestimmungen beschränkt und die Ausgestaltung der Selbstverwaltung überträgt.

Dazu ist es notwendig, die den heutigen Versorgungserfordernissen nicht mehr gerecht werdende sektora- le Betrachtungsweise zu verlassen.

Unter Zurückstellung von Partikular- interessen muß eine sektorübergrei- fende Selbstverwaltung neuer Art ge- schaffen werden. Nur so kann das Ge- geneinander dauerhaft in ein Mitein- ander verwandelt und die Selbstver- waltung ihrer Aufgabe gerecht wer- den, eine auch wirtschaftlich effizien-

te Patientenversorgung zu sichern.

Eine Zerstückelung dagegen – wie sie im Entwurf eines GSG II der SPD vorgesehen ist – wäre das Ende einer wirksamen Selbstverwaltung. Bei staatlich vorgegebenem Sparzwang wären Verlagerungen von einem in ein anderes Budget, Leistungsaus- grenzungen und Risikoselektionen unvermeidlich.

Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheits- wesen hatte bereits 1994 in seinem Sondergutachten ausgeführt, daß

„anstelle einer sektorspezifischen Betrachtung von Finanzlage und Lei- stungsgeschehen, wie sie in allen bis- herigen Gutachten zugrunde lag, ei- ne sektorübergreifende Sichtweise gewählt wurde“, und zur Aufgabe der Selbstverwaltung heißt es dort weiter: „Die Kumulation von demo- graphischer Entwicklung mit stei- gender Multimorbidität, medizini- schem und medizinisch-technischem Fortschritt, steigenden Ansprüchen an die Lebensqualität bei Krankheit oder Leiden, Körperbehinderung und chronischen Krankheiten, läßt den Leistungsbedarf stärker anstei- gen, als die Politik den Versicherten zur Finanzierung über Sozialversi- cherungsbeiträge zumuten will. Es stellt sich daher die politische Grund- satzfrage nach der zukünftigen Rolle des GKV-Systems in der Kranken- versorgung und der gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung in Deutschland.“

Mit allem Nachdruck muß aller- dings auch darauf hingewiesen wer- den, daß Selbstverwaltung nur dort Verantwortung übernehmen kann, wo sie auch Regelungskompetenzen hat. Es kann nicht Aufgabe der Selbstverwaltung sein, die von der Po- litik in wirtschaftlich besseren Zeiten allzu großzügig verteilten Wohltaten gleichsam als staatliche Auftragsver- waltung wieder einzutreiben. Auch kann die Selbstverwaltung keine Pro- bleme über Nacht lösen, zu deren Lö- sung der Staat sich seit Jahren oder Jahrzehnten als unfähig erwiesen hat.

Die Auswirkungen etwa der demo- graphischen Veränderungen und der faszinierenden Fortschritte in der Me- dizin oder die Folgen einer verfehlten Bildungspolitik mit einer viel zu ho- hen Zahl von Hochschulabsolventen

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– auch in der Medizin – entziehen sich ebenso der Regelungskompetenz der Selbstverwaltung. Die Versäumnisse der Gesetz- und Verordnungsgeber, durch Änderung der Kapazitätsver- ordnung der Länder die Zahl der Me- dizinstudenten an der Zahl qualifi- zierter Hochschullehrer und der Zahl der zur Ausbildung und Lehre geeig- neten Patienten und deren Belastbar- keit zu orientieren und damit auch die Qualität der Ausbildung in kleinen Gruppen zu gewährleisten – all das kann nicht von der Selbstverwaltung aufgefangen werden.

Für eine sektorübergreifende Selbstverwaltung als Alternative zu staatlicher Reglementierung bleibt al- lerdings noch viel zu tun. Eine solche neue erweiterte Selbstverwaltung könnte zum Beispiel für die Kranken- häuser die seit langem überfällige An- passung der Strukturen des ärztlichen Dienstes bewirken und für eine besse- re Integration zwischen stationärem und ambulantem Bereich sachgerech- te Lösungen je nach regionalen Gege- benheiten vereinbaren. Doppelunter- suchungen wären dann ebenso zu ver- meiden wie Doppelinvestitionen. Ra- tional begründete und nicht lediglich ideologisch geprägte Lösungen führen für den Patienten zu besserer individueller Behandlung und für das Gesamtsystem zu mehr Wirtschaft- lichkeit.

Ohne Rechtsänderungen geht dies nicht. Gegenüber allen dazu geäußerten Bedenken sei mit Nach- druck gesagt: Das Recht muß sich endlich den veränderten Bedingun- gen und Notwendigkeiten der Patien- tenversorgung anpassen und nicht umgekehrt.

Vor ärztlicher Hybris hüten

Die faszinierenden Entwicklun- gen der modernen Medizin in den letzten Jahrzehnten mit erweiterten und verbesserten Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie am Anfang und am Ende des menschlichen Le- bens haben dazu geführt, daß ver- mehrt ethische Fragen ärztlichen Handelns in der Öffentlichkeit und von Politikern diskutiert werden.

Ebenso führen neue Erkenntnisse aus

der Molekularbiologie und der Gen- technologie, die in den nächsten Jah- ren und Jahrzehnten die Medizin und das Verständnis über die Entstehung und eine wirksame Behandlung von Krankheiten revolutionieren könn- ten, zu bislang völlig unbekannten Fragen. In der Medizin und in der Ge- sellschaft müssen wir deshalb einen Konsens erreichen, wie wir mit dem Wissen, den Chancen, aber auch den Risiken einer prädiktiven Medizin umgehen können

Seit 1992 hat sich die verfaßte Ärzteschaft sowohl im Weltärzte- bund, dem Ständigen Ausschuß der Europäischen Ärzte wie auch dem Deutschen Ärztetag für eine vernünf- tige Nutzung neuer Forschungser- gebnisse eingesetzt, zugleich aber auch vor Mißbrauch gewarnt, wie zum Beispiel der Patentierbarkeit des menschlichen Genoms. Genetische Information ist keine patentfähige Erfindung, sondern eine Entdeckung natürlicher Gegebenheiten. Die Ent- deckung genetischer Information darf nicht zu einer Kommerzialisie- rung führen. Genetische Information ist gemeinsames Eigentum aller Men- schen.

Für die biomedizinische For- schung hat der Weltärztebund schon 1964 Empfehlungen verabschiedet, die in der Fassung von Tokio 1975 das Arzneimittelrecht in Deutschland mitgeprägt haben und die 1983 in Ve- nedig und 1989 in Hongkong nochmals aktualisiert wurden. In der Öffentlichkeit umstritten, aber sicher notwendig, ist auch die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten, mit dem Ziel einer Verbesserung von Diagnostik und Therapie, möglicher- weise sogar der Prävention, der bei solchen Menschen bestehenden oder zu erwartenden Krankheiten, wie zum Beispiel Stoffwechselstörungen, Mißbildungen oder der Alzheimer- schen Erkrankung. Es ist damit zu rechnen, daß auch hier zunächst nur in Einzelfällen mögliche, erfolgreiche Vorstöße in medizinische Grenzberei- che in kurzer Zeit für eine große Zahl von Kranken zur Routine werden könnten.

Zunehmend stellt sich dennoch die Frage, ob der Arzt bei der Be- handlung der Patienten in jedem Fall alles tun darf oder gar tun muß, was

medizinisch-wissenschaftlich oder technisch möglich ist. Die Antwort darauf erfordert sicher keine neue Ethik, sie ist jedoch auf der Grundla- ge bewährter ethischer Prinzipien nicht immer leicht und nicht allge- meingültig für alle denkbaren Mög- lichkeiten und Herausforderungen zu geben. In jedem Einzelfall muß ent- schieden werden, welche angesichts des medizinischen Befundes individu- ell erforderliche, wirksame, unter Berücksichtigung des psychischen Befindens aber auch zumutbare The- rapie – zur Anwendung kommen soll.

Trotz großen wissenschaftlichen Fort- schritts sollten wir Ärzte uns vor Hy- bris hüten und uns der Grenzen der Medizin bewußt sein.

Arzt kein Richter über Leben und Tod Die wieder aufflammende öf- fentliche Diskussion um Sterbehilfe ist unter ethischen Aspekten nicht nur bedenklich, sondern geradezu er- schreckend. Nicht selten wird der Vorwurf erhoben, daß Ärzte und Krankenhäuser in aussichtslosen Fäl- len angeblich aus Gewinnstreben

„kein Ende finden könnten“ – ein Vorwurf, der Unmenschlichkeit un- terstellt. Abgesehen davon ist dieser Vorwurf angesichts der Vergütungs- strukturen, aber auch nach Ein- führung von Budgets, geradezu ab- surd. Nicht zuletzt die Möglichkeiten der Intensivmedizin waren für die Bundesärztekammer schon Ende der siebziger Jahre Anlaß gewesen, in Richtlinien für die Sterbehilfe darzu-

Wegen der durch den Mißbrauch der Eu- thanasie belasteten politischen Vergangen- heit in Deutschland wurde für den ärztlichen Beistand bei Sterbenden die nach dem Ver- fahren gegen den Zürcher Chefarzt, Profes- sor Dr. Urs Hämmerli, im Jahr 1975 von der Schweizerischen Akademie der medizini- schen Wissenschaften 1977 veröffentlichten Richtlinien den deutschen Rechtsverhältnis- sen angepaßt. Einbezogen wurde dabei auch die von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie während der Jahre 1978/79 in der Resolution zur Behandlung Todkranker und Sterbender niedergelegten Überlegun- gen, ebenso wie die schon 1968 von der World Medical Association in Sydney veröf- fentlichte Deklaration zur Definition des Todes.

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stellen, wann weitere Behandlungs- maßnahmen sinnlos werden, weil nicht mehr das Leben, sondern nur noch das Sterben verlängert werden könnte. Aktive Beendigung eines Menschenlebens – also Tötung – darf jedoch niemals Aufgabe von Ärzten werden.

Trotz der unbestreitbaren Erfol- ge der modernen Intensivmedizin wurde der Vorwurf einer „inhumanen Maschinenmedizin“ erhoben, laut- stark sogar die gesetzliche Veranke- rung eines „Gnadentodes“ gefordert.

Dies allerdings brächte den Arzt in ei- ne nicht nur aus ethischen Gründen unerträgliche Nähe zu der

Forderung nach „Freigabe der Vernichtung lebensun- werten Lebens“, die erst- mals 1913 und dann zu Be- ginn der zwanziger Jahre von dem Leipziger Juristen Karl Binding und dem Frei- burger Psychiater Alfred Hoche erhoben worden ist.

Wir weisen solche Vor- stellungen mit Nachdruck zurück. Der Arzt kann und will nicht durch Gesetz er- mächtigt oder sogar ver- pflichtet werden, Richter über Leben und Tod zu sein.

Hier kann man nur Chri- stoph Wilhelm Hufeland (1762 bis 1836) zustimmen, der schon 1800 sagte: „Wenn der Arzt sich zum Richter über Leben und Tod auf- schwingt, wird er zum ge- fährlichsten Mann im Staat.“

Gerade 50 Jahre nach den Nürnberger Ärztepro- zessen und auf diesem Mes- segelände, wo sich während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ein Sam- mellager für Juden, Sinti und Roma und eine Außenstelle

des Konzentrationslagers Bu- chenwald befand, ist daran mit tiefen Ernst zu erinnern.

Forderungen nach einem soge- nannten „Gnadentod“ stehen im übrigen auch in einem merkwürdigen Gegensatz zu den oft von gleicher Sei- te geäußerten Zweifeln, daß der end- gültige, vollständige und unumkehr- bare Funktionsausfall des gesamten Gehirns ein sicheres Todeszeichen

des Menschen ist, oder im Wider- spruch zu der Vermutung, daß aus rein utilitaristischen Gründen eine andere Grenze als die naturgegebene zwischen Leben und Tod gezogen werden könnte.

Organspende ein Akt der Nächstenliebe Die 1979 von einer Experten- gruppe des Wissenschaftlichen Bei- rates der Bundesärztekammer erar- beiteten „Kriterien des Hirntodes“

zur Feststellung des Todes des Men-

schen geben Entscheidungshilfe für die Frage, wann es aus ärztlichen, ethisch-moralischen Gründen er- laubt ist, sinnlos gewordene intensiv- medizinische Maßnahmen zu been- den, weil der Tod inzwischen einge- treten ist. Sie sind also keine Defini- tion gleichsam eines „neuen Todes“.

Auch für die Transplantationsmedi- zin ergeben sich daraus Konsequen- zen. Nach eingetretenem Tod kön-

nen Organe entnommen und ande- ren Menschen transplantiert werden, bei denen der Funktionsausfall gera- de eben dieser Organe unweigerlich den Tod herbeiführen müßte. Durch Organtransplantation wird den Kranken also ein sonst verlorener Lebensabschnitt eröffnet. Organ- transplantation ist deshalb eine Ent- scheidung für das Leben. Die Erhal- tung eines Menschenlebens mit Hilfe einer Organspende von einem Toten ist ein Akt der Nächstenliebe. Or- ganspende und Organtransplantati- on sind in vielen Fällen die einzige und letzte Möglichkeit, Leben zu er- halten. Der von CDU/CSU, SPD und FDP in den Bun- destag eingebrachte Ent- wurf für ein Transplantati- onsgesetz sollte hier endlich Rechtsklarheit schaffen.

Folgt man dagegen dem Transplantationsgesetz-Ent- wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wäre dies das Ende der Organtrans- plantation in Deutschland.

Zu den Voraussetzungen der Organentnahme nach irre- versiblem Ausfall der Hirn- funktion heißt es dort: „Die Entnahme von Organen Le- bender nach irreversiblem Ausfall aller meßbaren Hirn- funktionen ist zulässig, wenn durch den vorliegenden Or- ganspendeausweis die Ein- willigung dokumentiert ist und die ärztlichen Feststel- lungen nach Paragraph 16 getroffen sind“. Kein Chir- urg wäre bereit, „Lebenden“

Organe zu entnehmen. Dies käme schließlich auch bei Vorliegen einer Einwilligung zur Organentnahme einer Tötung auf Verlangen gleich.

Ebenso unzulässig ist eine Organentnahme lediglich nach Herz- stillstand. Zu dem Problem des „Non- heart-beating-donor“ haben deshalb Bundesärztekammer und Deutsche Transplantationsgesellschaft eine Stellungnahme abgegeben, in der es unter anderem heißt: „Der Herzstill- stand allein ist kein sicheres Todeszei- chen, solange ungewiß ist, ob er un- abänderlich ist oder bereits zum end- gültigen, nicht behebbaren Ausfall Ärztetag: Beschlüsse zur Gesundheits- und Sozialpolitik, zur Reform der Medi-

zinischen Fakultäten, zur aktuellen Berufspolitik . . .

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der gesamten Hirnfunktion geführt hat. Daher lehnen die Bundesärzte- kammer und die Deutsche Transplan- tationsgesellschaft die Entnahme von Organen wie Niere, Leber oder Bauchspeicheldrüse unter solchen Bedingungen ab.“

Forderungen zur Gesundheitsreform Wir stehen vor großen, früher unbekannten Herausforderungen.

Faszinierende wissenschaftliche und technische Entwicklungen eröffnen eine Fülle früher ungeahnter Mög- lichkeiten, deren Nutzen und Risiken sorgfältiger Abwägung bedürfen.

Auf der anderen Seite stehen schon jetzt Mittelknappheit und eine wirt- schaftliche Rezession, die den sozia- len Anspruch unserer Gesellschaft nachhaltig bedrohen. In diesem Spannungsfeld bedarf es klarer Ana- lysen und verantwortungsvoller Ent- scheidungen, mit denen wir auch vor der nächsten Generation bestehen können. Mit vordergründigen, durch politische und Partikularinteressen geprägte Rethorikschlachten können wir keinen Sieg für die nachwachsen- de Generation erringen. Eine wirk- lich patientengerechte Gesundheits- reform erfordert statt politischer Kurpfuscherei endlich eine wirksame Therapie – und dazu zählt insbeson- dere

c Weiterentwicklung der medi- zinischen Versorgung mit dem Ziel, die sektoralen Abgrenzungen durch eine bessere Verbindung der einzel- nen Versorgungsbereiche zu überwin- den.

c Strukturierung nach den Ver- sorgungserfordernissen der Patienten mit stärkerer personaler Integration von ambulanter und stationärer Versorgung, zum Beispiel durch Ko- operationsmodelle zur gemeinsamen Nutzung von Krankenhausspezialein- richtungen und Großgeräten durch niedergelassene und Krankenhaus- ärzte, Förderung des kooperativen Belegarztwesens sowie Verbesserung der Zusammenarbeit und Kommu- nikation zwischen niedergelassenen und Krankenhausärzten.

c Persönliche (Regel-) Ermäch- tigung eines besonders qualifizierten

Krankenhausfacharztes mit mehr als vierjähriger Facharzttätigkeit für die Konsiliarberatungen auf Überwei- sung eines niedergelassenen Arztes (nur klinische Untersuchung, Bera- tung und Arztbrief) oder eines Fach- arztes desselben Gebietes (mit festge- legtem Leistungsumfang).

c Stärkung der Selbstverwaltung und Gewährleistung von Ausgewo- genheit in den Beziehungen zwischen Ärzten, Krankenkassen und Kran- kenhausträgern mit einem wirksamen Steuerungsinstrumentarium zur Si- cherung von Qualität und Wirtschaft- lichkeit der Versorgung in den einzel- nen Leistungsbereichen.

c Beibehaltung des Sicherstel- lungsauftrages für die vertragsärztli- che Versorgung als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung einer flächen- deckenden, guten und kostengünsti- gen vertragsärztlichen Versorgung mit der Möglichkeit der Vereinbarung von differenzierten Versorgungs- und Vergütungsmodellen, soweit dadurch die notwendige flächendeckende Ver- sorgung nicht tangiert und der erfor- derliche Versicherungsschutz nicht eingeschränkt wird.

c Sicherstellung der Finanzie- rung einer bedarfsgerechten Kran- kenhausversorgung, d.h. eines nach Leistungsfähigkeit gestuften und flächendeckend gegliederten Systems von wohnortnahen Krankenhäusern mit differenzierter medizinischer Aufgabenstellung.

c Strukturreform der Kranken- häuser und ihres ärztlichen Dienstes (Teamarzt-Modelle).

c Klarstellung der gesetzlichen Grundlagen zur Zuständigkeit der Ärztekammern für die Qualitätssi- cherung ärztlicher Berufsausübung.

c Erhaltung des bewährten gegliederten Krankenversicherungs- systems mit Aufgabenteilung zwi- schen der gesetzlichen Krankenversi- cherung als solidarisch finanzierter Sozialversicherung und der privaten Krankenversicherung als risikoäqui- valenter Privatversicherung.

c Entlastung des Leistungskata- loges um krankenversicherungsfrem- de Leistungen.

c Differenzierung des Lei- stungskataloges in solidarisch zu finanzierende Leistungen und sat- zungsgemäße Zusatzleistungen.

c Überprüfung der Finanzie- rungsgrundlagen des Gesundheitswe- sens angesichts der rückläufigen Lohnquote.

Gesellschaftlicher Konsens nötig

Die notwendigen Reformen in den einzelnen Zweigen der Sozialver- sicherung werden nur dann greifen, wenn sie in einem breiten gesellschaft- lichen- und parteiübergreifenden Konsens durchgeführt werden kön- nen. Die Forderung nach einer Struk- turreform ist kein Selbstzweck. Sie er- wächst aus Sorge um den Sozialstaat und den Wirtschaftsstandort Deutsch- land. Deshalb appellieren wir Ärzte an die politischen Entscheidungsträ- ger: Haben Sie den Mut, Verantwor- tung und Regelungskompetenz an die tatsächlich Beteiligten und Betroffe- nen zu delegieren. Bleiben Sie bei dem Konzept der „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“.

Bei der Bewältigung vieler Pro- bleme müssen wir uns aber auch dar- über klar werden, daß sie durch die Erfüllung der Sehnsüchte vieler Ge- nerationen nach längerem Leben und Älterwerden, ebenso wie durch den Wunsch nach Freiheit in Deutschland und in Europa, entstanden sind. Die bedrohlichen Folgen von Diktatur und Unfreiheit sowie der Aufteilung der Welt in zwei sich feindlich ge- genüberstehende Machtblöcke konn- ten wir in Gemeinsamkeit überwin- den, aus der Stärke erwuchs. Unter Zurückstellung von mancherlei Ein- zelinteressen können daraus Mut und Zuversicht erwachsen, auch den sich aus einem erweiterten Wissens- und Erkenntnisstand ebenso wie aus der Freiheit ergebenden Folgen zu be- gegnen und Lösungen zu finden. Nut- zen wir also gemeinsam die sich dar- aus ergebenden Chancen, um auf die- se Weise der Gesundheit des Einzel- nen und der gesamten Bevölkerung zu dienen.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Karsten Vilmar

Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages Herbert-Lewin-Straße 1 50931 Köln

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